ZFA (Stuttgart) 2008; 84(6): 236-238
DOI: 10.1055/s-2008-1080901
Kommentar/Meinung

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wem gehört die ambulante Palliativmedizin?

Who does the Ambulant Palliative Care belong to?A. Simmenroth-Nayda 1 , I. Gágyor 1
  • 1Abt. Allgemeinmedizin, Universitätsmedizin Göttingen
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. Juni 2008 (online)

Zur gesellschaftlichen Situation der Palliativmedizin

Fragt man eine repräsentative Gruppe von Menschen, welchen Ort sie sich für ihr eigenes Sterben wünschen, so antwortet fast 80% von ihnen, dass sie zuhause und im Kreise ihrer Angehörigen sterben möchten. Diese Zahl liegt noch höher, wenn man nur die Gruppe der über 70 jährigen Menschen betrachtet [1]. Weitere Personen, die laut Befragung beim Streben anwesend sein sollen, sind Freunde und der Hausarzt. Deutlicher Wunsch unserer Patienten scheint es zu sein, dass Tod und Sterben in das häuslichen Umfeld und die Anwesenheit der gewohnten Bezugspersonen eingebettet ist.

Wie sieht jedoch die Realität aus?

2007 starben ca. 80% aller Deutschen in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung [2] [3]. In den letzten Jahren fand eine Verschiebung des häuslichen Sterbeorts zugunsten von Pflegeheimen statt - eine weitere Verschiebung in diese Richtung ist zukünftig anzunehmen [3]. Das Sterben zu Hause ist heute ein seltenes Ereignis und die Ursachen hierfür sind vielfältig.

Durch die Weiterentwicklung der modernen Medizin im diagnostischen und therapeutischen Bereich ist es in den letzten Jahrzehnten bei uns zum „Normalfall” geworden, dass das Sterben von der häuslichen Umgebung in die Krankenhäuser verlegt wurde. Ein Sterben an „Altersschwäche” (meist Infektionen) wurde in den letzten 30 Jahren abgelöst vom Sterben an Exazerbationen chronischer (in der Mehrheit Herz-Kreislauf-)Erkrankungen, die auch im hohen Alter noch diagnostiziert bzw. therapiert werden können - gehen sie auch oft genug dem „institutionellen Tod” im Krankenhaus unmittelbar voran [3]. Im Krankenhaus wurde (und wird) der Tod eines Patienten oftmals als „Kapitulation” erlebt und auch so kommuniziert - findet er doch an einem Ort statt, der hauptsächlich für den kurativen Sektor der Versorgung steht. Als weiterer Faktor für diese Entwicklung wird parallel zu den sich auflösenden Familien- und Nachbarschaftsstrukturen die wachsende Individualisierung und ein damit verknüpfter Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in unserer Gesellschaft genannt [3].

Befindet sich der Patient dann innerhalb einer Institution, werden Entscheidungsmomente sofort komplexer. Bis heute ist die Hemmschwelle, beim Vorliegen einer schriftlichen Patientenverfügung intensivmedizinische Maßnahmen zu beenden oder erst gar nicht zu beginnen oder z. B. eine antibiotische Therapie zu unterlassen, hoch. Die zum Teil juristisch beglaubigten Willenserklärungen sollen zwar eine Hilfestellung für Entscheidungen in den Bereichen Therapie, Pflege und Behandlungsoptionen bieten: Trotzdem bleibt in der Praxis die Unsicherheit vor wichtigen Entscheidungen am Lebensende, die von einzelnen Personen oder Gruppen (Notarzt, Hausarzt, Altenpflegerinnen, Angehörige) getroffen werden müssen, weiter bestehen. Aber auch das Gegenteil schützt nicht vor Fehlentscheidungen: Wird die Frage nach einer Patientenverfügung bejaht, kann kritiklos und ohne Kenntnis des Inhaltes vorausgesetzt werden, dass der Patient darin den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen verfügt hat, auch wenn das Gegenteil der Fall ist!

Muster für Patientenverfügungen werden in verwirrender Vielfalt und von vielen Institutionen angeboten - auch hier könnte eine Vereinheitlichung Hilfe schaffen. Um die Frage nach der Verbindlichkeit von Verfügungen zu beantworten, will das Bundesministerium der Justiz noch in dieser Legislaturperiode dazu einen Gesetzentwurf vorschlagen [4].

Unsicherheit im Umgang mit Schwerkranken oder Sterbenden ist keineswegs ein rein ärztliches oder krankenhausspezifisches Problem. Pflegende Angehörige fühlen sich oftmals mit der Versorgung eines Familienmitglieds überfordert. Die Leitlinie der DEGAM für „Pflegende Angehörige” hat hier thematisch eine Vorreiterfunktion inne. Durch die zunehmende Isolierung alter Menschen sind besonders in den Städten die Möglichkeiten der häuslichen Pflege durch Angehörige nur noch selten gegeben. Die Diskussion und die aktuelle Änderung in der Gesetzgebung zur Pflegeversicherung zeigen deutlich die gesellschaftliche Relevanz dieses wichtigen Themas am Lebensende.

Literatur

Korrespondenzadresse

Dr. med. A. Simmenroth-Nayda

Abt. Allgemeinmedizin

Universitätsmedizin

Humboldtallee 38

37075 Göttingen

eMail: asimmen@gwdg.de

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