Gesundheitswesen 2023; 85(03): 148
DOI: 10.1055/a-2009-9578
Panorama
Buchrezension

Die Geheimnisse der Diagnose

Zoom Image

Das Buch von Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff könnte mit einem Warnhinweis versehen werden: „Achtung – die Lektüre kann Sie in fortwährende Nachdenklichkeit stürzen“. Der Autor leitet die Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin im Medizinischen Zentrum für Methodenwissenschaften und Gesundheitsforschung an der Philipps-Universität Marburg. Der Titel ist Programm: Donner-Banzhoff verbindet Forschung und Lehre im Fachgebiet Allgemeinmedizin mit einem besonderen Schwerpunkt auf die methodischen Grundlagen (nicht nur) seines Fachs. Er hat u. a. wichtige empirische Beiträge zur Schärfung der Diagnose Herzinfarkt geleistet. Hier widmet er sich nun der scheinbar unschuldigen Frage, was eigentlich die ärztliche Diagnose ausmacht. Dies dekliniert der Autor in 17 Kapiteln durch, die sämtlich mit Fallbeispielen und einem Abschnitt ‚Schlussfolgerungen‘ versehen sind. Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um zwei große Formkreise: zum einen um die methodischen und sozialen Rahmenbedingungen, die zum Konstrukt Diagnose führen, zum anderen um das fortwährende Bestreben interessierter Kreise, an die Stelle evidenzbasierter Begründungen qua ausufernder Diagnosekriterien eine nahezu beliebige Ausweitung der ‚Klienten‘ der Medizin anzustreben. Es sei aber zunächst herausgegriffen, dass Donner-Banzhoff begreiflich macht, wie zentral das Zuhören ist: „Wenn man…die Patientin ausreden lässt, führt sie uns häufig zu Stellen des Problemraums, die für uns unerwartet sind und uns neue Perspektiven bieten, mit anderen Worten: Hypothesen formulieren lässt, auf die wir sonst nie gekommen wären“. Es geht m.a.W. nicht ‚nur‘ um die so wichtige Wertschätzung der Patientinnen, sondern um den Nutzen „diagnostisch relevanter Informationen“ (S. 55). Zentrale Kategorien wie Wahrscheinlichkeit und Kausalität werden in immer neuen Anläufen umkreist, gewissermaßen in didaktisch notwendigen Variationen. Diese methodischen Abhandlungen sind aber kein übliches epidemiologisch-biometrisches Lexikon, sondern eine mächtige Erzählung zum Thema Möglichkeiten und Grenzen therapeutisch relevanter Erkenntnisse über Krankheit und Leiden. Das ist kein leichter Stoff, und es ist kein Buch, dass sich als einmaliges Schulungsmaterial anbietet. Es könnte ein Begleiter werden, in den Interessierte immer wieder in unterschiedlichen Phasen ihrer beruflichen Karrieren hineinschauen. Herausheben möchte ich das Kapitel 15 „Konsequenzen für die Lehre“, in dem ein radikal anderes Verständnis von Lehren propagiert wird, das ‚eigentlich‘ nur modernen pädagogischen Erkenntnissen entspricht, den Medizinischen Fakultäten aber weithin fremd geblieben ist. Lehrende halten keine Vorlesungen (das können sie auch manchmal tun, wenn es sinnvoll ist), sondern sie begleiten die Studierenden mit Hilfe eines klugen Curriculums, damit diese im Rahmen fortwährender Kontakte zu Patientinnen schrittweise begreifen können, dass kritische Reflexion des eigenen Handelns kein Luxus ist und dass es gilt, mit Hilfe evidenzbasierter Informationen immer besser mit der unabweislichen Unsicherheit medizinischer Diagnostik und Therapie umzugehen. Dass dies angesichts der seit etwa 50 Jahren wirklich rasanten Entwicklungen in Diagnostik und Therapie und der daraus leider auch immer wieder entstehenden Grenzenlosigkeit der Medizin kein Spaziergang ist, wird im Lesefluss immer wieder deutlich. Für mich fällt dabei die Skepsis gegenüber den Fortschritten der Medizin manchmal zu mächtig aus, so zentral der Appell an Bescheidenheit im ärztlichen Selbstverständnis fraglos ist.

Der Autor wendet sich nach eigener Aussage primär an Ärztinnen (er verwendet durchgängig mit begründeten Ausnahmen die weibliche Sprachform), „die über den diagnostischen Aspekt ihrer Tätigkeit nachdenken wollen, sich weiterentwickeln und in ihrer Arbeit besser werden wollen“ (S. 13). Man muss wohl ergänzen: das betrifft alle Phasen der Aus-, Fort- und Weiterbildung, weil sich die hier dargelegten Themenkreise wohl in der Berufsbiografie immer wieder herausfordernd zeigen und auch erschließen dürften. Es wäre wunderbar, wenn die Lehrenden an den Medizinischen Fakultäten und in den Lehrpraxen der Allgemeinmedizin dieses Buch als Pflichtlektüre verstehen würden. Donner-Banzhoff selber merkt an, dass in den Fakultäten wohl erst tiefgreifende Strukturreformen stattfinden müssten, ehe die Ausbildung der jeweils nächsten Generationen genauso wichtig genommen würde wie die klinische Forschung. Das Nachdenken über die Dimensionen der Diagnostik verhilft zu nichts weniger als zu einer wissenschaftlichen Grundhaltung, welche das Verstehen der Perspektive der Patientinnen nicht als nette Beigabe zur ‚eigentlichen‘ Medizin ansieht. Dem Buch ist ein breiter Kreis von Leserinnen über die Ärzteschaft hinaus zu wünschen.

Prof. Dr. Norbert Schmacke, Bremen



Publication History

Article published online:
14 March 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany