Gesundheitswesen 2023; 85(07): 602-603
DOI: 10.1055/a-2083-6635
Panorama
Buchrezension

Ausbau statt Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme

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Das Buch von Hartmut Reiners ist ein nahezu verzweifelter Appell, die Errungenschaften des Sozialstaates im Gewande der Sozialversicherungen nicht permanent unter Berufung auf pseudo-wissenschaftliche Aussagen der Mainstream-Ökonomie totzureden. Aber die Beschwörung des Ausuferns und der Unbezahlbarkeit von Rente, Arbeitslosengeld, Sozialleistungen, Pflege und Medizin nimmt kein Ende. Reiners, Volkswirt und Ökonom und durch langjährige Tätigkeit in Landesgesundheitsministerien exquisiter Kenner der Gesundheitspolitik, zeigt einleitend, dass in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Beginn ein ideologischer Kampf gegen die Entwicklung eines modernen Sozialstaates begann: dieser wurde nicht als ökonomisch und politisch stabilisierend verstanden, sondern als ausufernd und die Arbeitsmotivation schädigend – und auch schon früh als unbezahlbar. Reiners zeigt auf, dass die Investitionen in den modernen Sozialstaat entgegen der Polemik führender Ökonomen auch wirtschaftlich sinnvoll, besser noch: unabdingbar sind. Und er zeigt, dass das Dogma der Unfinanzierbarkeit, allemal gekoppelt an die Beschwörung der demographischen Krise, einer empirischen Überprüfung nicht standhält. Hier wird besonders eindrucksvoll auf die Entwicklung des österreichischen Rentensystems verwiesen, eines gewissermaßen unbekannten Nachbarn: dort sind alle Erwerbstätigen erfasst, seit 2005 auch die Beamtinnen und Beamten, der Beitragssatz liegt seit 30 Jahren unverändert bei 22,6 Prozent, eine dort nicht skandalisierte Höhe. Die Renten werden in Österreich 14mal pro Jahr gezahlt. Die Renten orientieren sich an den Lebenshaltungskosten. Lohnbereinigt beträgt der Unterschied der Nettostandardrente über 450 Euro im Monat gegenüber Deutschland. Damit sind alle bei uns gebetsmühlenartig wiederholten Argumente für eine stärke Kapitalfundierung der Renten wegen der Unfinanzierbarkeit der Renten durch das Umlageverfahren entkräftet. Auch für die Pflege- und Krankenversicherung böte sich die radikale Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten in Deutschland an, heftig bekämpft vom Beamtenbund und den privaten Versicherungen. Reiners lässt keinen Zweifel aufkommen, dass unabhängig davon der Prozentsatz der Beiträge gemessen am Bruttoinlandprodukt steigen werde - und er verteidigt dies, weil es sich nicht um gewissermaßen parasitäre Systeme, sondern um lebensqualitätsbereichernde und den Arbeitsmarkt stabilisierende Systeme handele. Gleichermaßen mahnt er eine Forcierung des Gebots der Wirtschaftlichkeit an: dies ist für ihn etwas fundamental anderes als die heute von vielen unterschiedlichen Seiten gepriesene (oder leider oft oberflächlich verurteilte) Ökonomisierung. Um beim Gesundheitswesen zu bleiben: Weichenstellungen zu mehr Wirtschaftlichkeit bei Bestehen auf höchstmöglicher Qualität sind – so die Meinung des Rezensenten – viel zu lange versäumt worden, gerade in Zeiten, in denen niemand nach der Finanzierbarkeit fragte. Und so würde der flammende Appell von Hartmut Reiners nach Verteidigen des Solidaritätsprinzips in den Sozialversicherungssystemen vermutlich noch an Prägnanz gewinnen, wenn an das Kapitel zur Pflege- und Krankenversicherung die aktuelle Bilanz der zunehmenden Privatisierung und des Staatsversagens angeschlossen würde. Wenigstens alle Landes- und Bundespolitikerinnen und -politiker sollten in meiner Fantasie „verurteilt“ werden, dieses Buch zu studieren. Ohne Illusionen, was den Kurs des Tankers betrifft. Der ist bekanntlich nur mit ganz langem Vorlauf zu ändern. Aber zuschauen, wie unser lange international gelobtes System vollends zermörsert wird, das kann auch keine Devise sein.

Norbert Schmacke, Bremen



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Article published online:
12 July 2023

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