CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2024; 86(S 03): S183-S185
DOI: 10.1055/a-2322-1291
Editorial

Es geht voran! Aber Geschichte wird noch nicht gemacht

Things are Moving Forward! But History is not Yet Made
1   Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien, Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Germany
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Enno Swart
2   Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Germany
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Falk Hoffmann
3   Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaft, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg, Germany
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,liebe Leserinnen und Leser,

im Rahmen des nun bereits 3. AGENS-Supplements des Gesundheitswesens werden wieder Beiträge zur Validierung, zum Datenlinkage und zu methodischen Herausforderungen in der Arbeit mit Routinedaten veröffentlicht. Bereits in einem der früheren Schwerpunkhefte des Gesundheitswesens aus dem Jahr 2010 wurde das Thema der internen Validierung von ambulanten Diagnosen in Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) umfassend beleuchtet und das sog. M2Q-Kriterium – also das Vorhandensein von mind. zwei Quartalen mit entsprechender Diagnose innerhalb eines Kalenderjahres - als ein wesentlicher Pfeiler für die interne Diagnosevalidierung bzw. Plausibilisierung beschrieben [1]. Externe Validierung von GKV-Daten mit anderen Datenquellen setzt hingegen ein personenbezogenes Datenlinkage voraus. Obwohl bereits seit über fünf Jahren Standards für ein Datenlinkage in Deutschland beschrieben sind [2], existieren seit Jahren Forderungen nach einer forschungsfreundlicheren Datenlinkageinfrastruktur in Deutschland [3] [4]. Zumal weiterhin erschwerend hinzukommt, dass bisher zwar Blaupausen für mögliche Infrastrukturen zum Datenlinkage existieren, diese jedoch immer nur einmalig projektspezifisch vorhanden sind und entsprechend bei neuen Projekten auch erneut etabliert und datenschutzrechtlich bzw. mit allen Beteiligten abgestimmt werden müssen.

Zum 26.03.2024 ist nun das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) in Kraft getreten und es verspricht bereits im Titel eine verbesserte Nutzung von Gesundheitsdaten [5]. Auch das sich gerade im Aufbau befindliche Forschungsdatenzentrum Gesundheit beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kündigt nach mehreren Jahren des für Außenstehende nicht erkennbaren Fortschritts die Annahme erster Nutzungsanträge in der zweiten Jahreshälfte 2024 an [6]. Die Neuerungen könnten den Zugang und die Nutzungsmöglichkeiten von Routinedaten im Gesundheitswesen deutlich erleichtern und auch eine Vielzahl von methodischen Fragestellungen beantworten. Es geht voran! Allerdings ist gerade aus den bisherigen Erfahrungen sowohl was neue Gesetze und deren Umsetzungen insgesamt als auch den gemeinsamen Datenpool zur Nutzung von GKV-Routinedaten angeht, ein gesunder Pessimismus hierzu nicht die schlechteste Grundhaltung. Was dies letzten Endes wirklich für die Forschung bedeutet, müssen also die nächsten Jahre zeigen. Noch wurde also keine Geschichte gemacht! Trotzdem bleibt keine Atempause, denn es werden weitere Anforderungen bestehen bleiben, um das Potenzial von Routinedaten im Gesundheitswesen insgesamt sowie spezifisch von den im Forschungsdatenzentrum Gesundheit vorhandenen Daten ausschöpfen zu können. Dies betrifft insbesondere das Datenlinkage. Hier ist zumindest durch das GDNG erstmalig die Möglichkeit geschaffen worden, dass durch das Forschungsdatenzentrum Gesundheit Daten gesetzlich geregelter medizinischer Register verknüpfbar sind [5]. Hier spielen vor allem die klinischen Krebsregister eine wichtige Rolle, die aber aktuell noch landesspezifisch geregelt sind. Nicht abschließend geregelt sind dagegen die Möglichkeiten des individuellen Datenlinkage mit Primärdaten, weswegen hier auf absehbare Zeit vor allem Erfahrungsberichte und Lösungsansätze für Forscher:innen hilfreich sein werden. Und so werden sich weitere Herausforderungen ergeben, sei es methodischer Natur oder sei es beispielsweise in Bezug auf Schulungs- und Beratungsbedarf neuer Nutzergruppen. Hier kann die durch das GDNG neu einzurichtende zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle für Gesundheitsdaten hilfreich sein [5], allerdings bleiben auch hier Fragen. Insbesondere erscheint uns weiterhin unklar, warum diese Stelle beim BfArM anzusiedeln ist, da es sich dabei nicht um eine behördliche Aufgabe handelt und an sich prioritär eine forschungsorientierte Umsetzung notwendig ist. Es bleibt aber auf jeden Fall spannend, was die Zukunft hier bringt und vor allem wann.

Vier der Beiträge in diesem Schwerpunktheft fokussieren Themen der internen bzw. externen Validierung. In zwei Beiträgen werden zudem die Potentiale aber auch die Grenzen des Datenlinkage bzw. der Routinedaten herausgearbeitet. Im letzten Abschnitt wird das Thema der Nutzung von Routinedaten in der Versorgungsforschung aufbereitet, um den Einstieg für Forschende in diese komplexen Daten und deren Handhabung transparenter zu gestalten.

Epping et al. thematisieren in Ihrem Betrag unterschiedliche Aufgreifkriterien für die Prävalenzschätzung chronischer Erkrankung anhand einer Datenquelle. Im Fokus der internen Validierung stehen dabei bewusst nur ambulante GKV-Diagnosedaten. Insgesamt wurden fünf Szenarien anhand von acht verschiedenen chronischen Erkrankungen analysiert, beginnend mit einer einmaligen Diagnosenennung im Betrachtungszeitraum eines Jahres bis hin zu mindestens einer zweimaligen Nennung mit Blick auf den Behandlungsfall (selber, unterschiedliche) bzw. die Quartale (unterschiedliche [M2Q], aufeinander folgend). Als Fazit zeigt sich, dass stringentere Vorgaben auch zu niedrigeren Prävalenzschätzungen führen. Zudem postulieren die Autor:innen, das eher kontinuierliche Systemnutzende identifiziert werden.

Ebenfalls mit der Thematik der Prävalenzschätzung in GKV-Daten befassen sich Reitzle et al. in ihrem Beitrag am Beispiel der mikrovaskulären Komplikationen des Diabetes. Analog Epping et al. erfolgte eine interne Validierung. Im Fokus jedoch standen nicht nur ambulante Diagnosen, sondern alle für die Thematik relevanten Kodierungen unterschiedlicher Sektoren unterteilt in drei Kategorien. Hierbei zeigte die Verwendung komplexerer Kodierungen (Kategorie 3) eine höhere Prävalenz (Ausnahme diabetisches Fußsyndrom) und konnte das M2Q-Kriterium als ausschlaggebendes Kriterium bestätigen. Darüber hinaus wurden die Falldefinitionen zusätzlich im Zeitverlauf analysiert. Dabei zeigte sich eine Unterschätzung von Komplikationen in Abhängigkeit von der Länge des Beobachtungszeitraums, mit deutlich geringeren Prävalenzen bei kürzeren Zeiträumen.

Wicke et al. fokussieren in ihrem Beitrag die Wirkung der Grippe-impfung anhand von GKV-Daten unter Betrachtung der Krankenhausaufenthalte als Endpunkt. Mittels externer Validierung und Verwendung der Methode des Prospensity Score-Matchings (PSM) gelang es den Autor:innen die Schätzung des Robert Koch-Instituts zu bestätigen, was sowohl die Verwendung der Datenquelle als auch die Methode des PSM legitimiert.

Über die Evaluation von Modellvorhaben in der Psychiatrie (EVA64-Studie) einzig anhand von GKV-Daten berichten Neumann et al. und arbeiten die Vor- und Nachteile als Quintessenz in ihrem Beitrag heraus. Dabei wurden Daten von ca. 70 gesetzlichen Krankenkassen verwendet. Die Autor:innen arbeiten dabei umfassend die Eignung von GKV-Daten heraus und deren Potenzial auch für den Einsatz als Qualitätssicherungs- und Steuerungsgrundlage. Nichtsdestotrotz werden zudem Limitationen aufgrund der Verwendung von lediglich einer Datenquelle thematisiert. So können für die Psychiatrie wichtige Aspekte der Patient:innen aber auch Leistungserbringer wie Ressourcen, Präferenzen etc. nicht abgebildet werden. Hierfür bedarf es zusätzlicher Datenquellen und im optimalen Fall deren Verknüpfung (Datenlinkage), welches die Autor:innen als Goldstandard forcieren.

Der Beitrag von Schlack et al. stellt ein umfassendes Methodenpapier des Projektes INTEGRATE-ADHD dar. Im Rahmen des Projektes ist eine umfassende externe Validierung der Diagnose von ADHS bei Kindern und Jugendlichen sowohl mittels GKV-Daten als auch mit klinischen und Befragungsdaten geplant. Dabei bedient sich das Forscherteam der Methodik des Datenlinkages um Limitationen der einzelnen Datenquellen zu überwinden und Synergien zur Beantwortung dieser komplexen Fragestellung nutzen zu können. Das Vorgehen wird in dem Beitrag ausführlich dargestellt und unterstreicht anhand eines Praxisbeispiels das von Neumann et al. postulierte Potenzial des Datenlinkage als Goldstandard.

Der letzte Beitrag fungiert eher auf einer Meta-Ebene. Dabei werden in dem Beitrag von Ihle et al. fünf Leitfragen der Versorgungsforschung ausführlich diskutiert. Diese Fragen sollen Forschende unterstützen bei der Entscheidungsfindung und deren Beurteilung der Eignung von GKV-Daten für forschungsrelevante Fragestellungen, aber auch insbesondere für die Kommunikation mit datenhaltenden Stellen. Die Fragen orientieren sich am gesamten Forschungsprozess, beginnend mit der Formulierung der Forschungsfrage und Definition der Zielgruppe über die Wahl des für die Frage relevanten und realistischen Zeitraumes bis hin zur Auswahl der benötigten Informationen und dem abschließenden Praxistransfer.

Zum Abschluss bleibt uns nur noch, Ihnen einerseits eine anregende Lektüre zu wünschen und gleichzeitig darauf hinzuweisen: Nach dem Schwerpunktheft ist vor dem Schwerpunktheft! Also wenn Sie spannende Beiträge haben, können Sie jederzeit ein Manuskript dafür einreichen und beim Hochladen ankreuzen, dass dieses für das AGENS-Supplement bestimmt ist.



Publication History

Article published online:
29 July 2024

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