Gesundheitswesen 2008; 70(10): 590-599
DOI: 10.1055/s-0028-1086005
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wirksamkeit und Nutzen eines Screeningverfahrens zur Identifikation von rehabilitationsbedürftigen Personen mit Diabetes mellitus Typ 2: eine randomisierte, kontrollierte Evaluationsstudie unter Versicherten der Hamburg Münchener Krankenkasse

Effectiveness and Benefit of a Screening Procedure to Identify Patients with Diabetes Mellitus Type 2 in Need of Rehabilitation: A Randomised, Controlled Trial among Members of the Hamburg Münchener Health InsuranceA. Hüppe 1 , D. Parow 2 , H. Raspe 1
  • 1Institut für Sozialmedizin der Universität zu Lübeck
  • 2Hamburg Münchener Krankenkasse
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Publication History

Publication Date:
17 October 2008 (online)

Zusammenfassung

Ziel: Um einer Gefährdung der sozialen Teilhabe bei Personen mit Diabetes mellitus Typ 2 frühzeitig zu begegnen, wurde ein aktives Zugehen eines Trägers von Rehabilitationsleistungen auf potenziell rehabilitationsbedürftige Versicherte realisiert. Die Hamburg Münchener Krankenkasse (HMK) setzte dabei zur Rehabedarfsfeststellung den sogenannten Lübecker Algorithmus als Screeninginstrument ein. Versicherte mit einem komplexen Behandlungsbedarf erhielten mit der schriftlichen Rückmeldung ihres individuellen Problemprofils die Empfehlung, zusammen mit ihrem behandelnden Arzt die Inanspruchnahme einer medizinischen Rehabilitation zu erwägen (kurz als „InfoRat” bezeichnet). Wirksamkeit und Nutzen dieses Vorgehens sollte im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Studie evaluiert werden.

Methodik: 30–70-jährige HMK-Versicherte in vier Bundesländern mit Hinweisen in der Datenbank auf eine Diabetes-Erkrankung (ICD E11–E14) wurden im Sommer 2006 angeschrieben. Bei (selbst) bestätigter Diabeteserkrankung und Studieneinwilligung wurde mithilfe eines Screeningfragebogens der Rehabilitationsbedarf ermittelt. Versicherte, bei denen aktuell fünf oder mehr unterschiedliche Behandlungen angezeigt schienen, wurden auf zwei Studienarme randomisiert: Teilnehmern der Interventionsgruppe (IG) wurde ihr individuelles Problemprofil zurückgemeldet und eine Reha-Empfehlung erteilt („InfoRat”). Für die Teilnehmer der Kontrollgruppe (KG) blieb es bei „usual care”. Zwölf Mona-te später fand eine postalische Katamnesebefragung aller Studienteilnehmer statt. Primäre Hauptzielgröße waren Parameter der (erlebten) sozialen Teilhabe. Sekundäre Outcomes bildeten krankheitsspezifische Problemkomponenten (z. B. Übergewicht) und von der Krankenkasse übermittelte Daten zu Krankhausaufenthalten und Arbeitsunfähigkeit (Fälle und Tage).

Ergebnisse: 471 der 1 822 angeschriebenen Versicherten erfüllten die Einschlusskriterien, unter ihnen wurden 223 mit Rehabilitationsbedarf identifiziert und zufällig der IG oder der KG zugewiesen. Die Responserate zur 12-Monats-Katamnese betrug 82,5%. In der IG (n=91) nahmen 25% der Versicherten im Studienzeitraum an einer Rehabilitation wegen ihrer Diabeteserkrankung teil, in der KG (n=93) waren es mit 6% signifikant weniger (p=0,001). Die Intention to treat Analyse zeigte folgende Unterschiede zwischen den beiden Studienarmen: Die Anzahl Diabetes bedingter Beeinträchtigungstage reduzierte sich allein in der IG, in der KG stieg sie an (p=0,026). Im Unterschied zur KG reduzierte sich in der IG der aus den subjektiven Angaben zu Größe und Gewicht berechnete BMI-Wert (p=0,014), das Diabeteswissen nahm in der Tendenz stärker zu (p=0,053). Der Anteil an Versicherten mit problematischem Essverhalten sowie mit erhöhten Depressivitätswerten verringerte sich tendenziell stärker (p=0,053 bzw. p=0,067). Zur Katamnese war der allgemeine subjektive Gesundheitszustand in der IG besser (indirekte Veränderungsmessung p=0,081, direkte Veränderungsmessung p=0,024). Auswirkungen der InfoRat-Maßnahme auf Krankenhaus- bzw. Arbeitsunfähigkeitstage wie -fälle waren nicht beobachtbar.

Schlussfolgerung: Die Ergebnisse sprechen für eine (wenn auch schwache) Wirksamkeit der eingesetzten „InfoRat”-Maßnahme, die auf selbstverantwortliche Eigenaktivität der Versicherten aufbaut. Der forschungsmethodische Ansatz einer Rekrutierung von Studienteilnehmern über die Analyse von Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung und (nach erteilter Einwilligung) ihrer Randomisierung auf verschiedene Versorgungskonzepte erweist sich als umsetzbar. Wir empfehlen seine Anwendung auch bei der Überprüfung anderer Maßnahmen und Programme im Gesundheitswesen.

Abstract

Aims: In Germany, medical rehabilitation has to be initiated by the members of health insurances. This often leads to delays in the application for and provision of rehabilitation services. Within a randomised controlled trial, a statutory health insurance evaluated a programme aimed at the prevention of activity limitations and restrictions of social participation in patients with type 2 diabetes. Firstly, potential persons with type 2 diabetes were identified. Secondly, their need for a medical rehabilitation was screened using a postal questionnaire. Thirdly, eligible participants were advised to apply for a medical rehabilitation.

Methods: Potential study participants were identified by the health insurance via diabetes-specific data on hospital stays, work disability and medical prescriptions. Eligible persons were asked for written informed consent and received a screening questionnaire assessing their need for a medical rehabilitation. Respondents indicating need for a rehabilitation according to the algorithm were randomly allocated to an intervention group (IG) or control group (CG). The IG was actively advised to apply for a medical rehabilitation together with information about their individual risks; CG members received usual care. Twelve months after baseline the participants completed a postal follow-up questionnaire on social participation (primary outcome) and subjective health status (secondary outcome). In addition, the health insurance provided data on hospital treatment and sick leave (cases, days).

Results: Of 471 insurants with type 2 diabetes who gave written informed consent, the algorithm identified 223 cases with a rehabilitation need. The follow-up questionnaire was completed by 84.5% (IG: n=91, CG: n=93). Although the attendance in medical rehabilitation was low (IG: 25%), an intention to treat analysis showed significant advantages for the IG members compared to the CG (e.g., reduced body mass index, increased disease knowledge, reduced depressive mood and eating disorders).

Conclusion: The IG members seemed to benefit at least slightly from the procedure carried out (screening plus recommendation). As in previous studies, the feasibility of randomised controlled trials to evaluate a complex public health intervention was demonstrated.

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Korrespondenzadresse

Dr. A. Hüppe

Institut für Sozialmedizin

Beckergrube 43-47

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