Gesundheitswesen 2008; 70(10): 567-568
DOI: 10.1055/s-0028-1093344
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheit!

Bless you!M. Wildner 1
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleissheim
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Publication Date:
17 October 2008 (online)

„Gesundheit!” – mit dieser formelhaften Wendung quittieren wir gewöhnlich ein Niesen in unserer unmittelbaren Nähe. Und wünschen unserem Mitmenschen damit Wohlergehen im Hinblick auf einen sich anbahnenden Schnupfen – vielleicht auch, in Hinblick auf unsere eigene Gesundheit, gewürzt mit einer Prise Eigeninteresse. Warum diese kommunikative Ritualisierung wegen dieser harmlosen Körperreaktion? Noch weiter holen ja die Angelsachsen aus: „bless you!” – „sei gesegnet!”: als ob das Ende nahe wäre!

Vielleicht war das Ende tatsächlich näher in den Zeiten, als sich dieses soziale Ritual ausgebildet hat. Die spanische Grippe von 1918 mit ihrer hohen Letalität – in Teilen als Folge bakterieller Superinfektionen vor der Antibiotika-Ära – sei als indirekter Beleg für diese These angeführt. Dass ein Niesen heute als harmlos bewertet werden kann, setzt stillschweigend einen guten Allgemein- und Ernährungszustand voraus, die Verfügbarkeit von Antibiotika und auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Ein Anlass, über das „Stillschweigende” im Bereich von Gesundheit nachzudenken. „Gesundheit als Schweigen der Organe” – die dem französischen Chirurgen René Leriche (1879–1955) zugeschriebene Formulierung greift diesen Gedanken auf. Das „Verborgene” in der Gesundheit hat Hans-Georg Gadamer als „selbstvergessenes Weggegebensein an die privaten, beruflichen und sozialen Lebensvollzüge” aufgegriffen und vertieft [1]. Es sind die leisen Kräfte, die das Leben tragen – und welche deswegen gerne übersehen werden.

Ist dieses „Stillschweigen” der Grund, weshalb wir uns oft mehr mit Krankheit beschäftigen als mit Gesundheit [2]? Dass wir im faktischen Vollzug der Krankheit Priorität vor der Gesundheit geben – bei der Schwerpunktsetzung in der „Gesundheits”-Forschung, der Allokation von Ressourcen in der gesundheitlichen Versorgung, in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung, selbst in unseren alltäglichen Gesprächen? Schon rein begrifflich unterscheiden wir eine Pluralität von Krankheiten und Krankheitsschweregraden und sprechen gleichzeitig von der Gesundheit nur im Singular. Als ob Gesundheit nicht auch verschiedene Gesichter hätte: z. B. die eines Hochleistungssportlers, die eines LKW-Fahrers oder die einer Gehörlosen, die eines Kindes oder die eines alten Menschen – ganz zu schweigen von Aspekten der sozialen Konstruktion und des normativen Hintergrunds von Gesundheit.

Besteht nicht zumindest Einigkeit über Gesundheit als unserem höchsten Gut? Unter bestimmten Rücksichtnahmen vielleicht. So mag für den Arzt bzw. die Heil- und Hilfsberufe die Formulierung „salus aegroti suprema lex” – die Gesundheit des Kranken ist oberstes Gebot – ohne Einschränkung gelten. In einem allgemeineren gesellschaftlichen Wertekontext hat das Grundgesetz mit Überlegung jedoch die Würde des Menschen an erste Stelle gesetzt. Es lassen sich ohne Mühe Beispiele finden, in denen Gefährdungen der Gesundheit um eines höheren Gutes willen billigend in Kauf genommen werden – von den protestierenden Müttern der Plaza de Mayo bis zu Tiananmen Square, von alltäglichen beruflichen Gefährdungen bis zu Risikosportarten. Allerdings dürfen wir von einem Menschenrecht auf Gesundheit sprechen – als einem unveräußerlichen, in der menschlichen Gemeinschaft zu schützenden und zu fördernden grundlegenden Gut [3] [4].

Was ist es von seiner Substanz her, was es zu schützen und zu fördern gilt? Das oben zitierte „Schweigen der Organe” legt nahe, dass es um den ungestörten Vollzug von Funktionen geht, welche menschliches Leben ausmachen: um „funktionale Gesundheit” also [5]. Mit diesem Ansatz ergänzt die Weltgesundheitsorganisation die utopisch-ideale Definition von Gesundheit aus ihrer Verfassung von 1948 als „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens” und weist Gesundheit wieder einen Platz in unserer Welt zu. Gesundheit soll die (selbstvergessene) Teilnahme am Leben ermöglichen. Im Zentrum funktionaler Gesundheit steht somit die Interaktion zwischen Individuum und Umwelt. Die Systematik der Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) bildet funktionale Gesundheit mit vier Komponenten ab: Körperstrukturen und Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe, Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren (www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm).

Lässt sich funktionale Gesundheit darüber hinaus noch grundsätzlicher verstehen? Hier sei als Denkanstoß ein Brückenschlag zu einer evolutionären Perspektive versucht, wie er von der Verhaltensbiologie vorgezeichnet wird. Für einen ihrer großen Vertreter, den Mediziner und Biologen Konrad Lorenz, spiegeln unsere Organe und deren Funktionen die Welt außerhalb unserer selbst: das Auge z. B. ist so der funktionale Spiegel der Gegebenheit Licht, die Hand spiegelt funktional unsere dreidimensionale Außenwelt. Konrad Lorenz geht sogar soweit, menschliche Kultur und Zivilisation analog als „zweite Natur” des Menschen zu interpretieren: Fahrrad, Auto, Flugzeug und Boot sind demnach funktionale, spezifisch menschliche Organäquivalent zu Pferdehuf, Flügel und Flosse [6].

Ist funktionale Gesundheit damit nur eine Anpassung an unsere natürliche, technisch-zivilisatorische und soziale Umwelt, welche konsequenterweise optimiert werden sollte? Gilt für Gesundheit ein funktionales „mehr ist besser” im innerartlichen Wettbewerb? Mit dieser Frage sind wir nahe an einem Trend, der unter dem Begriff der „Enhancement”-Medizin diskutiert wird: waren Kinnimplantate für männliche Manager und Brustvergrößerungen bei ihren weiblichen Counterparts noch eher ästhetische Maßnahmen, strebt medizinisches Enhancement tatsächliche funktionale Leistungssteigerungen an: medikamentöse Muskelkraft-, Willens-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitssteigerungen (brain doping) auf dem Weg zum „idealen” Sportler, Krieger oder Manager [7] – die gewählten maskulinen Substantivformen gelten für beide Geschlechter und dienen – die Hintergründigkeit sei erlaubt – nicht nur der besseren Lesbarkeit.

Der Internist und Medizinethiker Linus Geisler fasst diesen Trend kritisch zusammen: „Bei all dem herrscht eine auffallende Polarität zwischen Körpervergessenheit und Körperversessenheit. Der Leib, die körperliche Präsentation des Ichs, gerät außer Kontrolle. […] Die wunscherfüllende Medizin inszeniert die Neuerfindung des Körpers. Dieser erweist sich nicht mehr als sichere Behausung eines Ichs, das sich nicht ständig infrage stellen muss. Wenn alle Trümpfe von Body-Modifikation, Dirty Medicine, Keimbahnmanipulation, Neuro-Pharmakologie und Hirneingriffen ausgespielt sind, dann werden wir es haben: Das Glück. Pursuit of Happiness am Ziel. Aber welches Glück? […] Wir spüren: Es ist nicht unser Glück, sondern ein fremdgesteuertes Glück, ein fremdes Glück. Am Horizont wird es erkennbar: das Drohende Glück. Rilke nannte es das „Leere Zuviel” [7].

Nicht nur am Horizont erkennbar, sondern augenfällig wird dieses „Leere Zuviel” in einigen Arten eines fehlgesteuerten Leistungssports mit seinen pharmakologischen Übersteigerungen. Doch – kann es überhaupt ein Zuviel an Gesundheit geben? Ist dies alles nicht eine begrüßenswerte, ja notwendige Entwicklung im evolutionären Wettlauf der bestmöglichen Anpassung? Bezeichnet Arthur W. Franck eine derart ausgerichtete Heilkunde zu Unrecht als „Dirty Medicine” [8]? Um diese Frage in einem ersten Ansatz noch einmal an die Verhaltensbiologie zu stellen: Für den Nobelpreisträger Konrad Lorenz ist ein überzogener innerartlicher Wettbewerb, wie ihn z. B. die Enhancement-Medizin unterstützt, eine „Todsünde der zivilisierten Menschheit” [9], eine dysfunktionale Sackgasse der Evolution. Schärfer lässt sich das Urteil kaum formulieren. Erhellend sind über diese vielleicht einseitige naturwissenschaftliche Perspektive hinaus auch die entsprechenden vertiefenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskurse. Zur Abrundung des Bildes: Neben klassischer gesundheitlicher Versorgung und Enhancement-Medizin entsteht, weniger leistungsorientiert, auch noch ein weiterer, sog. „zweiter Gesundheitsmarkt”: Wellness-orientiert [10]. Dieser wäre noch gesondert und differenziert zu betrachten, ebenso die auf die Organisation einer Gemeinschaft gerichteten zugehörigen Public Health – Aspekte.

Das Resümee? Vielleicht ist ein solches und mit ihm der Gesundheitsbegriff nur in einem dialektischen Prozess zwischen Polen und Gegenpolen jeweils auszuhandeln bzw. in Bezug zu konkreten Personen jeweils individuell zu finden. Um einen solchen Gegenpol – der wohlverstanden sein möge – zu setzen: „Der Mensch in seiner Ganzheit ist ein unvollkommenes Wesen. Seine Unvollkommenheit ist es, die seine tiefsten Sehnsüchte weckt und seine höchsten Erfüllungen ermöglicht” [11]. Vielleicht gilt auch, dass „zuweilen dem Menschen Schmerz dienlicher (sein kann) als Gesundheit” (Gregor von Nazianz, um 329–390) und „dieses Leben ist […] keine Gesundheit, sondern ein Gesund-Werden” [12].

Wegen des notwendigen „Wohlverstehens” ein Lesetipp zu funktionaler Gesundheit: Die Übersicht zur ICF als konzeptionelle Grundlage für das Verständnis von Gesundheit von Cieza et al. (Langfassung im Internet) sowie der CME-Beitrag von Ewert, Freudenstein und Stucki in diesem Heft.

Literatur

  • 1 Gadamer HG. Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt, Suhrkamp 1996
  • 2 Kuhn J. Gesundheit, Krankheit und Public Health.  Prävention. 2005;  1 27-30
  • 3 WHO: Primary Health Care .A joint WHO-UNICEF Report. World Health Organisation, Geneva 1978
  • 4 Wildner M, Brunner A, Fischer R. et al .Menschenwürde und Chancengleichheit: Menschenrechte im gesundheitlichen Kontext. In: Mielck A, Bloomfield K Hrsg. Reader Sozial-Epidemiologie. Weinheim, Juventa Verlag 2001
  • 5 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). http://www.who.int/classifications/icf/en/ , Zugriff am 29.09.2008.
  • 6 Lorenz K. Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München, Piper 1973
  • 7 Geisler LS. Drohendes Glück – Was die Medizin jenseits der Therapie verspricht.  Universitas. 2007;  62 ((727)) 5-19
  • 8 Frank AW. Connecting Body Parts: Technoluxe, Surgical shapings and Bioethics. Vital Politics Conference. London School of Economics September 2003
  • 9 Lorenz K. Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. München, Piper 1973
  • 10 Kickbusch I. Die Gesundheitsgesellschaft: Megatrends der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft. Gamburg. Verlag für Gesundheitsförderung 2006
  • 11 Geisler LS. Das Menschenbild in der modernen Medizin. Festvortrag anlässlich 75 Jahre Deutsches Hygiene Museum Dresden. Dresden;  18. Mai 2005;  http://www.linusgeisler.de/vortraege/0505dhmd_menschenbild.html , Zugriff am 29.09.2008
  • 12 Martin Luther .Auslegung zu Philipper 3,13, zitiert auf dem Buchrücken des „Luther Brevier”. Wartburg Verlag 2007

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleissheim

Email: manfred.wildner@lgl.bayern.de

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