Gesundheitswesen 2009; 71(6): 327-328
DOI: 10.1055/s-0029-1224166
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leitlinientreue

Clare et distincteT. Gaertner
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Publication Date:
15 June 2009 (online)

Bei aller wissenschaftlichen Durchdringung spontaner oder evozierter Phänomene hat das Dasein in seiner Gesamtheit nicht an Übersichtlichkeit gewonnen. Dem Empiriker ist gegenwärtig, dass jedes Ergebnis, und sei es noch so plausibel, modifizierte oder sogar neue Fragestellungen zeitigt und die Forschungsgegenstände differenzierter hervortreten lässt. Die medizinische Versorgung ist davon nicht ausgenommen, von der Prävention bis zur Rehabilitation und von der Diagnostik bis zur Begutachtung. Jeder noch so gut begründeten Expertise bleibt ein Quantum an Unbestimmtheit. Das dem Mediziner noch so Evidente, enthebt ihn nicht einer kritischen Beurteilung des Sachverhaltes, befreit ihn nicht vom prüfenden Bedenken seines fachkundigen und sachverständigen Tuns. Jede noch so schlüssige Metaanalyse darf nicht zur Annahme verleiten, man halte die Wahrheit in Händen. Jene vermittelt lediglich die Gewissheit, die den gängigen Vorstellungen über physiologische wie pathologische Vorgänge zugrunde liegenden Modelle besäßen eine handlungsbegründende Relevanz, als Konstrukte berechtigterweise alltagstauglich und zum Teil überlebensnotwendig [1]. Und dies alles besitzt eine Verbindlichkeit nur dann, wenn die publizierten Ergebnisse wissenschaftlichen Kriterien entsprechen und einer Überprüfung standhalten. Es wäre fatal, wenn die jüngst wieder ruchbar gewordenen Betrügereien, die als Referenzen für Leitlinien auch in Deutschland herangezogen wurden, nur die Spitze eines Eisbergs darstellten [2].

Kodifizierung ärztlichen Verhaltens bzw. Normierung medizinischer Versorgung ruft – und das ist nicht nur epistemologisch wohl begründet, sondern auch aus historischer Perspektive berechtigt – Skepsis hervor [3]. Der dem aufklärerischen Appell, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, inhärente Wagnischarakter bleibt dem kritisch Denkenden nicht verborgen. Wissenschaftliches Erkennen ist ein fortwährendes, häufig in sich widersprüchlich erscheinendes Unterfangen. Es gilt die Vorläufigkeit alles Gewussten als „unvollendete Weltanschauung zu ertragen” [4]. Der Eigenmächtigkeit des Alltags, der Bedrängung durch das Zufällige versuchen Mediziner bei aller bio-psycho-sozialen Anstrengung nicht nur in einer mechanistischen Sichtweise des menschliche Köpers zu begegnen [5]. Die Hegemonie der Kontingenz kontern sie zudem in einer Bestimmung und Festlegung des Konventionellen, seiner Formatierung in einer Leitkultur. Gängigen Ausdruck findet dies in Leitbildern oder Leitlinien – Begriffe, die in den letzten Jahren auch dem Fachjargon einverleibt wurden.

In seinem Essay „Ohne Leitbild”, im Jahre 1960 noch ganz der Betroffenheit über das Vergangene geschuldet, warnt Theodor W. Adorno – natürlich vordergründig auf das Ästhetische gemünzt, in dialektischer Lesart aber auch auf das gesellschaftlich Gegebene zu beziehen [6]: „In den Normen und Leitbildern, die fix und unverrückbar den Menschen zur Orientierung einer geistigen Produktion, deren innerstes Prinzip doch Freiheit ist, verhelfen sollen, spiegelt sich bloß die Schwäche ihres Ichs gegenüber Verhältnissen, über die sie nichts zu vermögen meinen, und die blinde Macht des nun einmal so Seienden. Die dem sogenannten Chaos von heute beschwörend einen Kosmos von Werten entgegenstrecken, bekunden nur, wie sehr dieses Chaos bereits zum Gesetz ihres eigenen Handelns und ihrer Vorstellung geworden ist”.

Moderne medizinische Programmatik und Pragmatik in Form der „Best Practice” finden ihren Niederschlag in drei Kernansätzen: erstens der Evidenzbasierten Medizin zur Unterstützung der Entscheidungsfindung beim individuellen Patienten, zweitens der Leitlinienentwicklung zur Standardisierung klinischer Entscheidungsfindung ausgerichtet auf Patientengruppen und drittens der medizinischen Technologiebewertung zur Versorgungssteuerung bezogen auf Bevölkerungsgruppen [7]. Die Auseinandersetzung mit Leitlinien beginnt mit der Suche nach einer relevanten Definition, so wie sie für Deutschland maßgebend und umsichtig formuliert das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) vertritt [8]:

„Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. Leitlinien stellen den nach einem definierten, transparent gemachten Vorgehen erzielten Konsens mehrerer Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen und Arbeitsgruppen (möglichst unter Einbeziehung von Patienten) zu bestimmten ärztlichen Vorgehensweisen dar. Leitlinien sollen regelmäßig auf ihre Aktualität hin überprüft und ggf. fortgeschrieben werden. Leitlinien sind Orientierungshilfen im Sinne von ,Handlungs- und Entscheidungskorridoren‘, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss”.

Diese Definition folgt der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates über die Entwicklung einer Methodik für die Ausarbeitung von Leitlinien [9]. Zu ihrem Anliegen heißt es dort: „Medizinische Leitlinien sind Instrumente, mit deren Hilfe man Entscheidungen in der medizinischen Versorgung auf eine rationalere Basis stellen kann. Ihr Ziel ist es, die Qualität der Versorgung zu verbessern und die Stellung des Patienten zu stärken. Bei dem sachgerechten Verfahren, von der Beurteilung valider Forschungsergebnisse, der Entwicklung von Leitlinien bis hin zu ihrer Implementierung und ihrer Akzeptanz einschließlich ihres indikationsgerechten Einsatzes, bedarf es daher einer interdisziplinären und institutionsübergreifenden Zusammenarbeit unter Beteiligung von Patientenorganisationen. Dabei kommt der Methodik der Evidenzsynthese gleichermaßen wie der Konsensusfindung eine hohe Bedeutung zu [10]. Nach den Empfehlungen der AWMF wird der Prozess der Leitlinienentwicklung nach Stufen (S) klassifiziert. Die einzelnen Entwicklungsstufen entsprechen als S1 einem informellen Konsens einer Expertengruppe, als S2 einer formalen Evidenz-Recherche (S2e) oder einer formalen Konsensfindung (S2k) und als S3 einer Leitlinie mit allen Elementen einer systematischen Entwicklung bis hin zur „outcome”-Analyse.

Erst einmal herausgebracht, entfalten Leitlinien eine normative Kraft bezüglich Anspruchshaltung, Entscheidungsfindung und Verhaltensweisen der dem medizinischen Wirkungskreis Involvierten. Die Leitlinien begünstigen somit zunächst einmal Konformität. Selbst auf der Grundlage der Gediegenheit einer Leitlinie im Hinblick auf ihr Entwicklungsmethodik ist dies allerdings noch keine Garantie für eine angemessene medizinische Versorgung. Qualität von Leitlinien lässt sich also nicht allein an der Akribie ihrer Erstellung ablesen. Solide, belastbare wissenschaftliche Ergebnisse zu erhalten ist nicht trivial, erst recht nicht im Rahmen der Versorgungsforschung, wie dies beispielsweise die Widerspenstigkeiten bei der Etablierung eines deutschen Endoprothesenregisters belegen [11]. Vielmehr lässt sich die Zweckdienlichkeit der konsentierten Handlungsanweisungen erst im Hinblick auf die Tauglichkeit ermessen, eine angemessene medizinische Versorgung sicherzustellen. Im sozialgesetzlichen Ordnungsrahmen bedeutet dies, dass gerade auch leitlinien-gesteuertes Leistungsgeschehen den allgemeinen Grundsätzen der Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit zu entsprechen hat (§ 70 SGB V). Essentiell ist also der epidemiologisch belastbare Nachweis, dass die Leitlinien im Hinblick auf ihre teleologische Dimension halten, was sie versprechen, oder – ultimativ formuliert – das Interventionsresultat bzw. das Behandlungsergebnis („patient outcomes”) verbessern [12].

Von Anfang an wurden Befürchtungen geäußert, dass durch Leitlinien interessengeleitet auch Widersinniges festgeschrieben werden könnte. Zu nennen wären unter anderem Unterminierung der Patientenautonomie, Einschränkungen ärztlicher Weisungsunabhängigkeit, Indikationsausweitungen, Marginalisierung etablierter Methoden und Interventionsstrategien im Sinne einer Fehl- bzw. Überversorgung. Mittlerweile wird allerdings im Zuge der Intensivierung gesundheitsökonomisch ausgerichteter Konzepte zur Priorisierung und Rationierung medizinischer Leistungen eher das protektive, solidaritäts- und qualitätsstiftende Potenzial von Leitlinien betont.

Seit Jahren beschäftigt sich die Deutsche Rentenversicherung intensiv mit der Thematik sozialmedizinischer Leitlinien [13]. Ihrerseits wurde schon im Laufe der letzten Jahre eine Reihe von Leitlinien zur Leistungsbeurteilung und Rehabilitationsbedürftigkeit erarbeitet. In drei aufeinanderfolgenden Ausgaben des „Gesundheitswesens” werden nun die „Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit bei chronischen nicht-malignen Leber- und Gallenwegskrankheiten veröffentlicht. Vorbereitet durch eine interne Expertengruppe liegt ihnen nachfolgend ein mehrstufiges Konsentierungsverfahren zugrunde. Damit erfüllen sie formal das Kriterium der Klasse „S2k”. Die vorliegenden Leitlinien sind nicht nur ein weiterer Beleg des intensiven und zielstrebigen Engagements der Rentenversicherung um Standardisierung sowie Transparenz des Leistungsgeschehens als Basis von Versorgungsgerechtigkeit, sondern auch Ergebnis der seriösen und beständigen Reflexion des sozialmedizinischen Handelns.

So wie die Evidenzbasierte Medizin als primär individualmedizinischer Ansatz zunehmend grundsätzliche Relevanz beansprucht, kommen im Gegenzug Leitlinien mit ihrer prinzipiell patientengruppen-spezifischen Ausrichtung immer auch im Einzelfall zur Anwendung. Sie sind definitionsgemäß Orientierungshilfen und keine Doktrin. Im dynamisch-wissenschaftlichen Prozess spiegeln sie lediglich punktuell gültige Auslegungen des im Idealfall bestverfügbaren Bestandes an medizinischem Wissen und nicht zuletzt allgemeine Wertvorstellungen wider. Sie entbinden die Ärztin oder den Arzt also nicht von der Sorgfaltspflicht, sich im Sinne der wohlverstandenen ärztlichen Freiheit in jedem einzelnen Fall ein eigenes Urteil zu bilden, in Analogie zu Rudolf Virchows medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlegung der Sozialen Medizin, der Leitidee seines politischen Reformprogramms [14].

Literatur

  • 1 Wildner M. Wissen schaffen.  Gesundheitswesen. 2009;  71 119-120
  • 2 Neugebauer E, Becker M, Sauerland S. et al . Wissenschaftsbetrug/Gefälschte Leitlinien: Auswirkungen auf S3-Leitlinie?.  Dtsch Ärztebl. 2009;  106 A-703
  • 3 Djulbegovic B, Guyatt GH, Ashcroft RE. Epistemologic Inquiries in Evidence-Based Medicine.  Cancer Control. 2009;  16 158-168
  • 4 Mach E. Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt (erste Auflage 1883). Berlin: Akademie 1988
  • 5 de Melo-Martin I. The art of medicine. Vulnerability and ethics: considering our Cartesian hangover.  Lancet. 2009;  373 373-374
  • 6 Adorno TW. Ohne Leitbild. Neue deutsche Hefte, Heft 75, Oktober 1960. zit. nach: Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1970
  • 7 Perleth M, Jakubowski E, Busse R. „Best Practice” im Gesundheitswesen – oder warum wir evidenzbasierte Medizin, Leitlinien und Health Technology Assessment brauchen.  ZaeFQ. 2000;  94 714-744
  • 8 Nationale VersorgungsLeitlinien . Leitlinien. http://www.versorgungsleitlinien.de/glossar/glossar/leitlinien , (Zugriff am 07.05.2009)
  • 9 Europarat . Entwicklung einer Methodik für die Ausarbeitung von Leitlinien für optimale medizinische Praxis.  Z ärztl Fortbild Qual Gesundh wes (ZaeFQ). 2002;  96 (Suppl 3) 1-60
  • 10 Kopp IB, Selbmann H-K, Koller M. Konsensusfindung in evidenzbasierten Leitlinien – vom Mythos zur rationalen Strategie.  Z ärztl Fortbild Qual Gesundh wes (ZaeFQ). 2007;  101 89-95
  • 11 Niethard FU, Weise K. Das deutsche Endoprothesenregister – eine unendliche Geschichte?.  Z Orth Unfall. 2009;  147 149-150
  • 12 Burgers JS. The need for collaboration in guidelines.  Z Evid Fortbild Qual Gesundh wesen (ZEFQ). 2009;  103 3-4
  • 13 Korsukéwitz C, Rose S, Schliehe F. Zur Bedeutung von Leitlinien für die Rehabilitation.  Rehabilitation. 2003;  43 67-73
  • 14 Virchow R. Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin (1848). In: Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. Frankfurt am Main: Meidinger 1856

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