Gesundheitswesen 2010; 72(1): 41-47
DOI: 10.1055/s-0029-1237742
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheitsziele zur Gesundheitsförderung im Spannungsfeld von individueller Freiheit, staatlichem Paternalismus und Gemeinwohl

Health Targets for Health Promotion in an Area of Conflict between Individual Freedom, State Paternalism and Common WelfareK. Michelsen1
  • 1Faculty of Health, Medicine and Life Sciences, Department of International Health, Maastricht, the Netherlands
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Publication Date:
26 January 2010 (online)

Zusammenfassung

In Deutschland wurde in den letzten Jahren von diversen Akteuren eine wachsende Anzahl von Gesundheitszielen verabschiedet. Während Gesundheitsziele ein nützliches Instrument von Governance sind, muss die mit dem Anspruch einer Prioritätensetzung und ggf. einer dementsprechenden Umverteilung von Ressourcen verbundene absolute und relative Benachteiligung oder Bevorzugung von Bevölkerungsgruppen legitimiert werden. Die beteiligten Wissenschaftszweige einschlieβlich der Ethik können die Entscheidungsfindung zwar unterstützen, aber letztlich nicht vollständig begründen. Dafür sollen Entscheidungen über Gesundheitsziele in einem transparenten und partizipativen Prozess getroffen werden. Trotz einer wachsenden Anzahl von Gesundheitszielen wird eine mangelnde Zielsetzung der Gesundheitspolitik kritisiert. Unter den Gesundheitszielen und den ihnen zugeordneten Maßnahmen haben die kurative Medizin und in erster Linie medizinisch ausgerichtete Interventionen gegenüber der Gesundheitsförderung ein größeres Gewicht. Die Gesundheitsförderung sollte an dem Leitbild der Ottawa-Charta ausgerichtet und in das Konzept der Verwirklichungschancen eingebettet werden. Auf dieser Grundlage wäre eine stärkere Berücksichtigung von Gesundheitsförderung im Gesundheitszielprozess wünschenswert. Allerdings lassen die derzeitigen Akteurskonstellationen in Gesundheitszielprozessen solch eine Ausrichtung als unwahrscheinlich erscheinen. Das Ringen um Verwirklichungschancen und individuelle Freiheiten erfolgt durch, in und über zivilgesellschaftliche, politische und rechtliche Institutionen. Eine Auseinandersetzung mit Public Health und Gesundheitsförderung, die sich auf eine Gegenüberstellung von individueller Freiheit und staatlichem Paternalismus beschränkt, blendet gesellschaftlich bedingte Einschränkungen individueller Freiheiten sowie die Möglichkeit einer Absicherung und Erweiterung individueller Freiheiten durch politische und rechtliche Institutionen aus.

Abstract

In Germany, a growing number of health targets has been adopted in the last years by various actors. While health targets are a useful instrument of governance, the priority setting and a respective redistribution of resources have to be legitimised in the cause of their advantages and disadvantages for population groups. The involved sciences including ethics can support decision-making, but not fully justify decisions. Therefore, decisions on health targets must be made in a transparent and participative process. In spite of a growing number of health targets, the lack of targets in health policies is to be criticised. Within the health targets, those measures assigned to curative medicine and prevention have a greater weight than health promotion. Health promotion should follow the WHO Ottawa-Charter and be embedded in the concept of “capabilities”. Under these conditions, a stronger consideration of health promotion in the health target process would be desirable. However, the present actor constellations within health target processes make such a direction improbable. The struggle around capabilities and individual freedom occurs through, in and about institutions of the civil society as well as political and legal institutions. To restrict the discussion about public health and health promotions to an juxtaposition of individual freedom and state paternalism minimises societal and social restrictions of individual freedom as well as the possibility of a safeguard and enlargement of individual freedoms through political and legal institutions.

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Korrespondenzadresse

Dr. K. Michelsen

Faculty of Health, Medicine and Life Sciences

Department of International Health

Maastricht University

P.O. box 616

NL 6200 MD Maastricht

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Email: Kai.Michelsen@inthealth.unimaas.nl

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