Gesundheitswesen 2009; 71 - A109
DOI: 10.1055/s-0029-1239159

Bedarf und Inanspruchnahme von psychotherapeutischen Maßnahmen im deutschen Gesundheitssystem

M Körner 1
  • 1Abteilung für Medizinische Soziologie, Universität Freiburg

Epidemiologische Untersuchungen sowie Daten der Kranken- und Rentenversicherung weisen darauf hin, dass psychische Erkrankungen in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen haben. Im Bundesgesundheitssurvey 1998/99 [1] wurde für Deutschland 31% als 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung (18–65 Jahre) ermittelt. Die Mehrheit der psychischen Störungen stellt sich in der Kindheit und Adoleszenz ein, Frauen (37%) sind dabei häufiger Betroffen als Männer (25%). Und 40% der Erkrankungen sind chronisch. Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen haben trotz insgesamt sinkender Arbeitsunfähigkeitszeiten in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Psychische Erkrankungen gehören zu den sechs wichtigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit. Es zeigt sich eine starke Zunahme der Frühberentungen infolge von psychischen Erkrankungen [1, 2].

Es ist von riesigen Diskrepanzen zwischen dem Bedarf (den Befunden epidemiologischer Studien zu psychischen Erkrankungen) und der Inanspruchnahme ambulanter und stationärer psychotherapeutischer Versorgung auszugehen [3]. Nur ein Drittel der Betroffenen wird angemessen behandelt. Ein Viertel bekommt eine minimale Intervention. Häufig werden Psychopharmaka verabreicht. Die Psychotherapie ist nur selten die alleinige Behandlung. Insbesondere Kinder und Jugendliche bleiben häufig unbehandelt [3,4].

Barrieren für eine adäquate Inanspruchnahme sind u.a. Engpässe in der Versorgung, d.h. fehlende niederschwellige Angebote (v.a. für Kinder und Jugendliche), zu wenig psychotherapeutisch qualifiziertes Personal in Allgemeinkrankenhäuser, eine regionale Unterversorgung in den neuen Bundesländern sowie viel zu lange Wartezeiten bei niedergelassenen Therapeuten. Mangelnde Akzeptanz, Motivation sowie die Stigmatisierungsangst wirken zudem als individuelle und soziale Barrieren [5,6]. Die Schwelle eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen ist demnach sehr hoch. Allerdings fehlen derzeit systematische empirische Untersuchungen zur psychotherapeutischen Versorgungssituation in Deutschland. Untersucht werden sollte das infrastrukturelle Interventionsangebot, die Diskrepanz zwischen Bedarf und Inanspruchnahme psychotherapeutischer Versorgungsangebote differenziert für verschiedene Bevölkerungsgruppen sowie die für die Diskrepanz verantwortlichen Gründe. Daran anknüpfend könnten Maßnahmen abgeleitet werden, um die psychotherapeutische Versorgungssituation zu verbessern.

Literatur: [1] Wittchen HU, Jacobi F. Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland- eine klinisch-epidemiologische Abschätzung anhand des Bundesgesundheitssurveys'98. Bundesgesundheitsblatt 2001; 44: 993–1000.

[2] Bühren A, Voderholzer U, Schulte-Markwort M, Loew TH, Neitscher F, Hohagen F, Berger M. Psychische Erkrankungen: Alle Fachgebiete sind gefordert. Dtsch Arztebl 2008; 105(17): 880–885.

[3] Bühring, P. (2008). Das Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Fydrich, Psychotherapieforscher. Der Erfolg von Psychotherapie ist messbar. Dtsch Arztebl für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, 7, 1: 18–20

[4] Häfner, S. O. & Schmidt-Lachenmann, B. (2003). Psychosozialer Versorgungsbedarf und Inanspruchnahmeverhalten von Viertklässler. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie. Abrufbar unter: http://www.thieme.de/abstracts/ppmp/abstracts2003/daten/135.html [10.06.2008].

[5] Grohn J. Psychotherapeutische Versorgung in Deutschland – das teure Tabu. Die BKK Zeitschrift der Betrieblichen Krankenversicherung 2008; 1: 8–14.

[6] Schuster S. Die Entscheidung zur Psychotherapie. Prozess und Einflussfaktoren der Therapielatenz aus Patientensicht. Psychosozial-Verlag: Gießen 2007.