Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2011; 16(3): 171-177
DOI: 10.1055/s-0029-1245720
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Optionale Selbstbehalte – ein Instrument zur Nachfragesteuerung in der Gesetzlichen Krankenversicherung?

Optional Deductibles – an Instrument for Demand Regulation in the Context of Statutory Health Insurance?N. Hemken1 , C. Schusterschitz1 , M. Thöni1
  • 1Department für Human- und Wirtschaftswissenschaften, UMIT Private Universität für Gesundheitswissenschaften Hall/Tirol
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Publication History

Publication Date:
22 December 2010 (online)

Zusammenfassung

Zielsetzung: Die GKV (Gesetzliche Krankenversicherung) kann in Deutschland seit 2007 optionale Selbstbehalttarife anbieten. Fraglich ist, ob diese Tarife die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen beeinflussen, also die intendierte Steuerungswirkung haben und damit auf Moral Hazard wirken oder Selbstselektion im Vordergrund steht. Methodik: Mithilfe eines Matchingverfahrens wird die Nachfrage des Jahres 2008 für eine Gruppe Selbstbehaltteilnehmer und einer gematchten Nichtteilnehmergruppe gegenübergestellt. Ergebnisse: Der Mittelwertvergleich zwischen der Selbstbehaltteilnehmer- und Nichtteilnehmergruppe zeigt für die Segmente der Leistungsausgaben Krankenhaus, Arzneimittel und Heilmittel im Jahr 2008 signifikante Unterschiede. Im Detail weisen die Ergebnisse der empirischen Analyse für Selbstbehaltteilnehmer eine um 284 € geringere Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nach. Schlussfolgerung: Optionale Selbstbehalttarife der GKV können die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen beeinflussen, was darauf hinweist, dass ein Teil der Gesundheitsausgaben in Deutschland auf Moral Hazard zurückzuführen ist. Diese Erkenntnisse sollten bei der gesundheitspolitischen Weiterentwicklung der Selbstbehalte in der GKV berücksichtigt werden.

Abstract

Aim: Since 2007 the German statutory health insurance can offer optional deductibles. This fact raises the question whether according tariffs have the potential to influence individual demand for health services. In detail, it will be analyzed if such tariffs dispose of the intended effects on moral hazard, or if self selection eliminates these effects. Method: Using a matching approach a group of individuals opting for an optional deductible was compared with a group of individuals without optional deductible, regarding the 2008 demand for health care services. Results: By means of t-tests mean values of the two insurance groups were compared with each other. Significant mean differences reveal that participants of the optional deductible have a lower demand of health services (284 €) than the reference group. Conclusion: The optional deductibles of the German statutory health insurance has the potential to influence the demand for health care services, thereby implying that health expenditures in Germany can partially be traced back to moral hazard. These findings have to be taken into account in the future health political discussion on optional deductibles.

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1 Die Wahlfranchisestufen betragen 400 sFr, 600 sFr, 1200 sFr oder 1500 sFr. In Abhängigkeit von der Franchise wird ein Prämienrabatt gewährt.

2 Der Datensatz enthält ca. 59 000 Versicherte.

3 Die freiwillige Versicherung ist in § 9 SGB V geregelt. Über diese Rechtsgrundlage versichern sich hauptsächlich Selbstständige und Arbeitnehmer mit einem Jahresarbeitsentgelt über der Jahresarbeitsentgeltgrenze (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) in der GKV. Die Jahresarbeitsentgeltgrenze im Jahr 2009 beträgt 48 600 €.

15 4 Den Selbstbehalttarif der Techniker Krankenkasse können nur freiwillig Versicherte wählen. Nach Holst handelt es sich bei dieser Gruppe um Besserverdienende, die sich partiell ohnehin der GKV entziehen, da Beiträge nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben werden. Felder und Werblow stellen im deskriptiven Teil ihrer Arbeit fest, dass das Einkommen der Tarifwähler trotz enthaltener Unschärfen eindeutig über dem der Kontrollgruppe liegt [6].

16 5 Nach Holst nur 0,15 Promille aller GKV-Mitglieder.

17 6 Die Studie unterstellt nach Holst eine Übernutzung von Gesundheitsleistungen.

18 7 Die Studie von Felder und Werblow ermittelt die Steuerungseffekte im Jahr 2003. Mehrjährige Effekte wurden nicht untersucht.

Norbert Hemken

Tideweg 8

26689 Augustfehn

Email: norbert.hemken@umit.at

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