Gesundheitswesen 2010; 72(3): 154-160
DOI: 10.1055/s-0030-1247575
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gerechtigkeit im Verhältnis von Sozialer Pflegeversicherung und Privater Pflegepflichtversicherung

Fairness in Germany's Long-Term Care Insurance: The Relationship Between Social Insurance and Private Mandatory InsuranceH. Rothgang1
  • 1Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen
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Publication Date:
25 February 2010 (online)

Zusammenfassung

Mit dem Pflege-Versicherungsgesetz wurde 1994 eine „Pflegevolksversicherung in Gestalt zweier Versicherungszweige” (Bundesverfassungsgericht) geschaffen, bei der die Bevölkerung jeweils entweder der Sozialen Pflegeversicherung oder der privaten Pflegepflichtversicherung zugewiesen wird. Allerdings haben die privat Versicherten ein geringeres altersspezifisches Risiko und einen höheren Anteil Versicherter in pflegerelevanten Jahrgängen. Die Durchschnittsausgaben pro Versichertem sind daher – auch bei Berücksichtigung der über die Beihilfe getätigten Leistungen – nur halb so hoch wie in der Sozialen Pflegeversicherung. Gleichzeitig weisen die privat Versicherten ein höheres Einkommen auf. Würde auch die private Pflegepflichtversicherung nach den Spielregeln der sozialen Pflegeversicherung betrieben, würde hierzu ein Beitragssatz ausreichen, der nur ein Drittel des zum Budgetausgleich notwendigen Beitragssatzes der SPV beträgt. Durch die Zuweisung in die SPV werden die Versicherten daher im derzeitigen System benachteiligt, ohne dass rechtfertigende Gründe hierfür erkennbar wären. Aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus besteht hier Reformbedarf. Die „einfache”, gleichwohl aber politisch schwierigere Option besteht in der Abschaffung der organisatorischen Trennung in SPV und PPV und der Schaffung eines einheitlichen Versicherungssystems für die gesamte Bevölkerung. Soll dagegen an der organisatorischen Trennung in zwei Systeme festgehalten werden, so kann ein Finanzausgleich zwischen diesen Systemen installiert werden, der zumindest die Ausgabenseite, besser aber auch die Einnahmeseite umfassen sollte.

Abstract

The long-term care insurance act of 1994 introduced two branches of long-term care insurance (LTCI), namely the social LTCI and a mandatory private LTCI. Both branches together cover almost the whole population. Insurees of the social LTCI, however, have a higher age-specific dependency ratio. Furthermore, social LTCI covers a higher share of elderly people. Therefore, per capita expenses are twice as high as in private LTCI – even if benefits for civil servants directly financed out of the public purse are taken into consideration. Moreover, on average members of private LTCI have higher incomes. If organised according to the principles of social LTCI, private LTCI could therefore operate with a contribution rate that is only one third of the rate necessary in social LTCI. Being assigned to social LTC thus creates a considerable disadvantage for the insurees that cannot be justified. Fairness considerations therefore demand reform. The most simple, but politically most difficult, reform option is to abolish the dualism of social and private LTCI and create an integrated system for the whole population instead. If this is not possible at least a risk equalisation scheme should be introduced that equalises the risk structure concerning the expenses and – if possible – also the income side.

Literatur

1 Die Beitragssatzunterschiede wurden durch den Risikostrukturausgleich erheblich gemindert. Dieser war und ist aber nicht zu diesem Zweck, sondern als Voraussetzung für einen funktionsfähigen und unverzerrten Wettbewerb notwendig.

2 Etwa die Hälfte dieser Personen sind beihilfeberechtigte Beamte, die sich für den nicht beihilfefähigen Anteil der Behandlungskosten zwar auch in der GKV versichern könnten. Da es in der GKV aber keine Teilkostentarife gibt und für Beamte keine Möglichkeit besteht, auf die Beihilfe zugunsten eines Arbeitgeberanteils zur GKV zu verzichten, ist diese Option sehr unattraktiv. Im Ergebnis sind mehr als 90% der Beamten PKV-versichert [9]. Aus der so geprägten Entscheidung für eine private Krankenversicherung folgt aber auch für Beamte eine Zuweisung in die private Pflegepflichtversicherung.

3 Da ein Teil der freiwillig GKV-Versicherten von dieser Wechseloption Gebrauch gemacht hat, liegt die Zahl der PPV-Versicherten auch um einige Hunderttausend höher als die der PKV-Versicherten [10, S. 27, 33].

4 Zwar werden die Leistungen in der PPV im Wege der Kostenerstattung und nicht als Sachleistungen bereitgestellt, allerdings hat dies keinen Einfluss auf die Leistungshöhe.

5 Neben den so determinierten Leistungsausgaben sind grundsätzlich auch die Verwaltungskosten zu beachten. Diese sind aber insgesamt zu gering, um derartig Unterschiede zwischen den Systemen erklären zu können.

6 Die Höhe des Beihilfeanspruchs differiert zwischen den Bundesländern und dem Bund. Der Anteil liegt nie unter 50%, erhöht sich aber teilweise für Verheiratete und für jedes Kind um 5 Prozentpunkte. Ein durchschnittlichen Beihilfeanteil von zwei Dritteln ist dabei eher großzügig geschätzt.

7 Bezeichnet X die gesamten Pro Kopf-Ausgaben der privat versicherten Pflegebedürftigen, so zahlt die PPV für die Hälfte ihrer Versicherten den vollen Betrag von X für die andere Hälfte aber nur ein Drittel. Umgerechnet ergeben sich aufgrund dieser Abschätzung jährliche Pro-Kopf-Ausgaben (für PPV und Beihilfe) von 90 €. Dies ergibt sich wie folgt: 60 = 0,5 · X + 0,5 · 1/3 · X ⇔ 60 = (3/6+1/6) · X ⇔ X =1,5 · .60=90.

8 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die beihilfeberechtigten Privatversicherten einen deutlich höheren Altersdurchschnitt aufweisen als die nicht beihilfeberechtigten. Dies wurde bei der vorstehenden einfachen Dreisatzrechnung nicht berücksichtigt, bei dieser Abschätzung hingegen schon.

9 Dieser Weg wurde beispielsweise 2006 in der niederländischen Krankenversicherung beschritten, als aus einem Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ein einheitliches integriertes, Versicherungssystem geschaffen wurde (vgl. [16]).

10 Die Umstellung auf ein vollständig kapitalgedecktes System ist aus praktischen Erwägungen – insbesondere wegen der erheblichen über mehrere Jahrzehnte andauernden Mehrbelastung – derzeit keine realistische Option (vgl. hierzu [17]).

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Heinz Rothgang

Zentrum für Sozialpolitik

Universität Bremen

Parkallee 39

28209 Bremen

Email: rothgang@zes.uni-bremen.de

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