Gesundheitswesen 2010; 72 - WS58
DOI: 10.1055/s-0030-1266445

Die Kontroversen um das „Passiv-Rauchen“ am Arbeitsplatz und der Wandel der Berufskrebsforschung in Westdeutschland (1955–1985)

B Bächi 1
  • 1Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld

Einleitung: Passivrauchen wurde 1985, nach Überwindung aller „wissenschaftlicher Differenzen“, von der DFG Senatskommission zur Prüfung gefährlicher Arbeitsstoffe als „krebsgefährdend“ eingestuft. Diese Kommission erarbeitet seit den 1950er Jahren die wissenschaftlichen Grundlagen zur Regulierung gesundheitsgefährdender Stoffe am Arbeitsplatz in Westdeutschland. Seit den 1960er Jahren wurde auch das Problem des „Passivrauchens“ in dieser Kommission immer wieder diskutiert. Der Beitrag beschreibt die Aushandlungsprozesse zwischen so unterschiedlichen Akteuren wie Anti-Tabak-AktivistInnen, Toxikologen, Arbeitsmedizinern, verschiedenen Bundesministerien sowie Tabak- und Chemieindustrie. Dabei fokussiere ich unintendierte Effekte dieser Diskussionen wie den Wandel in den bevorzugten Methoden zur Erzeugung von Evidenz bei Berufskrebsstudien sowie die Konvergenz heterogener Interessen. Material/Quellen: Als Quellen dienen hauptsächlich Akten der DFG-Senatskommission zur Prüfung gefährlicher Arbeitsstoffe (sog. „MAK-Kommmission“) im Bundesarchiv Koblenz. Ergebnisse: Im Bereich der Gefahrstoffregulierung ist in den 1960er und 1970er Jahren einerseits eine Ablösung der Arbeitsmedizin durch die Toxikologie, andererseits ein „Methodenstreit“ auszumachen; wobei die Epidemiologie zusehends tierexperimentellen Methoden weichen musste. Es war insbesondere die Frage des (Passiv-)Rauchens am Arbeitsplatz, die den epistemischen Wert von epidemiologischen Berufskrebsstudien zusehends in Frage stellte. In ihrem Kampf gegen die Tabakindustrie fanden die Anti-Tabak-AktivistInnen in der Chemieindustrie einen mächtigen Verbündeten; der freilich völlig andere Interessen verfolgte. Diskussion: Zu diskutieren wird sein, ob mit der Politisierung von Berufskrebs in den 1970er Jahren auch ein Trend hin zu einer (Re-)Individualisierung von Gesundheit einherging und welche Rolle dabei das Passiv-Rauchen spielte. Insbesondere die um 1980 herum eingeführten BAT-Werte („Biologische Arbeitsstoff-Toleranz“), die die Konzentration gefährlicher Stoffe in den Körperflüssigkeiten der Organismen messen, standen in Widerspruch zur Konzeption der Gefahrstoffregulierung, die auf den „Durchschnittsmenschen“ abhob.