Sprache · Stimme · Gehör 2010; 34(3): 146-147
DOI: 10.1055/s-0030-1267413
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Ein Jahrzehnt Sprechapraxie – Erfahrungen eines Betroffenen

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Publication Date:
01 October 2010 (online)

 

Herr Dr. B., Sie haben vor mehr als 10 Jahren, damals 64-jährig, einen Schlaganfall erlitten. Dieses Ereignis hat Sie mitten aus einer anspruchsvollen und erfüllten beruflichen Tätigkeit herausgerissen. Ihr hauptsächliches Handicap bestand in einer anfangs schweren Sprechapraxie, die sich seitdem sehr gebessert hat. Nach 10-jähriger Erfahrung mit dieser Erkrankung sind Sie gewissermaßen ein Sprechapraxie-Experte. Wie war das zu Anfang und wie ist Ihre Erkrankung verlaufen?

Ich brachte am Anfang außer "Ja" und "Nein" kein Wort raus. Ich habe aber alles verstanden, was gesprochen wurde, und konnte auch schon bald nach dem Schlaganfall alles aufschreiben, was ich sagen wollte. Ärzte und Therapeuten sagten mir, ich hätte keine Aphasie, aber eine schwere Sprechapraxie. Ich hatte außerdem eine Halbseitenlähmung. Nach dem Krankenhausaufenthalt habe ich 3 Jahre lang ambulante Sprachtherapie erhalten und nach einer Pause von 6 Jahren nochmals 2 mehrwöchige Intervalltherapien[1]. Seit einiger Zeit habe ich auch wieder beraterische Tätigkeiten in geringerem Umfang aufgenommen und mit meiner Erkrankung einen gewissen Frieden geschlossen.

Wie haben Sie die anfängliche Sprechunfähigkeit erlebt?

Ich war immer sehr auf beruflichen Erfolg fixiert. Der Schlaganfall hat alles verändert – die Sprechstörung war dabei das Schlimmste. Ich wusste zwar, dass das Sprechproblem und die Lähmung meines rechten Armes und Beines die gleiche physische Ursache hatten, aber ich habe die Folgen der Sprechapraxie im Unterschied zur Lähmung viel stärker als ein geistig-seelisches Geschehen erlebt. Mein plötzliches Unvermögen, mich verbal mitzuteilen, hat mich auf einen Schlag meiner Sozialfähigkeit beraubt – ich war zwangsweise auf mein eigenes Ich reduziert. Dies bewusst zu erleben, und die anfängliche Gefährdung eines Weiterlebens in Würde, lösten eine Kette von bedrohlichen Empfindungen aus wie Angst, Verzweiflung,

Wut, Aggression und das Gefühl des Verlassenseins. Mein Seelenzustand wechselte zwischen einem lethargischen "Abwarten, was noch alles kommt" und einer trotzig-lakonischen Motivation, "Du musst es schaffen". Und das alles konnte ich ja nicht so aussprechen, wie ich es wollte!

Sie haben ja viel Therapieerfahrung. Können Sie Ihre Eindrücke aus dieser Zeit beschreiben?

Schon früh habe ich bemerkt, dass meine Gesundung ganz stark von meiner persönlichen Therapiemotivation abhängt. Zunächst ging es darum, diese psychische Lähmung, die mich befallen hatte, aufzulösen. Ich hatte damals einen starken Wunsch nach professioneller psychologischer Hilfe, um mich erfolgreich gegen diese Ängste, Zweifel und das Gefühl des hilfslosen Verlassenseins wehren zu können. Nachdem ich erfuhr, dass es durchaus Erfolg versprechende Therapiemöglichkeiten gibt, habe ich alles daran gesetzt, mit Hilfe guter Therapeuten meine Sprechbehinderung Schritt für Schritt zu überwinden. Und ich habe vor allem auch im vergangenen Jahr noch einmal erleben dürfen, dass auch nach so langer Zeit noch Verbesserungen erreichbar sind.

Konnten Sie Ihre Therapie-fortschritte auch im Alltag umsetzen?

Das Wiedererlernte ins reale soziale Leben zu übernehmen – das war eine ungleich höhere Hürde. Ich musste feststellen, dass der Wiedereintritt ins gesellschaftliche Leben einen ständigen Kampf gegen ein feindliches Umfeld erforderte. Gegen dessen Kräfte musste ich mich andauernd wehren. Das war ein einsamer Kampf, das war permanenter Leistungsdruck und ständige Versagensangst. Die Umwelt steckt voller Unverständnis und Feindseligkeiten. Sie ist im Umgang mit Sprechgestörten völlig ungeübt und von Vorurteilen besetzt. Viele Menschen setzen Sprachverlust mit Hirnverlust und geistiger Einschränkung gleich.

Ich glaube, das Umsetzen der Therapiefortschritte im Alltag ist besonders schwer, weil man dazu nicht nur Lernmotivation braucht, sondern auch den festen Willen, sich zu stellen und zu kämpfen, um das verlorene Feld zurück zu gewinnen. Und weil man diesen Kampf allein führen muss. Man muss die dafür geeigneten Strategien allein erfinden und umsetzen. Hier fehlt es aus meiner Erfahrung an profunder psychologischer Beratung und Begleitung.

Können Sie einige Ihrer Strategien schildern?

Beispielsweise habe ich es lange Zeit absichtlich vermieden, in einen Supermarkt, zu gehen, wo ich leicht "wortlos" hätte einkaufen können. Stattdessen habe ich mich in Tante-Emma-Läden, Bäckereien oder beim Schlachter bewusst dem Druck ausgesetzt, das Sprechen zu erzwingen. Sehr oft nur, um schmerzlich zu erleben, dass ich den vorher eingeübten Satz: "zwei Brötchen bitte" im entscheidenden Moment nicht über die Lippen brachte. Um diesen Leistungsdruck ein wenig zu verringern und auch um mir die Frustration des wiederholten Versagens zu ersparen, bin ich dabei häufig in die Rolle eines Ausländers geschlüpft, der sich bemüht, deutsch zu sprechen. In diesen Situationen war die Angst zu versagen auf einmal verschwunden, weil die Menschen mich offenkundig als "normal" ansahen, eben als Fremden, der sich sympathisch anschickte, deutsch zu sprechen, und dem man sein ernsthaftes Bemühung an der verkrampften Mimik und der angestrengten Stimme glaubhaft ablesen konnte.

Überhaupt habe ich festgestellt, dass mir ein entspanntes Auftreten, eine gewisse Nonchalance, eine heitere Mimik und eine lebendige Prosodie manchmal geholfen haben, besser zu artikulieren. Außerdem scheint eine solche "Kosmetik des Sprechens" dem Umfeld den Eindruck zu vermitteln, dass der Sprechbehinderte im Grunde geistig normal ist und nur wieder sprechen lernen muss. Diese Wahrnehmung prägt aus meiner Erfahrung entscheidend das Verhalten des Umfelds: ein als geistig normal erlebter sprechapraktischer Zeitgenosse wird nämlich trotz seiner offenkundigen Behinderung als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft eingeordnet und mit dem gebotenen Respekt behandelt.

Ein Phänomen, das mir das Leben übrigens unnötig schwer gemacht hat, ist unsere ty1üpische deutsche Gesprächskultur. Dieses Nicht-Zuhören-Können, dieses unsägliche Den-Partner-nicht-ausreden-lassen ist allgegenwärtig und zieht sich tief in den Familien- und Freundeskreis hinein. Die Ohnmacht, Wut und Aggression, die das auslöst, können bis zur Entfremdung führen. Spontane Gesprächsteilnahme, Vermittlung oder Durchsetzung der eigenen Meinung sind ein echter Kampf und häufig nur unter der Androhung, die Gesprächsrunde zu verlassen, zu erreichen. Ganz schlimm ist der gut gemeinte Versuch zu helfen, indem man dem "Behinderten" das Wort aus dem Mund nimmt, um ihm zu ersparen, mit unvollkommenen verbalen Mitteln kommunizieren zu müssen.

Was waren Ihre Erfahrungen mit unserem Versorgungssystem für Schlaganfallpatienten?

Ich hatte das Glück, nach dem Schlaganfall sehr schnell auf eine Stroke-Unit zu kommen, wo ich gleich die bestmögliche professionelle Hilfe erhalten habe. Wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre.

In der Phase danach, als Lebensrettung und Folgeschadensbegrenzung kein Thema mehr waren, hatte ich jedoch das Gefühl, völlig auf mich allein gestellt zu sein und aus der Intensivversorgung in eine ungewisse therapeutische Zukunft abgeschoben zu werden. Nach ein paar Wochen Reha galt ich als austherapiert und war mir selbst überlassen. Meine Sprechapraxie hatte in diesem System nur noch einen geringen Stellenwert. Ich war auf mich allein gestellt, mich gezielt kundig zu machen, alles zu hinterfragen und selbst nach der besten verfügbaren Therapie zu suchen. Rückblickend denke ich, dass – abgesehen von einigen Ausnahmen – der überragende Wert, den die Sprechtherapie für meine Lebensqualität, aber auch für meinen weiteren Beitrag in der Gesellschaft hatte, nicht gesehen wurde.

Das Interview führte Prof. Dr. Wolfram Ziegler, München

Literatur

  • 01 Aichert I , Ziegler W . Therapie bei chronischer Sprechapraxie: Vorgehensweise am Beispiel eines Patienten mit reiner Sprechapraxie.  Forum Logopädie. 2010;  3 6-13

01 Die Ergebnisse einer 5-wöchigen Sprechapraxiebehandlung nach 9 Jahren chronischer Sprechapraxie sind in Aichert & Ziegler [1] beschrieben.

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