Gesundheitswesen 2011; 73 - A13
DOI: 10.1055/s-0031-1283448

Menschenversuche mit Insulin. Die Insulin-Koma-Therapie im Kontext von Eugenik, Euthanasie und wissenschaftlicher Profilierung am Beispiel der klinischen Psychiatrie in den baltischen Staaten der Zwischenkriegszeit 1920–1940

B Felder 1
  • 1Nordost-Institut Lüneburg, Lüneburg

Einleitung/Hintergrund: Die von Manfred Sakel 1933 entwickelte Insulin-Koma-Therapie sollte durch Schockzustände auf psychiatrische Patienten bzw. deren Krankheitssymptome einwirken. Es wurde ihnen Insulin verabreicht, das sie in ein künstliches Koma versetzte, aus dem sie nach einiger Zeit wieder zurückgeholt wurden. Schon damals war die Therapie umstritten, sowohl was den Erfolg als auch die Durchführung betraf. Es wurde nicht nur das Leben der Patienten riskiert, auch irreversibler Schäden waren möglich. Im Grunde war die Insulin-Koma-Therapie eine Form von Menschenversuchen. Daten und Methoden: Gleichwohl fand die Therapieform weltweite Verbreitung. In gewissem Gegensatz stand die Therapie zu den damals weit verbreiteten eugenischen Vorstellungen, die weniger die Heilung von psychisch Kranken als deren Ausschluss aus der Vererbungskette forderten. Der Vortrag zeigt am Beispiel baltischer Psychiater die Anwendung der Insulin-Koma-Therapie und deren wissenschaftliche Auswertung im Kontrast zu deren Beteiligung an eugenischen Projekten in Lettland und Estland – etwa der Durchführung von Zwangssterilisierungen – sowie deren teilweise Involvierung in die nationalsozialistischen Krankenmorde. Ergebnisse: Eugenische Vorstellungen und die Insulin-Koma-Therapie waren kein Gegensatz. Sowohl die Therapieform als auch eugenischer Denkstil waren unter baltischen Psychiatern weit verbreitet. Ein verbindendes Element war die inhumane Sichtweise der Patienten als „minderwertig„. Im Lichte des eugenischen Engagements erscheint die Anwendung der Menschenversuche als wissenschaftliche Profilierung. Aufgrund des negativen Menschenbildes kann kaum von „humanitärer„ Motivation ausgegangen werden. Diskussion/Schlussfolgerungen: Die Anwendung der Therapieform verweist auf eine medizinische bzw. wissenschaftliche Profilierungsstrategie. Die utilitaristische Legitimation erfolgte aus dem „wissenschaftlichen Fortschritt„ und lässt sich damit auf andere Formen von Menschenversuchen übertragen. Es lassen sich Bezüge zur Psychiatriepraxis des 19. Jahrhunderts mit ihrem inhumanen Menschenbild herstellen, so dass sich die Insulin-Koma-Therapie, ähnlich wie die früheren Schocktherapien mit Wasser und später mit Malariaerregern oder Kardiazol, eher als Folter bzw. gezielte Gewaltanwendung charakterisieren lässt, die Krankheiten – ohne deren ursächliche oder symptomatische Behandlung – aus dem Körper zu „zwingen„.

Literatur:

Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–46. Paderborn: Schöningh, 2009. Verners Kraulis, „Über die Behandlung der Schizophrenie mit protrahiertem Insulinchock,“ Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychatrie 166 (1939): 36–49. Therese Walther, Die „Insulin-Koma-Behandlung“ – Erfindung und Einführung des ersten modernen psychiatrischen Schockverfahrens. Berlin: Antipsychiatrieverlag, 2000.