Gesundheitswesen 2011; 73 - A14
DOI: 10.1055/s-0031-1283658

Menschenzüchtung? Der experimentelle Charakter der Eugenik der 1960er in Deutschland – „AG Geschichte der Sozialmedizin“

D Thomaschke 1
  • 1Universität Oldenburg, Hamburg

Auf dem CIBA-Symposium „Man and his future„ 1962 schlug der Nobelpreisträger und Humangenetiker Hermann J. Muller vor, die zukünftige Reproduktion der Menschheit vollständig Samenbänken zu überantworten, die gezielt das Erbgut herausragender Persönlichkeiten sammeln sollten. Unter deutschen Humangenetikern wurde Mullers Konzept über Jahrzehnte zum Exempel eines fehlgeleiteten Paradigmas der Menschenzüchtung stilisiert. Es galt als Blaupause eines umfassenden genetischen Menschenversuchs. Der Vortrag verfolgt die Leitfrage, weshalb das CIBA-Symposium für deutsche Experten in den 1960er Jahren zu einer willkommenen Abgrenzungsfolie wurde, vor dessen Hintergrund die eigenen eugenischen Vorstellungen propagiert wurden. Als Quellengrundlage dienen die Publikationen und Privatbriefe aus den Nachlässen führender Humangenetiker und Eugeniker dieser Zeit. Die Frage ist von besonderem Interesse, da zahlreiche Homologien im eugenischen Denken Mullers zu den Thesen deutscher Humangenetiker auffällig sind. Sie teilten die Diagnose einer biologischen Krise der modernen Gesellschaft, in der die Anzahl wünschenswerter Geburten zurückging, während sich die problematischen exponentiell erhöhten. Auch in Deutschland wurde daraus ein Handlungsimperativ für naturwissenschaftlich-medizinisch geschulte Experten abgeleitet, die ihre Zuständigkeit in Kontrolle und Pflege des Erbguts der jeweiligen Bevölkerung sahen. Der Hauptkritikpunkt an Mullers Konzept war die explizite Formulierung von förderungswürdigen, erblichen Eigenschaften. Die öffentlich inszenierte Opposition zu Mullers Menschzüchtung in Deutschland diente letztendlich dazu, die Gemeinsamkeiten zum eigenen eugenischen Experiment zu vertuschen. Auch die Forderungen der deutschen Humangenetik stellten einen umfassenden Versuch dar, die biologischen Grundlagen der Gesellschaft durch konzertierte Maßnahmen von Medizinern, Juristen und Politikern zu beeinflussen. Über individuelle Ansatzpunkte in der Bevölkerung sollte die Bewegungsmechanik des Genpools durch Genetische Beratung oder auch Sterilisation indirekt reguliert werden. Etwaige erbhygienische Erfolge – zuvor statistisch modelliert – sollten anschließend an den positiven Wirkungen im Gesundheitssystem abgelesen werden. Die biochemischen Grundlagen des menschlichen Erbgangs blieben hierbei weitgehend eine black box.