Gesundheitswesen 2013; 75 - A38
DOI: 10.1055/s-0033-1354029

Hochqualifizierte Menschen mit Behinderung als inländische Fachkräfteressource in Zeiten des demographischen Wandels? Ergebnisse einer Pilotstudie zur Partizipation hochqualifizierter Menschen mit Behinderung am Erwerbsleben

J Bauer 1, M Niehaus 1
  • 1Universität zu Köln, Köln

Hintergrund: Mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland dazu verpflichtet, auch in den Bereichen Bildung und Erwerbsarbeit Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken, sich deren volle und wirksame Teilhabe zum Ziel zu machen sowie Chancengleichheit und Barrierefreiheit zu sichern. Jedoch fehlen systematische Informationen zur Erwerbssituation hochqualifizierter Menschen mit Behinderung. Forschungsprojekte sind entweder sehr praxisorientiert, regional begrenzt oder beziehen sich auf niedrigqualifizierte Menschen mit Behinderung. Methodik: An dieser Forschungslücke setzt das vorliegende von Aktion Mensch geförderte Pilotprojekt an, das die Situation hochqualifizierter Menschen mit Behinderung am Übergang ins Erwerbsleben analysiert: Wie erfolgreich gelingt eine Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt? Welche Barrieren ergeben sich? Welche Perspektiven haben unterschiedlicher Akteure? Zur Beantwortung dieser Fragen werden verschiedene Informationsquellen integriert: Öffentliche Daten und Statistiken und (politische) Veröffentlichungen zum Fachkräftemangel liefern einen ersten „Blick von oben“ auf die Situation in Deutschland. Die Ergebnisse einer Zukunftswerkstatt (N = 20) und von Online-Experteninterviews (N = 74) mit relevanten Akteuren ergänzen diese Informationen um die „Sicht von unten“. Die Zukunftswerkstatt und die Experteninterviews haben zudem aktivierenden und handlungsorientierten Charakter. Ergebnisse: Es wird deutlich, dass bestehende Datensätze nicht ausreichen, um den Übergang hochqualifizierter Menschen mit Behinderung ins Erwerbsleben abzubilden. Unterschiedliche Definitionen von Behinderung (anerkannte Schwerbehinderung vs. weiter und interaktiver Behinderungsbegriff, wie er in der UN-Konvention verankert ist) stellen ein weiteres Problem dar. Daten zur Situation von Studierenden mit Beeinträchtigungen in Deutschland zeigen, dass eine bedeutsame Gruppe hochqualifizierter Menschen mit Behinderung existiert (ca. 8% alle Studierenden), dass der größte Teil dieser Studierenden jedoch „untypische Behinderungen“ (v.a. psychische [45%] und chronische Erkrankungen [20%]) aufweist und dass 94 Prozent aller Beeinträchtigungen für Dritte nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar sind. Aus Arbeitslosendaten der Bundesagentur für Arbeit geht hervor, dass während Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland insgesamt vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert haben, unter den schwerbehinderten Akademikerinnen und Akademikern die Arbeitslosigkeit sogar angestiegen ist. Zudem werden hochqualifizierte Menschen mit Behinderung in zentralen politischen Kampagnen zur Fachkräftesicherung als inländische Fachkräfteressource vernachlässigt. Die Ergebnisse von Zukunftswerkstatt und Experteninterviews geben Hinweise darauf, dass vor allem psychologische Barrieren, wie Ängste, Vorurteile und Stigmatisierung aufgrund von Unsicherheiten und fehlender Information eine Rolle spielen. Diskussion: Obwohl Deutschland bereits 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, ist die Forschungslage zu ihrer Umsetzung sehr dünn. Insbesondere hochqualifizierte Menschen mit Behinderung standen bislang nicht im Fokus öffentlicher Diskussionen oder systematischer Forschungsprojekte. Die Kombination aus Nichtsichtbarkeit der meisten Beeinträchtigung und dem hohen Anteil an Beeinträchtigungen, die von den meisten Menschen nicht als Behinderung kategorisiert werden, trägt sicherlich mit dazu bei, dass die Gruppe der hochqualifizierten Menschen mit Behinderung unterschätzt wird. Darum wird es zentral sein, dass die Gruppe hochqualifizierter Menschen mit Behinderung stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt und dass sich ein weiter Behinderungsbegriff im Sinne der UN-Konvention etabliert. Hier ist auch die Politik in der Verantwortung, um auf gesellschaftlicher Ebene die Leistungsfähigkeit dieser Zielgruppe herauszustellen, sodass potentielle Arbeitgeber nicht mehr auf der Grundlage von Wirtschaftlichkeitsrechnungen davor zurückschrecken, Menschen mit Behinderung einzustellen.