Gesundheitswesen 2013; 75 - A72
DOI: 10.1055/s-0033-1354056

Theorie und Praxis einer geschlechtergerechten gesundheitsförderlichen Organisationsentwicklung

N Pieck 1
  • 1Leibniz Universität Hannover, Hannover

Seit der Einführung des Gender Mainstreaming besteht für Akteure in Organisationen die Anforderung, alle Prozesse und Entscheidungen für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar zu machen. Oft gerät bei dem Versuch, Gender Mainstreaming umzusetzen, jedoch die Gleichstellung als Ziel der Strategie aus dem Blick. Eine fachlich angeleitete Aneignung und Übertragung der Strategie auf den Gegenstand der betrieblichen Gesundheitsförderung fehlt in der Regel. So bleibt oft unklar, welche Benachteiligungen im Rahmen betrieblicher Gesundheitsförderung überhaupt zu adressieren sind und worin eine geschlechtergerechte betriebliche Gesundheitsförderung bestehen könnte. Der Beitrag skizziert ein solches Konzept auf der Grundlage der Verknüpfung einschlägiger Erkenntnisse aus den Forschungsfeldern Arbeit, Gesundheit und Geschlecht. Diese Folie dient der Analyse von Fallstudien, in denen Gender Mainstreaming in der betrieblichen Gesundheitsförderung Anwendung fand. Der Beitrag geht der Frage nach, wie steuernde Akteure in Gesundheitsmanagement-Projekten Gender Mainstreaming konzeptualisieren und welche Bedeutung partizipative Vorgehensmodelle – und deren Realisierung – für eine geschlechtergerechte betriebliche Organisationsentwicklung haben. Ergebnisse der Studie zeigen, dass Gender Mainstreaming nicht systematisch umgesetzt wird. Es fehlt eine Aneignung einschlägiger Literatur und vorliegender Erkenntnisse aus der Geschlechterforschung und es dominiert ein dichotomisierendes und homogenisierendes Geschlechterwissen. In der wenig systematisch-konzeptionellen Vorgehensweise fehlt entsprechend eine auf Gleichstellung bezogene Definition von Zielen. Die durch die Strategie Gender Mainstreaming vorgegebene „Gleichstellungsverträglichkeitsprüfung“ findet nicht statt. Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie sexuelle Belästigung sind anerkannte, typische Belastungen von Frauen, die legitimer Weise bearbeitet werden dürfen. Beteiligungsorientierte Prozesse ermöglichen es, geschlechtstypische Konstellationen von Belastungen und Ressourcen in Beruf und Familie zu ermitteln und konstruktiv zu bearbeiten. Es zeigt sich, dass Frauen und Männer innerhalb der beteiligungsorientierten Prozesse ihre eigenen Interessen artikulieren und wirksamere Ansätze zur Verbesserung ihrer Situation entwickeln können. Partizipative Prozesse fokussieren die Beteiligten auf die Analyse von Situationen, Zuschreibungen an einzelne Personen oder Gruppen treten in den Hintergrund. Abweichungen vom Modell „gesundheitsförderlicher Organisationsentwicklung“ führen hingegen zu keiner bzw. nur zu einer fragmentarischen Bearbeitung von Belastungs- und Ressourcenkonstellationen in Beruf und Familie. Dies verweist auf die methodisch-konzeptionelle Gestaltung von Beteiligungsprozessen als einen eigenständigen Faktor für eine erfolgreiche Bearbeitung von Ressourcen- und Belastungskonstellationen. Für die Bearbeitung weitergehender Aspekte des Gender Mainstreaming (z.B. Entgeltgleichheit) reicht die Beteiligungsorientierung hingegen nicht aus. Hierfür ist die Aneignung eines spezifischen reflektierten Geschlechterwissens erforderlich sowie dessen spezifische Übersetzung in die Gestaltung von Lernprozesse der Organisation.