Gesundheitswesen 2013; 75 - A188
DOI: 10.1055/s-0033-1354147

Sozialmedizinische Begutachtung: Automatisierte Textanalyse von Mängeln in Gutachten bei Anträgen auf Erwerbsminderungsrente

J Gehrke 1, A Müller-Garrn 1
  • 1Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin

Hintergrund und Fragestellung: Medizinische Gutachten bilden im Antrags- und Leistungsfeststellungsverfahren der Deutschen Rentenversicherung die fachliche Grundlage zur Feststellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Sind die versicherungsrechtlichen und medizinischen (persönlichen) Voraussetzungen erfüllt, erhalten die Antragsteller Leistungen zur Teilhabe oder Rente wegen Erwerbsminderung. In der Regel sind Gutachten immer dann erforderlich, wenn die zur Verfügung stehenden Unterlagen, z.B. Befundberichte oder Reha-Entlassungsberichte, für eine sachgerechte Prüfung der medizinischen Voraussetzungen nicht ausreichen. Damit dieses Informationsdefizit in der notwendigen Weise ausgeglichen wird, sind diese Gutachten so zu erstellen, dass sie den Anforderungen der sozialmedizinischen Dienste in der Rentenversicherung entsprechen. Im Zusammenhang mit dem Aufbau eines Peer Review-Verfahrens zur Prüfung der Qualität von Gutachten bei Erwerbsminderungsrenten sollte daher die Frage untersucht werden, inwieweit Gutachten diese Anforderungen erfüllen bzw. welche formalen und inhaltlichen Mängel in Gutachten auftreten. Gleichzeitig sollte geprüft werden, welchen Nutzen die verwendete Methode zur inhaltsanalytischen Auswertung der Mängel für die Qualitätssicherung in den Häusern der Rentenversicherungsträger hat. Daten und Methodik: Insgesamt 260 Gutachten aus den Fachgebieten Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und Innere Medizin (Allgemeinmedizin) wurden von 19 Ärzten aus den Sozialmedizinischen Diensten der Rentenversicherungsträger, die über eine langjährige Begutachtungspraxis verfügen, geprüft. Die Gutachten waren anonymisiert und wurden im Rahmen eines Antrags auf Erwerbsminderungsrente erstellt. Die Bewertung der Gutachten erfolgte über einen standardisierten Fragenkatalog, der verschiedene Inhaltsdimensionen eines Gutachtens operationalisiert. Jede Frage war dahingehend zu beantworten, ob ein Mangel vorliegt (ja/nein). Beim Vorliegen eines Mangels war dieser zu graduieren (leichter Mangel, deutlicher Mangel, gravierender Mangel) und in Stichworten kurz und prägnant zu benennen. Für die Untersuchung der Fragestellung wurden die freitextlichen Begründungen der von den Ärzten festgestellten Mängel über eine linguistisch basierte, automatisierte Textanalyse mittels SPSS STAfS ausgewertet. Hierbei wurde in der Art des Data Minings der Mangel erfasst und kategorisiert. Ziel war es, Schlüsselbegriffe, Konzepte und typische Problemkonstellationen für Gutachtenmängel zu entwickeln. Ergebnisse: Über die in der Untersuchung realisierten Kombinationen aus Gutachten und Ärzten ergaben sich insgesamt 771 Bewertungen. Die Ergebnisse zeigen, dass die untersuchten Gutachten in der Mehrzahl den Anforderungen genügen. Auf der formalen Ebene wird häufig die geforderte Gliederung nicht eingehalten, wodurch das Navigieren im Gutachten erschwert ist. In der Kategorie sozialmedizinische Terminologie war die Verwendung veralteter oder falscher Begriffe auffällig, z.B. „vollschichtig“ statt „mehr als 6 Stunden“ oder „Wegefähigkeit“ statt „Gehstrecke“. Bei den für die Epikrise relevanten Befunden fehlen häufig entscheidende Angaben. So ist in manchen Gutachten nicht dargelegt, ob Befunde von anderen Ärzten zitiert werden oder es sich um Angaben des Antragsstellers handelt. Vereinzelt fehlen auch die Kernaussagen der aufgezählten Befunde, während andere Befunde im Gutachten mehrfach wiederholt werden. Diskussion und Fazit: Die in den Gutachten aufgetretenen Mängel lassen sich einem begrenzten Set von Kategorien zuordnen. Aus diesen Kategorien können wiederum Handlungsfelder für die Qualitätssicherung in den Sozialmedizinischen Diensten abgeleitet werden, beispielsweise die Darstellung der Befunde im Gutachten oder der Gebrauch sozialmedizinischer Begriffe. Hinsichtlich ihres Nutzens ist der Schluss zu ziehen, dass die durchgeführte Inhaltsanalyse der Mängel konkrete Rückmeldungen zu spezifischen Problemkonstellationen in Gutachten liefert, die über die sonst in anderen Qualitätssicherungsverfahren übliche quantitative Betrachtungsweise hinausgeht.