Gesundheitswesen 2014; 76 - V10
DOI: 10.1055/s-0034-1371563

Vor Euphorie wird gewarnt – kritische Bemerkungen zur integrierten Versorgung in der Psychiatrie am Beispiel des Modells der AOK Niedersachsen für Schizophrenie

H Elgeti 1
  • 1Dezernat für Soziale Infrastruktur (II.3), Region Hannover, Hannover

Der aus unterschiedlichen Motiven befürwortete Umbau des psychiatrischen Hilfesystems durch selektivvertragliche Regelungen gemäß §140a-d SGB V ist mit Risiken und Nebenwirkungen behaftet, die bei unvoreingenommener Urteilsbildung zu bedenken sind. Der Beitrag beschreibt den Kontext, der den viel kritisierten Selektivvertrag der AOK-Niedersachsen zur integrierten Versorgung für Schizophrenie ermöglichte, skizziert das Behandlungskonzept und stellt kritische Fragen zu Umsetzung und möglichen Folgen. Außerhalb befristeter und regional eingegrenzter Modellerprobungen ist von Selektivverträgen zur Qualitätsentwicklung in der Psychiatrie abzuraten. Sie dienen vor allem der Reduktion von Kosten und Realisierung von Profiten bei Krankenkassen, Investoren und Hilfeanbietern. Die angebotene Behandlung gilt nur für eingeschriebene Mitglieder und bindet diese an bestimmte Leistungserbringer, die durch zentral festgelegte Behandlungspfade eingeengt werden. In dem Selektivvertrag der AOK Niedersachsen mit der I3G profitieren beide Vertragspartner und die mit der Umsetzung beauftragten Dienste ökonomisch, wenn Versicherte die Diagnose Schizophrenie erhalten, mit bestimmten Mindestdosen Neuroleptika behandelt und von Klinikaufenthalten ferngehalten werden. Das „interne“ Netzwerk der Vertragspartner schwächt das regionale Netzwerk, weil es Parallelstrukturen schafft, Konkurrenz fördert und dazu neigt, Verbundstrukturen zu ignorieren oder zu manipulieren. Demgegenüber sind zur Stärkung von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des Hilfesystems auf Grundlage kollektivvertraglicher Regelungen Initiativen der Politik nötig. Vom Staat müssen klare Rahmensetzungen für solidarisch finanzierte, flächendeckend verfügbare bedarfsgerechte Hilfen kommen. Die Kommunen müssen ihre Verantwortungsträgerschaft für die soziale Daseinsfürsorge ernst nehmen und die Federführung bei Planung und Steuerung der Versorgung vor Ort übernehmen. Von den Leistungsträgern wären praktikable Lösungen für Kostenträger-übergreifende regionale Planungsbudgets zu fordern.