Gesundheitswesen 2014; 76 - A95
DOI: 10.1055/s-0034-1386945

Ungleichheit in der Verteilung von Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Abhängigkeit vom Komplexitätsgrad der aktuellen Tätigkeit

F Liebers 1, S Jankowiak 1, U Latza 1
  • 1Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin

Hintergrund: Der attributable Risikoanteil bezüglich Herz-Kreislauf-Mortalität durch arbeitsbedingte Risikofaktoren wird mit ca. 12% (Nurminen & Karjalainen 2001) beziffert. Als berufliche Risikofaktoren werden z.B. psychosoziale Belastungen, Schichtarbeit, Lärm und Passivrauchexposition diskutiert. Der Beruf und die Stellung in der Arbeitswelt sind Indikatoren für den sozioökonomischen Status sowie für komplexe berufliche Ressourcen (z.B. Anerkennung) und Arbeitsbelastungen (z.B. Zeitdruck). Erhöhte Prävalenzen klassischer kardiovaskulärer Risikofaktoren auch in Einzelberufen (z.B. bei Berufskraftfahrern) sind bekannt.

Ziel ist, die Ungleichheiten der Verteilung von klinischen, subklinischen sowie traditionellen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (HKE) bei aktuell Berufstätigen in Abhängigkeit des Komplexitätsgrades der Arbeit darzustellen.

Methodik: Studienbasis ist die Baseline-Erhebung einer großen populationsbasierten, prospektive und monozentrische Kohortenstudie in Deutschland (2007 bis 2012, n = 15.010 Probanden). Die Kohortenstudie untersucht HKE und andere Erkrankungen basierend auf Befragungen sowie Erfassung von Biomarkern. Selektiert wurden aus dem Gesamtkollektiv aktuell erwerbstätige Probanden im Alter von 35 bis 64 Jahren (4.484 Männer und 3.691 Frauen). Die aktuelle berufliche Tätigkeit wurde basierend auf Textangaben der Probanden manuell nach der Klassifikation der Berufe 2010 (KldB2010) 5stellig codiert. Verwendet wurde für die Auswertung u.a. das Komplexitätsniveau der beruflichen Tätigkeit (5. Stelle des KldB2010-Codes). Deskriptiv beschrieben werden altersadjustiert und geschlechtsspezifisch Unterschiede in den mittleren Ausprägungen bzw. den Prävalenzen ausgewählter Risikofaktoren für HKE (sozioökonomischer Status, Adipositas, Nikotin- und Alkoholkonsum, Präsenz von HKE, Blutdruck, funktionelle Parameter, Laborparameter) und beruflichen Faktoren (z.B. Nachtarbeit) stratifiziert nach Komplexitätsgrad der aktuellen Tätigkeit (4-stufig von gering bis hochkomplex).

Ergebnis: Das Komplexitätsniveau der aktuellen beruflichen Tätigkeit ist relativ eng korreliert mit dem sozioökonomischen Status nach Lampert & Kroll 2009. Die Ausprägung bzw. Prävalenz klassischer Risikofaktoren (Rauchen; vorbestehende HKE; Hypertonie; Adipositas; Risikoscores für HKE; Laborparameter wie Fibrinogen, hs-CRP, LDL, Triglyceride, Cholesterin) ist in Berufen mit geringem oder mittlerem Komplexitätsgrad tendenziell ungünstiger ausgeprägt als in Berufen mit komplexen oder hochkomplexen fachlichen Anforderungen. Ebenso werden Schichtarbeit, Nachtarbeit, Akkordarbeit sowie Lärmexposition häufiger als belastend angegeben.

Diskussion: Die Auswertung bestätigt die Häufung sowohl von klassischen als auch berufsbezogenen Risikofaktoren für HKE in Berufen mit geringer bis mittlerer Komplexität (Helfertätigkeiten, Facharbeiter).

Die auf das Setting Betrieb ausgerichteten Strategien zur Prävention sollten verstärkt auf Beschäftigte in beruflichen Tätigkeiten mit geringem bis mittlerem Komplexitätsniveau ausgerichtet werden. Zu beachten ist, dass diese Beschäftigten speziell im betrieblichen Setting über Präventionsangeboten gut erreicht werden können. Es ist auch zu diskutieren, inwieweit berufliche Aspekte in Präventionsempfehlungen allgemein stärker berücksichtigt werden sollten.

Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Aussagekraft des Indikators Komplexitätsgrads der beruflichen Tätigkeit im Längsschnitt als Prädiktor für inzidente Herz-Kreislauf-Ereignisse sowie in Hinblick auf die Verschlechterung der Ausprägung lebensstilbezogener Risikofaktoren sowie subklinischer Marker. Arbeitsmedizinisch bedeutsame Fragestellungen betreffen auch die Identifikation der zu Grunde liegenden berufsbezogenen Risikofaktoren. Die Dimensionen der KldB2010 und darunter das Komplexitätsniveau, die z.T. in Sekundärdaten erfasst werden, sind für epidemiologische Auswertungen generell geeignet und aussagekräftig. Die Parallelität des aus dem Berufscode direkt gewonnen Komplexitätsgrad der beruflichen Tätigkeit zum sozioökonomischen Status ist zu beachten und zu untersuchen, könnte aber z.B. in Sekundärdatenanalysen auch ausgenutzt werden.