Gesundheitswesen 2019; 81(08/09): 670-671
DOI: 10.1055/s-0039-1694374
Kongresstag 1: 16.09.2019
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Potenziale von Bourdieus Praxistheorie für die Erklärung sozialer Ungleichheit in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen

S Sperlich
1   Medizinische Soziologie, Hannover
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Publication Date:
23 August 2019 (online)

 

Aktuelle Studien belegen, dass soziale Unterschiede in der medizinischen Versorgung bestehen und vor allem Fachärzte und präventive Angebote verstärkt von Personen mit höherem sozioökonomischem Status in Anspruch genommen werden. Der folgende Beitrag beleuchtet Bourdieus Theorie der Praxis als einen möglichen Erklärungsansatz für die Beantwortung der Frage, warum sozial benachteiligte Menschen fachärztliche und präventive Angebote seltener und verzögert in Anspruch nehmen.

Im Mittelpunkt von Bourdieus Praxistheorie steht der Begriff des Habitus, der als psychische Disposition das Wahrnehmen, Denken und Empfinden und damit auch das Handeln strukturiert. Der Habitus wird im Zuge lebensgeschichtlicher Erfahrungen durch die Verinnerlichung objektiver Lebensbedingungen geformt, die vor allem durch das Ausmaß an ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital bestimmt werden. Der Habitus bringt Praxisformen hervor, die wiederum zur Reproduktion sozialer Strukturen beitragen. Der Habitus von Professionellen und Hilfesuchenden im Gesundheitswesen unterscheidet sich umso grundlegender, je größer die Unterschiede in den jeweiligen Lebensbedingungen und den erworbenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen sind. Im Lichte der Praxistheorie kann diese Distanz in den Lebenswelten, Denkweisen und Praxisformen von Arzt und Patient als Barriere der Inanspruchnahme bei sozial benachteiligten Menschen gedeutet werden. Von besonderer Bedeutung ist, dass im Rahmen der Arzt-Patient-Interaktion nicht nur gesundheitsbezogene Aspekte, sondern implizit viel grundsätzlicher die Lebensweise der Patienten und damit deren Identität zur Diskussion stehen. Im Beitrag werden diese Annahmen kritisch reflektiert und diskutiert, wie die subtilen Barrieren der Inanspruchnahme abgebaut werden können, um soziale Unterschiede in der Inanspruchnahme zu reduzieren.