RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-0045-1802256
„Nie wieder“ in Gesundheitsämtern: Demokratische Kontrolle durch medizinische Unabhängigkeit
Gegenwärtig gewinnen in Deutschland zwei gesellschaftliche Strömungen zunehmend an Bedeutung. Einerseits sind in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern menschenentwertende, autoritär-populistische Strömungen zu beobachten. Im Zentrum dieser Bewegungen stehen gruppenbezogene Anfeindungen, die sich beispielsweise gegen Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, sexueller Identität und Orientierung oder geographischer Herkunft richtet. Diese Entwicklung spiegelt sich in jüngsten Berichten und politischen Diskussionen über selektive Abschiebungs- und Deportationspläne wider, die unter dem Begriff „Remigration“ bekannt wurden. Gleichzeitig treten vermehrt politische Einflussnahmen auf fachliche Entscheidungen von WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen zutage. Es ist von entscheidender Bedeutung, aus der Historie zu lernen und sich auf zukünftige Auswirkungen dieser Entwicklungen vorzubereiten.
Derzeit sind die in den 383 Gesundheitsämtern tätigen Ärztinnen und Ärzte dienstrechtlich in der kommunalen Verwaltung verankert. Damit sind Ärztinnen und Ärzte dienstrechtlich unmittelbar abhängig von den Entscheidungen ihrer politischen Vorgesetzten. Dies ist der Fall, obwohl Gesundheitsämter auch als kommunale Behörden normativ nach dem Infektionsschutzgesetz als medizinische Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Universitätskliniken definiert sind. In der Konsequenz haben Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Entwicklung fachärztlicher Qualität, Transparenz in Aus- und Weiterbildung im Vergleich zur Ärzteschaft in Krankenhäusern, Krankenkassen und medizinische Einrichtungen in Körperschaften.Um diese organisatorischen Nachteile zu beheben, empfehlen wir, die Gesundheitsämter aus der kommunalen Verwaltungsstruktur herauszulösen und organisatorisch stärker an den ambulanten und stationären Sektor auszurichten. Naheliegend ist, Gesundheitsämter in Körperschaften des öffentlichen Rechts zu überführen. Damit bleiben Gesundheitsämter weiterhin der Staatsverwaltung verpflichtet, allerdings in einem anderem Distanzverhältnis. Hier hat das deutsche Gesundheitssystem tatsächlich auch lange Erfahrungen. So sind Krankenkassen, Krankenhäuser, Universitätskliniken (UK), der Medizinische Dienst (MD) der Länder, Akademie für öffentliches Gesundheitswesen (AöGW) oder die Landesärztekammern allesamt in Körperschaften organisiert. Interessant ist hierbei der Weg der Universitätskliniken: Vormals Teil der unmittelbaren öffentlichen Staatsverwaltung sind Universitätskliniken, begleitet durch die Empfehlungen durch den Wissenschaftsrat, vor 20 Jahren aus der öffentlichen Verwaltung erfolgreich in Körperschaften des öffentlichen Rechts gewechselt (Montgomery et al., 2013). Der MD folgte diesem Beispiel 2021 und wurde eine Körperschaft d.ö.R. Die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung muss in Deutschland unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung und Identität, Alter, dem Vorliegen chronischer Erkrankungen und Behinderungen, Religion, Hautfarbe oder Versicherungs- und Rechtsstatus jederzeit geschützt werden (Genfer Deklaration). An diesem ethischen Maßstab müssen sich die Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern in Deutschland angesichts ihrer historischen Verantwortung messen lassen. Eine ethische Krisenvorsorge der Gesundheitsämter ist angesichts der unheilvollen Vergangenheit, der ausgebliebenen Strukturreformen und der jüngsten politischen Entwicklungen dringend erforderlich.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
11. März 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany