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DOI: 10.1055/s-0045-1802284
ADHS in Deutschland: Vergleich und Integration von administrativen und epidemiologischen ADHS-Diagnosedaten durch klinisches Assessment – Ergebnisse aus dem Konsortialprojket INTEGRATE-ADHD
Zielsetzung: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gehört zu den häufigsten kinder- und jugendpsychischen Störungen. Bevölkerungsbezogene ADHS-Diagnosedaten für Kinder und Jugendliche in Deutschland sind einerseits Abrechnungsdaten gesetzlicher Krankenkassen, andererseits aus Elternbefragungen in der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts. Während administrative Diagnoseprävalenzen in der ersten Dekade des Jahrtausends stark anstiegen, blieben die in der KiGGS-Studie ermittelten Diagnosehäufigkeiten stabil oder waren rückläufig. Ob die Diagnosen leitliniengerecht gestellt wurden, ist für keine der Datenquellen bekannt. Im Rahmen des Data-Linkage-Projekts INTEGRATE-ADHD wurden administrative und epidemiologisch ermittelte ADHS-Diagnosedaten auf Personenebene miteinander verknüpft und mittels einer leitliniengerechten Diagnostik klinisch überprüft. Ziel war es, die verschiedenen Datenquellen zu integrieren, zu einer valideren Prävalenzschätzung der ADHS beizutragen sowie Erkenntnisse zur Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zu erhalten.
Methoden: 5.461 Eltern von im Jahr 2020 bei der bundesweit tätigen Krankenkasse DAK-Gesundheit versicherten Kinder und Jugendlichen im Alter von 0-17 Jahren, die in mindestens einem Quartal dieses Jahres eine als gesicherte administrative ADHS-Diagnose (ICD-10 F90.0-9, einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung) aufwiesen, wurden online unter anderem zur ADHS-Diagnose Ihres Kindes sowie zu Aspekten der Versorgung befragt. Eine Unterstichprobe von 202 Kindern und Jugendlichen wurde mit einer klinischen Diagnostik gemäß der AWMF-S3-Leitlinie ADHS untersucht, die pandemiebedingt online durchgeführt wurde. Die Auswertung der Daten erfolgte bi- und multivariat mittels deskriptiver Statistiken und binär-logistischer Regressionen.
Ergebnisse: 28,4% der Eltern berichtete die administrative ADHS-Diagnose ihres Kindes in der Befragung nicht. Die Berichtshäufigkeit war höher für Jungen, ältere Kinder, Kinder ohne Migrationshintergrund sowie bei Diagnosestellung im Rahmen eines psychiatrisch-psychologisch-psychotherapeutischen Versorgungsangebots. In der Online-Diagnostik konnte bei zwei Dritteln der Kinder und Jugendlichen eine aktuelle ADHS klinisch bestätigt werden (sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5). Mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit klinisch bestätigter ADHS-Diagnose wiesen auch eine elternberichte Diagnose auf, die Eltern jedes zehnten Kindes mit klinisch bestätigter Diagnose berichteten diese in der Befragung nicht. Für ein Sechstel der Kinder und Jugendlichen konnte die administrative Diagnose klinisch nicht bestätigt werden, aber die Eltern berichteten diese. Für jedes fünfte Kind konnte die Diagnose klinisch nicht bestätigt werden und die Eltern berichteten diese auch nicht. Kinder und Jugendliche ohne klinische ADHS-Diagnose wiesen zu einem hohen Prozentsatz eine andere psychische Störung auf. Prädiktoren der klinischen ADHS-Diagnose im multivariaten Regressionsmodell waren ein höherer ADHS-Schweregrad, geringere physische und psychische Lebensqualität, Verordnung von ADHS-Medikation und Einschränkungen durch die ADHS-Symptomatik.
Diskussion: Diskrepanzen zwischen administrativen und elternberichteten ADHS-Diagnosedaten konnten zumindest teilweise auf soziodemografische und versorgungsbezogene Faktoren zurückgeführt werden. Für die Beurteilung von Prävalenzdaten müssen deren Besonderheiten und Limitationen der jeweiligen Datenquellen beachtet werden. Die administrativen ADHS-Diagnosen decken sich zu einem bedeutsamen Anteil nicht mit den klinischen Diagnosen, was Fragen nach einer adäquaten Versorgung dieser Kinder aufwirft. Die Tatsache, dass die Berichtshäufigkeit der Diagnose in Abhängigkeit von der Inanspruchnahme fachspezifischer Versorgung schwankt, könnten auf das Erfordernis einer besseren Vernetzung von Leistungserbringenden in der Versorgung ADHS-betroffener Kinder und Jugendlicher verweisen.
Publication History
Article published online:
11 March 2025
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