Gesundheitswesen 2000; 62(7): 418-420
DOI: 10.1055/s-2000-12590
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Werden Kinder im Rahmen der Begutachtung zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit richtig eingestuft?

S. Lange, M. Albrecht, J. Damman, S. Saleeem, U. Wessel
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Es ist von den Autoren sehr verdienstvoll, sich dem schwierigen Thema Begutachtung von Kindern nach dem Pflegeversicherungsgesetz gewidmet zu haben, bietet dies doch gewisse Schwierigkeiten, da bei Kindern differenziert werden muss zwischen altersgemäßem Hilfebedarf und krankheitsbedingtem Mehrbedarf. Es erfordert demnach Kenntnisse der normalen kindlichen Entwicklung, um die Fragestellung des Artikels beantworten zu können.

In seiner Schlussfolgerung kommt der Artikel zu dem Ergebnis, Kinder würden aufgrund falscher Vorgaben der Begutachtungsrichtlinien falsch in die Pflegestufen gemäß SGB XI eingestuft. Diese Schlussfolgerung der Autoren beruht auf Missverständnissen.

Auch bei gesunden Kindern gibt es eine erhebliche Bandbreite, innerhalb derer eine Fähigkeit sich entwickelt. Wer mehr als ein gesundes eigenes Kind hat, wird erstaunt sein, wie unterschiedlich einzelne Entwicklungsschritte verlaufen können, ohne dass diese Unterschiede Krankheitswert haben müssen. Von einem Mehraufwand bei der Pflege eines Kindes kann man deshalb nur sprechen, wenn eine Verrichtung von einem Kind später erlernt wird, als es einer zu bestimmenden Normalverteilung entspricht. Die obere Grenze einer solchen Normalverteilungskurve wird in Bezug auf die einzelne Verrichtung sicher von den Mittelwerten der durchschnittlichen Kinder abweichen.

Die Autoren haben bei den Eltern gesunder Kinder retrospektiv erfragt, wann die eigenen Kinder bestimmte Fähigkeiten entwickelt hatten und daraus den Mittelwert gebildet. Wäre es nicht notwendig gewesen, die Bandbreite der Normalverteilung aus dieser Befragung darzustellen und die Grenze dieser Normalverteilung zu beschreiben? Oder ergaben sich bei allen Kindern tatsächlich bei sämtlichen Fragen identische Antworten?

Wenn man aus dem Durchschnittsalter, in dem gesunde Kinder eine Verrichtung erlernen, den Schluss zieht, dass alle Kinder, welche in ihrer Entwicklung langsamer als der Durchschnitt sind, einen Mehrbedarf aufweisen, so würde diese Sichtweise in der Konsequenz dazu führen, dass fast die Hälfte der gesunden Kinder pflegebedürftig im Sinne des SGB XI wären.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Mittelwert, welcher angibt, wann ein durchschnittlich gesundes Kind eine Fähigkeit entwickelt, für den beabsichtigten Zweck ungeeignet ist. Die Altersangaben der Richtlinien beziehen sich nicht auf die Durchschnittswerte, sondern geben an, ab wann es sich nicht mehr um eine normale Entwicklung innerhalb der Bandbreite der Normalverteilung handelt. Es ist also nur logisch und folgerichtig, dass die Grenze einer Normalverteilungskurve nicht mit deren Mittelwert zusammenfallen kann.

Ein weiterer wesentlicher Fehler ist den Autoren dadurch unterlaufen, dass offensichtlich nicht verstanden wurde, was mit den Begriffen des Gesetzes gemeint ist. So ist z. B. mit Gehen nicht die selbständige Fortbewegung auf den eigenen Beinen gemeint, sondern das zielgerichtete, zweckbestimmte Gehen. Es kann z. B. ein Patient mit M. Alzheimer, welcher voll mobil ist, dennoch Hilfe beim Gehen benötigen, weil er aufgrund seiner geistigen Defizite in der eigenen Wohnung nicht räumlich orientiert ist und nicht dorthin gelangen kann, wo die Verrichtungen des täglichen Lebens stattfinden.[1]

Dies gilt für Kinder entsprechend. Fragt man also Eltern danach, zu welchem Zeitpunkt ihre Kinder selbständig gehen konnten, erfährt man den Zeitpunkt, zu dem diese sich allein auf zwei Beinen fortbewegen konnten. Trotzdem benötigten sie zu dieser Zeit noch Hilfe beim Gehen, sie gehen eben nicht dahin, wohin sie sollen. Die für das zielgerichtete Gehen notwendige Einsicht entwickelt sich später als die motorische Fähigkeit. Das Kind kommt eben z. B. nicht selbständig und aus eigenem Antrieb rechtzeitig mit 18 Monaten aus der Badewanne, sondern will im Wasser weiter spielen. Entsprechendes gilt auch für andere Verrichtungen.

Zusammenfassend ergibt sich, dass die Autoren wegen fehlender Erfahrungen mit dem Pflegeversicherungsgesetz aus richtigen Beobachtungen unzutreffende Schlüsse ziehen.

Die Arbeit ist eine Bestätigung dafür, dass die Grundvoraussetzungen der Begutachtungsanleitung und Richtlinien zutreffend sind, Hinweise auf eine unzutreffende Begutachtung von Kindern lassen sich aus der genannten Arbeit nicht ableiten.

Dr. C. von Zastrow

Ottostraße 3

30519 Hannover

Literatur

  • 1 Arbeitsgruppe Kinderpflege .Feldversuch zur Pflegebedarfsfeststellung bei Kindern. Endfassung vom 15.5.1999. Redaktion Dr. Diener, MDK Baden Württemberg: 100
  • 2 BRi der Spitzenverbände der Pflegekassen vom 21.3.1997: 62. 
  • 3 BRi: 62. 
  • 4 Arbeitsgruppe Kinderpflege .Feldversuch zur Pflegebedarfsfeststellung bei Kindern. Endfassung vom 15.5.1999. Redaktion Dr. Diener, MDK Baden Württemberg: 4

Fußnoten

2 Das Gehen ist im Zusammenhang mit den gesetzlich definierten Verrichtungen zu werten. (Seite 51 der Richtlinien). Daraus folgt, dass die Fähigkeit die zweckgebundene Verrichtung meint.

Saskia Lange

Absolventin Studiengang Krankenpflegemanagement und sozialgerichtliche Sachverständige in Streitigkeiten der Pflegeversicherung

Meller Landstraße 27

49086 Osnabrück

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