Gesundheitswesen 2001; 63(10): 602-608
DOI: 10.1055/s-2001-17879
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Drehtürkarrieren als besonderes Problem der psychiatrischen Versorgung im ländlichen Raum - Ergebnisse aus einem Innovationsprojekt der AOK Niedersachsen

Revolving-Door Case Histories As A Special Problem in Psychiatric Care in Rural Regions - Results of an Innovative Project by Lower Saxony Statutory Health Insurance BodiesH. Melchinger
  • 1Medizinische Hochschule Hannover, Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
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Publication Date:
17 October 2001 (online)

Zusammenfassung

Vorgestellt wird ein Innovationsprojekt der AOK Niedersachsen, das auf die besonderen Gegebenheiten der psychiatrischen Versorgung in ländlichen Räumen ausgerichtet ist. Im Blickfeld des Projektes sind akutpsychiatrisch behandelte Patienten mit wiederholten stationären Behandlungsrezidiven. Auf Einzelfallempfehlung der Klinik werden von der AOK für Patienten personenzentrierte ambulante Hilfen bereitgestellt, die darauf abzielen, fortbestehende Beeinträchtigungen psychosozialer Kompetenzen abzubauen und stützende Potenziale im Lebensumfeld zu aktivieren. Die Hilfen, die unmittelbar nach Klinikentlassung einsetzen, werden von einem Casemanager der AOK gesteuert. Rechtsgrundlage für die Bereitstellung der Hilfe ist § 43 SGB V (ergänzende Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation).

Die Aktivitäten der AOK in diesem Feld werden neben dem Hinweis auf eine unzureichende sozialpsychiatrische Infrastruktur damit begründet, dass andere Hilfen wie ambulante Soziotherapie oder ambulante psychiatrische Krankenpflege für Patienten in ländlichen Räumen nur bedingt erschließbar sind.

Das ambulante Betreuungsangebot erweist sich als geeignetes Instrument, um die Wahrscheinlichkeit von stationär behandlungsbedürftigen Rezidiven zu minimieren und damit Behandlungskosten in erheblichem Umfang einzusparen.

Es liegt im System der Finanzierung von Krankenhausbetten, dass sich die durch rückfallpräventive ambulante Maßnahmen erreichten Einsparungen von Behandlungskosten zunächst nicht in einer Minderung der Gesamtausgaben der Krankenkasse für stationäre Leistungen niederschlagen können.

Es wird nachdrücklich empfohlen, das Angebot der ambulanten psychiatrischen Betreuung als Investition in die Zukunft über die Projektlaufzeit hinaus aufrechtzuerhalten und damit einer Erweiterung von stationären Behandlungskapazitäten entgegenzuwirken.

Abstract

Objective: We report on experiences from a programme of the AOK (Local Statutory Health Care Fund) in Lower Saxony adapted to mental health care reality in rural regions. The purpose of the programme is the prevention of rehospitalisation of chronically mental ill and socially handicapped patients. On the advice of hospital-based psychiatrists a case manager of the AOK immediately organises outpatient interventions for patients after discharge from clinical treatment. Primary goals are to reduce psychosocial deficits and to activate supporting potentials in the social environment of the patients in respect of long-term stabilisation.

Results: Outpatient interventions have proved to be an efficient instrument to reduce rehospitalisation rates; they enable patients to experience more quality of life and they are of considerable importance in reducing costs for individual treatments.

Discussion: If we consider the systematics of hospital bed financing, the reduction of individual treatment costs does not imply reduction of AOK total payments for clinical treatment of mentally ill on a short-term basis. Hence, maintenance of this kind of outpatient treatment is strongly recommended.

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1 vom Bestehen der Klinik im Jahr 1980 an gerechnet

2 Die Projektregion umfasst die Landkreise/kreisfreien Städte Aurich, Emden, Friesland, Leer, Wilhelmshaven und Wittmund. Eingebunden sind die Psychiatrischen Klinken in Emden, Norden und Wilhelmshaven sowie das Landeskrankenhaus Wehnen/Oldenburg.

3 Gleichzeitig werden im Projekt Anstrengungen unternommen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflegedienste für bestimmte Aufgaben zu qualifizieren. Dabei wird natürlich nicht erwartet, dass durch Maßnahmen der Weiterbildung/Supervision eine Qualifikation erreicht werden kann, die etwa dem Abschluss einer sozialpsychiatrischen Zusatzausbildung entspricht, wie sie von der Medizinischen Hochschule Hannover oder von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie angeboten wird. Auf dem Kontinuum der Qualifikation, das von sozialpsychiatrisch ausgebildeten Fachkräften bis zur Laienhilfe reicht, wie sie im Konzept der Familienhilfe (Betreuung von psychisch Kranken in Familien) realisiert wird, sind auch Zwischenstufen erforderlich, um eine bedarfsgerechte ambulante Versorgung gewährleisten zu können.  

4 Der Leistungsumfang entspricht damit etwa dem für die ambulante Soziotherapie nach § 37 a SGB V vorgesehenen Umfang.

5 Vorgestellt werden nur Veränderungen von mindestens 20 Prozentpunkten.

Dr. Heiner Melchinger

Medizinische Hochschule Hannover
Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie

30623 Hannover

Email: melchinger.heiner@mh-hannover.de

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