Gesundheitswesen 2003; 65(5): 288-294
DOI: 10.1055/s-2003-39547
Akademische Gedenkfeier
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Reflexionen über den akademischen Lehrer, Forscher und Wegbereiter einer Soziophysiologie

Reflections on the Academic Teacher, Researcher and Pioneer for SociophysiologyG. Stock1
  • 1Schering AG, Berlin
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Publication Date:
28 May 2003 (online)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wer immer es versuchen wird, sich Hans Schaefer zu nähern, wird nicht umhin können, sich ihn vorzustellen, wie er bei solch einem Versuch mit einem einerseits milden, andererseits leicht spöttischen - eher amüsierten als kritischen - Lächeln dieses Unterfangen begleitet.

Es gibt sicher verschiedene Möglichkeiten und es hat auch bereits, wie ich gesehen habe, verschiedene Versuche gegeben, sich Hans Schaefer zu nähern, entweder über die Deutsche Liga für das Kind, über die Sozialmedizin oder sein Interesse, vermittelnd den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie zu beginnen und zu begleiten. Ja, man kann es auch versuchen, indem man seinen letzten physiologischen Vortrag studiert, den er anlässlich des Symposiums „Central organisation of the autonomic nervous system”, organisiert von Prof. Seller, 1980 in Heidelberg gehalten hat.

Man kann allerdings auch den biographischen Weg wählen, indem man versucht, das eigene Erleben der Persönlichkeit Hans Schaefer, die eigenen Erfahrungen mit ihm zu spiegeln im Lichte dessen, wie er selbst sein Leben, und das ist seine Arbeit, definiert hat.

Die letztgenannte Methode hat naturgemäß die meisten Fallstricke, weil beide verwendeten Quellen subjektiv sind und es wahrlich keine Garantie dafür gibt, dass aus zwei subjektiven Sichten eine einigermaßen objektive Schilderung der Persönlichkeit von Hans Schaefer entstehen kann, eine Persönlichkeit, die sich und die ich als akademischen Lehrer und als Gelehrten, nicht so sehr als Forscher, schon gar nicht als Forschenden im experimentellen Sinn, über die längste Zeit seines Lebens begriffen hat.

Prof. Hans Schaefer hat es denen, die über ihn zu sprechen hatten, in vielen Fällen schwer gemacht. Er hat es aber in einem Punkt leicht gemacht, indem er 1986 im Verlag für Medizin Dr. Ewald Fischer ein biographisches Buch herausgebracht hat: „Erkenntnisse und Bekenntnisse eines Wissenschaftlers”. Eine Biographie, die es uns erlaubt, aus dem Gesagten heraus vieles an ihm zu erklären, die es aber auch zulässt, aus dem Nichtgesagten möglicherweise ebensoviel zu erklären.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Das wirklich Erstaunliche an diesem biographischen Buch ist die Vielfalt der Themen, mit denen sich Hans Schaefer sehr ausführlich beschäftigt hat. Überraschend deutlich an diesem Buch ist, wie sehr Hans Schaefer die Physiologie als Basis, ja geradezu als Legitimation für seine Argumentation und für sein Handeln gebraucht hat, und wie wenig er Physiologie im engeren Sinn während seiner entscheidenden Jahre als Lehrstuhlinhaber für Physiologie in Heidelberg wirklich betrieben hat. Und die komplette Verblüffung ist für mich die Tatsache, dass dieses Institut, welches ich selbst erst nach 1965 als Doktorand kennen lernte und dem Hans Schaefer schon damals seit 15 Jahren vorstand, dass dieses Institut in diesen Memoiren praktisch überhaupt nicht vorkommt. Als Quelle der Inspiration, als Quelle des Wissens, als Ort der geistigen Auseinandersetzung existiert dieses „unser” Institut nicht in den Memoiren.

Aber hier ist vielleicht bereits einer der Fallstricke gespannt, von denen ich sprach. Mein Erleben dieses Instituts, all die Dinge, die für mich Physiologisches Institut in Heidelberg waren und gedanklich immer noch sind, all die Namen, all die Auseinandersetzungen haben für mich naturgemäß einen anderen Kontext, Erlebnis- und Stellenwert, als sie es für Hans Schaefer hatten oder haben sollten.

Lassen Sie mich zunächst den akademischen Lehrer ansprechen: Alles, was Hans Schaefer in seiner Biographie über sich als akademischen Lehrer schreibt, kenne ich und kann ich bestätigen. Ich selbst habe ihn ja kennen gelernt, als ich im ersten Semester Physiologie hörte. Es war im großen Hörsaal in der Akademiestraße im Hinterhaus, dort, wo Prof. Kutscher ein physiologisch-chemisches Institut in geradezu barocker Weise vertrat. Prof. Hans Schaefer, mit seiner strengen Brille im weißen, hochgeknöpften Mantel, begleitet von dem Vorlesungsassistenten Hoffmann, ließ es sich nicht nehmen, die ersten Stunden Einführung in die Physiologie zu geben. Ich weiß es noch wie heute, er begann mit der Beschreibung dessen, was wir als Leben bezeichnen, um relativ bald auf allgemeine Betrachtungen über die allumfassende Wissenschaft der Physiologie zu sprechen zu kommen, die einstmals die zentralen Bereiche dessen, was wir heute Vorklinik nennen, erfasste, insbesondere natürlich die physiologische Chemie.

Nun, ich gebe zu, dass ich nach einiger Zeit eine gewisse Verwirrung über den Gegenstand der Physiologie im engeren Sinn entwickelte, gleichzeitig aber spürte, dass der exzellente Rhetoriker Hans Schaefer gar nicht den Anspruch hatte, uns das Lehrbuchwissen so zu erklären, dass wir die kurz danach aufkommenden Multiple-Choice-Fragen auch adäquat beantworten konnten. Wer seine Vorlesungen hören wollte, hatte entweder das sehr praktische Motiv, von ihm in der mündlichen Prüfung wiedererkannt zu werden, oder aber, und ich glaube, das war die Mehrzahl, wollte lernen und hören, in wie viele Themen Physiologie in der Tat hineinreicht. Geradezu aufregend wurde die Sache immer dann, wenn Prof. Schaefer uns ganz junge Studenten teilhaben ließ an seinem reichen geistigen Leben. Seine Exkurse über Wissenschaftspolitik, seine spannenden Schilderungen über die Diskussionen in der Paulus-Gesellschaft, seine sehr ernsthaften Versuche, sozialmedizinisches Denken ganz früh in uns zu verankern - all dies waren Momente, die mir einen Horizont zeigten, der für mich zum ersten Mal den Begriff der Universität fassbar machte und der mir zugleich den großen Aktionsradius aufzeigte, den ein Universitätslehrer zu gestalten im Stande ist. Aber ich spürte auch sehr früh, dass er ganz offensichtlich auch die Freiheit dazu hat.

Durch den akademischen Lehrer Hans Schaefer habe ich begriffen, wie groß dimensioniert und wie umfassend eigentlich die Aufgaben der Universität - wenn richtig verstanden - sein können, ja geradezu sein müssen. Und wenn ich heute noch in meinem eigenen wissenschaftspolitischen Tun die Universität als Rückgrat jeder wissenschaftlichen, jeder wissenschaftspolitischen Aktivität begreife, wenn ich heute Universität als idealen Ort für den immer drängender und dringlicher werdenden interdisziplinären Dialog begreife, so liegen die Wurzeln sicherlich gerade auch bei Hans Schaefer, in seinen ersten Vorlesungsstunden, in denen er mir ganz persönlich die Augen öffnete für das, was Universität sein kann.

Gleichwohl, im Grunde bin ich nicht durch Hans Schaefer zum Physiologen geworden, sondern es war eigentlich einer seiner Schüler, Prof. Baust, der mich mit seiner Vorlesung über Hirnstammphysiologie, Hypothalamus, für das engere Gebiet der Physiologie fasziniert und interessiert hat, so dass es im Anschluss an diese Vorlesungen für mich nichts Wichtigeres gab, als aus dem Hörsaal in das Labor zu kommen, um selbst Experimente solcher Art zu machen. Und da die Arbeiten ja unter der Anleitung von Hans Schaefer stattfanden - Prof. Baust hatte mittlerweile das Institut verlassen -, konnten die Fragen, die experimentell zu lösen waren, auch gar nicht groß genug gestellt sein.

Und damit komme ich auch schon zum wissenschaftlichen Lehrer, der er für mich als letztem seiner Assistenten war.

Heute, zurückblickend, kann ich wohl sagen, dass ich sehr lange Zeit gebraucht habe, um zu erkennen, dass die großen und wichtigen und richtigen Fragen, die uns damals Hans Schaefer im Labor zur Lösung aufgegeben hatte, nur dann Aussicht hatten, partiell beantwortet zu werden, wenn es uns gelang, die Fragestellungen in so kleine Portionen zu zerlegen, dass die Aussicht auf eine Beantwortung realistisch wurde.

Ich erinnere mich an viele abendliche Gespräche in seinem halbdunklen Zimmer, in denen wir über meine experimentelle Arbeit diskutiert haben. Der Kontext, in dem die Experimente standen, war immer ein wichtiges Anliegen, nie die Durchführung im Detail. Aber dazu war er möglicherweise schon zu lange nicht mehr selbst im Labor aktiv. Er hatte eine große Freude daran, einzelne Befunde in einen großen Zusammenhang zu stellen. Für einen jungen Doktoranden war dies vielleicht in der gegebenen Situation keine gute Schule, denn wer in diesem Alter keine Präzision beim Experimentieren entwickelte, lernte es, wenn er nicht aufpasste, möglicherweise nie. Diesen Teil musste ich mir selbst erarbeiten. Anfangs durch Besuche, die ich bei den Kollegen in den anderen Laboratorien des Physiologischen Instituts gemacht habe, später als Postdoc bei Arvid Carlsson, der kürzlich den Nobelpreis für seine Arbeiten über Dopamin (DA) erhielt.

Was ich allerdings von Hans Schaefer gelernt habe, sind Dinge, die für mein späteres berufliches Leben von außerordentlicher Bedeutung waren und immer noch sind, nämlich die Fähigkeit zu entwickeln, Einzelbefunde in einen größeren Rahmen zu stellen und den Einzelbefund immer als Teil einer größeren Wirkungskette zu sehen. Eine Fähigkeit, von der ich glaube, dass sie gerade heute - mit den Möglichkeiten der molekularen Medizin - wichtiger denn je ist und die, so fürchte ich, nicht, jedenfalls nicht mehr als früher, gelehrt wird.

Und wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke, in der ich unmittelbar mit Hans Schaefer zusammengearbeitet habe, ist dies ein Blick zurück in Dankbarkeit und großem Respekt. Und es ist richtig, ich habe sein methodisches Desinteresse nie als etwas Störendes oder Unrichtiges empfunden, im Gegenteil, ich habe die Freiheit und die damit verbundene Verpflichtung, sich entsprechend selbst umzuschauen, als etwas völlig Richtiges akzeptiert. So stellte ich mir schließlich Universität vor, nämlich, Freiheit, sich auch schon früh entfalten zu können, möglicherweise ein immer noch modernes Programm für Universitäten.

Erst beim Lesen der Selbstbiographie ist mir dieser merkwürdige Widerspruch aufgegangen, denn schließlich hatte Hans Schaefer als Methodiker begonnen. Immerhin war er es, der die Methode, elektrische Biosignale mithilfe eines Kathodenstrahloszillographen zu messen, in die deutsche und europäische Physiologie eingeführt hat, eine wissenschaftliche Glanzleistung, die 1938 mit seinem Buch „Elektrophysiologie” umfassend dargestellt wurde. Er schreibt in seinen Memoiren - und das ist Schaefersche Ehrlichkeit, Understatement, Spott und Übermut zugleich: „Man brauchte damals nur irgendeinem erregbaren Organ zwei Elektroden aufzulegen und diese zu einem Verstärker zu leiten, und eine wissenschaftliche Arbeit war fertig.”

Wie leicht sich dieses anhört, und wie leichthin es an dieser Stelle in seinen Memoiren hingesagt wird. Wie schwer wiegt es dann aber, wenn Hans Schaefer an anderer Stelle in seinen Memoiren über seine Entdeckung und Erstbeschreibung des Endplattenpotenzials schreibt und dann doch sehr bedauert, dass Katz, der auf seinen Arbeiten aufbaute und den Nobelpreis erhielt, ihn mit keinem Wort in seinen eigenen Publikationen erwähnte. Es bleibt dabei, er - Hans Schaefer - war es gewesen, der dieses wichtige elektrische Signal am Übergang zwischen Nerv und Muskulatur als Erster gesehen und beschrieben hatte, aber es waren die Arbeiten von Kuffler und von Katz, die der Beobachtung einen biologischen Sinn, eine funktionelle Deutung gaben. Und damit ist auch ein zweites großes wissenschaftliches Ergebnis des Forschers, des Wissenschaftlers Schaefer beschrieben.

Hans Schaefer eilt weiter. Die für ihn wohl wichtigste wissenschaftliche Tätigkeit, jedenfalls wichtig in dem Sinne, dass es ihn am stärksten in die Nähe der praktischen Medizin geführt hat, war seine Beschäftigung mit dem Elektrokardiogramm und seine auch heute noch gültige Erklärung, was im Elektrokardiogramm an biophysikalischen Phänomenen zu sehen ist und wie sie am plausibelsten zu erklären sind.

Wenn man die Biografie von Hans Schaefer, insbesondere das Kapitel „Das Elektrokardiogramm” sorgfältig liest, glaubt man erkennen zu können, dass die Erfahrungen, die er mit der von ihm entwickelten und publizierten Theorie in der Diskussion, in seiner Auseinandersetzung mit den praktisch tätigen Medizinern hatte, maßgeblich seine Haltung auch zur Medizin und zu seinen medizinischen Kollegen beeinflusst haben wird. Und in der Tat, in dem Kapitel „Was folgt aus der EKG-Geschichte” schreibt er ganz deutlich und präzise über seine Enttäuschung, über die mangelnde oder besser: nicht vorhandene Rezeption seiner Arbeiten zum EKG durch die deutschen Internisten. Ich zitiere: „. . . dass der erste Kongress der deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung 1978, der nach 26 Jahren wieder das Thema EKG aufnahm, stattfand, ohne dass man mich einlud”. Wenige Sätze später kommt, was möglicherweise vieles erklärt. Er setzt sich nämlich mit der Frage auseinander, warum er wohl so wenig Anerkennung bei seinen wissenschaftlichen Zeitgenossen gefunden hat. Und er sagt von sich selbst: „Zunächst war ich zu flatterhaft, und das heißt in der Tat, dass mein Interesse von Blume zu Blume im Garten der wissenschaftlichen Problematik geflattert ist, unstet wie ein Schmetterling. Die Palme wird in der Wissenschaft aber dem gereicht, der mit der ganzen Ernsthaftigkeit der Ausschließlichkeit sich einem einzigen Problem und seiner Lösung hingibt. Nur so lassen sich auch wirklich bedeutende Erfolge erzielen, welche dann den Platz in der Walhalla des Geistes sichern.”

Ich denke, hier ist etwas Fundamentales ausgedrückt worden. Die Verdienste, die sich Hans Schaefer mit der Einführung der Kathodenstrahloszillographie für die Elektrophysiologie und die daraus entstehende Biophysik erworben hat, hätten im Prinzip ausgereicht, ihm langjährige Ehrungen zu sichern. Seine Arbeiten zur elektrischen Übertragung neuronaler Signale auf den Muskel, auch diese elementar wichtige Entdeckung - weiter verfolgt und besser erklärt - hätte ihm großen und langdauernden Ruhm eingebracht. Und schließlich seine Beschäftigung mit dem Elektrokardiogramm und die theoretische Durchdringung dessen, was das EKG zu leisten vermag, aber vor allem was es auch nicht zu leisten vermag - auch dies hätte für sich genommen noch einmal für ein Forscherleben in Ehre ausreichen können, besser: für ein Forscherleben mit den von ihm schmerzlich vermissten Ehrungen.

Möglicherweise trifft auf Hans Schaefer zu, was Voltaire einmal gesagt hat: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.”

Vielleicht war es genau dies, dass er den Verpflichtungscharakter, der sich aus jeder einzelnen seiner großen Entdeckungen heraus ergeben hat, die Verpflichtung, mit dem Begonnenen fortzufahren, das Begonnene zu einem signifikanten Ende oder Zwischenschritt zu bringen, nicht ausreichend wahrgenommen hat, vielleicht war es das, was ihm die Zuneigung seiner akademischen Fachkollegen, die er ja letztlich gesucht hat, vorenthielt, eine Zuneigung, die er wegen seiner unbestreitbar großen Leistungen verdient hätte, letztlich aber nicht erhalten hat.

Ich kehre noch einmal zurück zum Text von Hans Schaefer und zitiere: „Meine Flatterhaftigkeit war nun niemals ein Mangel an Ernsthaftigkeit. Sie entsprang vielmehr einer tiefen, nach wie vor vertretenen Überzeugung, dass ein Leben nur für die Wissenschaft nicht eigentlich lebenswert ist. Die Menschheit geht nicht zugrunde, weil zu wenig geforscht wurde, sondern weil ihre ‚menschlichen Werte‘ im Taumel des wissenschaftlichen Fortschritts vergessen werden.” Das war wohl seine tiefste Überzeugung. Das war, wonach er gelebt hat. Das war und ist möglicherweise auch das, was die Wissenschaftler, die vorwiegend und ausschließlich Forscher sind und Forscher sein wollen, als Kritik empfinden mögen. Ich verstehe das so: Hans Schaefer wollte kein Forscher sein. Hans Schaefer wollte Gelehrter sein und - ganz wichtig - in den wesentlichen Teilen seiner Biographie beschreibt er sich auch immer als Gelehrten und nicht als Forscher.

Und damit komme ich zur dritten Dimension dessen, was Hans Schaefer wollte und was ihn bewegte: Er hatte nichts Geringeres versucht, als ausgehend von der Physiologie eine geschlossene anthropologische Theorie zu entwickeln. So beschreibt er es selbst. Der Traum eines Physiologen, dass die Handlungen des Menschen erklärbar sein müssten, wenn man nur alle Kenntnisse über zentralnervöse Prozesse sorgsam zusammenträgt und sie in einer geschlossenen Theorie „einfängt”. Von dieser Idee, von diesem Traum, wie er es selbst nennt, erklärt sich für mich vieles, was der Gelehrte Hans Schaefer mit seiner Physiologie, basierend auf seiner Existenz als Physiologe, im Wesentlichen außerhalb der Physiologie getan hat. Er selbst macht in seinem Bilanzversuch deutlich, wie er sich sieht. Er spricht von 26 Jahren Institutsleitung in Heidelberg, blickt aber auf eine 60-jährige Existenz in der Medizin zurück. Die Physiologie war ihm Disziplin, Methode, Grundgerüst, der Mensch in seinem Leid, die Medizin in ihrer Unvollkommenheit war es, die ihn bewegte.

Hinzu kam eine, wie er es selbst schreibt, nach dem Krieg einsetzende Skepsis. Ich zitiere: „. . . dass die experimentelle Naturwissenschaft nicht im Stande sein wird, die existenziellen Probleme der Menschheit zu lösen. Was sie kann, ist die Verbesserung von Technik, und hier hat die Wissenschaft auch in der Medizin einige Triumphe gefeiert.”

Diese beiden Grundüberzeugungen, möglicherweise gepaart mit der Einsicht, dass ihm nach dem Krieg der große Durchbruch in der physiologischen Wissenschaft nicht gelingen würde, haben wohl zu einer großen Umorientierung im Denken von Hans Schaefer geführt. Auch seine Tätigkeit im wissenschaftspolitischen Umfeld war nicht frei von Rückschlägen, von Enttäuschungen und schließlich von Resignation. Es begann schon unmittelbar nach Ende des Krieges, als in Bad Nauheim Vorverhandlungen zur Gründung einer Forschungsgemeinschaft stattfanden und auch nachdem er an der Gründung der Max-Planck-Gesellschaft aus Bad Nauheim heraus mitwirkte, danach aber nicht weiter eingebunden wurde.

Ich darf wieder zitieren, weil es so viel über den Menschen Hans Schaefer aussagt: „Die damals gestellten Weichen haben mich für meine ganze spätere Laufbahn auf ein Gleis fahren lassen, das immer neben den wissenschaftspolitischen Mächten verlief und nie in den großen Verschiebebahnhof der offiziellen Manager einbezogen wurde.” Aber wie immer, Hans Schaefer gewinnt auch dem noch etwas Positives ab, und er sagt: „Dieses Schicksal brachte zwei bescheidene Chancen mit sich, ich habe wenig Zeit durch politisches Management verloren, und ich konnte der Wissenschaftspolitik meines Landes immer kritisch gegenüberstehen. Ich habe mich nie mit ihr identifizieren müssen.” Was für ein Satz, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Noch einmal mischt sich Hans Schaefer in Wissenschaftspolitik ein, als er und der Internist Prof. Schön 1953, unterstützt durch die Rockefeller-Stiftung, eine Studienreise durch die USA machen, um nach Möglichkeiten zu suchen, etwas für das deutsche System zu lernen. Er entscheidet sich - so wörtlich: „Das Studium der guten medizinischen Fakultäten scheint wichtiger als der Besuch bedeutender Physiologen.”

Das Ergebnis der Reise ist eine Schrift zur Reformierung des Medizinstudiums. Eine Reformkommission wird gegründet, aber nach zwei Jahren aufgelöst, da die deutschen Universitäten, insbesondere die medizinischen Fakultäten nicht - Zitat: „amerikanisiert werden wollten”. Mit unserem heutigen Wissen und Leiden am System kann man nur sagen: Hätten wir mal besser auf den alten Schaefer gehört!

An anderer Stelle seines biographischen Textes schreibt er, „. . . dass ich selbst aus dem schmählichen Ende der offiziellen Studienreform der Medizin, das mich aus einer verantwortlichen Stellung ins Nichts zurückwarf, in tiefer Resignation hervorging. Diese Resignation wurde, wenn es überhaupt noch möglich war, vertieft durch die Tatsache, dass die Gewaltigen des deutschen universitären Bildungswesens den Wissenschaftsrat gründeten, ich aber bei seiner Konstituierung übergangen wurde.”

Dies war die letzte Aktion, der letzte Versuch, mit der sich Hans Schaefer wissenschaftspolitisch in engerem Sinn für den akademischen Bereich einsetzte. Alles, was danach kam, so z. B. seine Rolle im Bundesgesundheitsrat, dem er von 1968 - lange Zeit als Sprecher - bis zum Jahre 1979 angehörte, waren Aktivitäten im Rahmen der Gesundheitspolitik, eine Tätigkeit, mit der er auch einen Großteil seiner Vorstellungen über Medizin teilweise durchsetzen konnte und - was die Sozialmedizin anbelangte - auch zu einem guten Teil durchsetzte.

Seine Skepsis gegenüber der technologisch begründeten Medizin, der lediglich somatisch begründeten Medizin, kumuliert in seinem Wunsch, das soziale Umfeld und dessen Einfluss auf Psyche und körperliche Befindlichkeit bei der Krankheitsentstehung wissenschaftlich zu fundieren und mit der Gründung des Faches Sozialmedizin institutionell abzusichern.

Darüber hinaus waren Rehabilitation und Prävention zentrale Elemente seines medizinischen Denkens; insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dort der Herzinfarkt standen im Zentrum dieses Interesses. Seine These war und ist in wesentlichen Bereichen fast ausschließlich gegründet auf seiner Überzeugung, dass das sympathische Nervensystem durch entsprechende Reize der Umwelt eine zentrale Rolle spielen würde. Er ging zeitweise so weit, dass er Forschungen um den - mittlerweile segensreichen - Kalziumantagonisten als praktisch nutzlose Forschung betrachtete. Die Gedankenwelt von Selye, Willi Raab sowie des amerikanischen Physiologen Henry stehen an der Wegstrecke Schaeferschen Denkens, wonach durch emotionalen Stress schließlich Krankheiten entstehen. Oder, um Hans Schaefer direkt zu zitieren mit seiner eigenen These: „Dass man durch psychosozialen Stress herzkrank wird”, übrigens einer seiner Buchtitel.

Der Versuch einer wissenschaftlichen Fundierung dafür, dass emotionale Reize in der Tat krankheitsauslösend sind oder, um es mit meiner Denkwelt kompatibel zu machen, bei der Entstehung bestimmter Erkrankungen mitwirken können, wurde noch einmal in einem Funkkolleg, welches von Hans Schaefer verantwortlich geleitet wurde, auch von Horst Seller und mir seinerzeit noch einmal wissenschaftlich mit den damals verfügbaren Daten untermauert.

Die 60er-Jahre waren ganz stark geprägt durch die Überzeugung Schaefers, dass die Medizin der Zukunft präventiv orientiert sei. Eine Aussage, die damals sehr apodiktisch klang, heute aber beginnt, mehr und mehr wahr zu werden. Der Blick über den Zaun, wie Hans Schaefer es selbst nannte, also über die Medizin im engeren Sinn hinaus, welchen er, wie bereits erwähnt, auch institutionell mit der Begründung der Sozialmedizin unternahm, erlaubte ihm auch ganz andere Kontakte, erst Aktivitäten und Initiativen danach. So sein Einsatz für die „Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft”, bei der er Gründungspräsident war, deren vornehmste und vornehmliche Aufgabe darin bestand, die Rechte der Kinder auf - ich darf es einmal pauschalierend und verkürzt sagen - „Geborgenheit” zu thematisieren.

All diese Aktivitäten haben Schaefer im Laufe seines Lebens immer mehr zu Recht oder zu Unrecht zu einem Kritiker innerhalb der Medizin werden lassen, so dass es nicht verwunderlich ist, dass er im Jahre 1979, auch wiederum nicht ohne Bitterkeit, aus dem Bundesgesundheitsrat scheidet.

Wenn ich mit meinem heutigen Wissen auf diese Zeit, aber auch auf die Einsichten von Hans Schaefer, die er 85/86 zu Papier gebracht hat, zurückblicke, so berührt mich einerseits seine scharfe Diktion, seine klaren Urteile, die mitunter auch Fehlurteile waren, andererseits besticht der ständige Versuch, Biologie, d. h. Physiologie mit dem, was uns in der Umwelt begegnet, zusammenzuführen, aufeinander zu beziehen und Erklärungen abzuleiten.

Lassen Sie mich einen Satz zitieren: „Wenn man die Folgen sozialer Katastrophen mit Pillen behandelt, darf man sich nicht über die mageren Erfolge einer solchen Therapie wundern.” Da ich fast auf den Tag genau seit 20 Jahren nichts anderes tue, als genau solche Pillen zu entwickeln, können Sie sich in etwa vorstellen, wie zwiespältig solch ein Satz auf mich ganz persönlich wirkt. Trefflich formuliert, aber ein Bonmot eben, welches den Kern streift, nicht voll trifft. So auch seine bereits erwähnten Überzeugungen zur Krankheitsentstehung. Es ist ohne Frage so, dass Umwelt und seelische Einflüsse wichtige Faktoren sind, insbesondere auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei anderen, ebenso wichtigen Erkrankungen kann man dieses nicht so ohne weiteres nachvollziehen. Im Gedankengebäude von Hans Schaefer, in seiner Physiologie hatten die lokalen Mechanismen, die lokalen Mediatoren, die lokalen Krankheitsauslöser keine Bedeutung, die Genetik spielte allenfalls als alles umfassendes Schlagwort eine Rolle.

Die Molekulare Medizin war für ihn noch nicht greifbar. Die Erforschung des Genoms, des Proteoms, wichtige Arbeiten zur Zellphysiologie waren zu seiner Zeit oder für ihn nicht in dem Maße sichtbar, dass er sie in sein Denken hätte konsequent einbauen können. Insoweit war es wohl richtig, neben der damals bekannten somatischen Basis von Erkrankungen etwas anderes, in seinem Gedankengebäude seelische, umweltbedingte Faktoren, zur Krankheitsentstehung heranzuziehen. Die Konzepte zur Heilung waren entsprechend komplex und unbestimmt.

So richtig diese These auch heute noch für verschiedene Pathophysiologien sein mag, so richtig ist aber auch, dass durch die Kenntnisse der molekularen Medizin heute ein pathophysiologisches Verständnis von Krankheiten vorliegt, wie dies noch vor 10 Jahren allenfalls zu hoffen war.

Um nur ein einziges Beispiel für solche neuen Erkenntnisse zu nehmen, die gut in die Denkwelt von Hans Schaefer passen:

Frage und Problem: Hat das zentrale Nervensystem einen Einfluss auf den allseits gefürchteten septischen Schock, welcher im Gefolge einer entzündlichen Reaktion unseres Immunsystems als Antwort auf bakterielle Infektionen auftreten kann? Seit eine wesentliche Arbeit zu dieser Frage am 23. Januar dieses Jahres in Nature veröffentlicht wurde, lautet die Antwort: Ja, und sie lautet ja auf ganz unterschiedlichen Ebenen:

In der beschriebenen Krankheitssituation führt eine Stimulierung des Vagusnervs - und nicht des von Hans Schaefer so häufig zitierten Symphatikusnervs - zu einer Freisetzung eines Stoffes, der das Sepsis auslösende Molekül Tumornekrosefaktor hemmt. Soweit der erste Befund. Auf molekularer Ebene wissen wir durch diese Arbeit aber auch, dass durch die Stimulation des Vagusnervs ein Acetylcholinrezeptor-Protein „α 7” in Makrophagen stimuliert wird. Ein Protein, welches ganz eng mit dem Nikotinrezeptor für Acetylcholin zusammenhängt.

Also eine Aufklärung einer pharmakologischen, physiologischen Wirkung und gleichzeitig die Aufdeckung des molekularen Mechanismus. Ob dies schon für sich genommen eine gute Nachricht für Raucher ist, mag dahingestellt bleiben, aber es ist zumindest ein klarer Weg beschrieben, wie über das zentrale Nervensystem Einfluss auf Entzündungsgeschehen genommen werden kann. Dass die Kenntnis dieser molekularen Zusammenhänge jetzt Anlass geben kann, entsprechende Wirkstofffindung zu betreiben, also Pillen herzustellen, versteht sich von selbst.

Dies ein ganz neues, und wie ich finde für unser Thema wichtiges Beispiel, welches zeigt, dass a) ältere allgemeine Vorstellungen zum Krankheitsentstehen plötzlich mit molekularen Mechanismen besser verifiziert und erklärt, b) aber auch einer besseren pharmakologischen, also konkreten therapeutischen Intervention zugeführt werden können. Insoweit sind dies schon ganz wichtige Erkenntnisse, die es auf breiter Front gibt.

In den 70er- und 80er-Jahren verfügte z. B. unsere Industrie über max. 400-500 Zielmoleküle im Organismus, also Enzyme, Rezeptoren, an denen die Chemiker ihre Kunst erproben konnten, um Medikamente, d. h. Wirkstoffe herzustellen. Wirkstoffe, mit denen es immerhin gelang, ca. 20 % aller zz. diagnostizierbaren Erkrankungen relativ gut, d. h. auch ursächlich zu behandeln. 80 % der bekannten Krankheiten sind dagegen nur symptomatisch, jedenfalls nicht pharmakologisch kausal zu behandeln, eine Tatsache, die Schaefer von gedankenloser Pharmakotherapie sprechen ließ, die lediglich an Symptomen kuriert, hinter denen die Ursachen der Krankheit meist verborgen bleiben. Erlauben Sie mir den kleinen Exkurs: So gesehen, traf die Schaefersche Kritik oder besser: sie streifte den Kern. Dies ändert sich, dies wird sich stark verändern, wenn die durch die molekulare Forschung jetzt darstellbaren neuen Zielmoleküle, die je nach Optimismus zwischen 3000 und 10 000 angegeben werden, Zug um Zug einer pharmakologischen Intervention zugeführt werden. Und nie war molekularbiologische, zellphysiologische Forschung so spannend, nie war therapeutische Forschung so spannend wie heute. Für mich die Dimension medizinischer Forschung, mit der wir spürbaren Erfolg erringen und weiterhin erringen werden. Dies nimmt nichts zurück von der Schaeferschen Überzeugung, dass Umwelt und Gesundheit eng zusammengehören, wohl aber relativiert es deren Bedeutung und vor allem Ausschließlichkeit und gibt uns somit konkrete Handhabungen, mittels der molekularen Medizin den Menschen zu helfen.

Auch eine andere Überzeugung von Hans Schaefer, nämlich die breit angelegte Frühdiagnostik, die er zu seiner Zeit zu Recht kritisch betrachtete und nur in der Krebsvorsorge als tauglich ansah, auch diese breit angelegte Diagnostik, möglicherweise Gendiagnostik, wird ihren Weg in die praktische Medizin finden. In dem Maße, in dem wir persönlich Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen - auch dies ein Anliegen von Hans Schaefer - in dem Maße wird es für uns ganz individuell wichtig sein zu wissen, an welcher Stelle, in welchem Bereich wir gut daran tun, Vorsorge, d. h. Prävention zu betreiben. Prävention, ebenfalls ein Begriff, der für Hans Schaefer außerordentlich wichtig war, hat heute einen ganz anderen Stellenwert. Wir nennen es nicht immer so. Vor einigen Jahren haben Ärzte in den USA im Auftrag der Gesundheitspolitik und der privaten Gesundheitsorganisationen nach neuen Ansätzen gesucht, um die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu stoppen, und sie erfanden den Begriff „Wellness”. Wellness, ein Begriff, der für Gesundheit steht, Gesundheit, die Spaß macht, wahrscheinlich der am stärksten wachsende Wirtschaftsbereich in Deutschland, übrigens freiwillig und von den betroffenen Individuen selbst bezahlt. Und dies übrigens ganz im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, nach der der deutsche Bundesbürger nicht bereit sei, für seine Gesundheit etwas zu tun oder gar etwas dafür zu bezahlen. In Deutschland sind es heute bereits 39 Mrd. Euro, die in diesem Bereich von den Bürgern ausgegeben werden.

Wenn man dazu noch hinzurechnet, dass die Patienten in Deutschland in der Selbstmedikation über 4 Mrd. Euro ausgeben, so sind dies fast 45 Mrd. Euro, die die Bundesbürger für ihre Gesundheit freiwillig investieren. Das ist doppelt so viel wie das, was in der Bundesrepublik für Medikamente ausgegeben wird, die vom Arzt verschrieben werden. Mag sein, dass der Patient weit verantwortungsbewusster ist, als die Politik und deren nachgeordnete öffentliche und rechtliche Organisationen es wahrnehmen oder wahrnehmen wollen.

Hans Schaefer hat schon in den 60er-Jahren auf die Kostenproblematik im Gesundheitswesen hingewiesen und von der Notwendigkeit der Kostendämpfung gesprochen. Wie ich denke, ein Irrtum, wenn es denn so apodiktisch ist, wie es damals Hans Schaefer formuliert hat. Eine Gesellschaft, die älter wird, die zu Recht im Alter ein Leben in Würde erwartet, eine solche Gesellschaft braucht medizinische Leistungen, nicht um länger zu leben, sondern um die Zeit des Lebens in Würde und in funktionaler Integrität zu bestreiten. Und ob Kostendämpfung im Medizinbereich oder Kostendämpfung in ganz anderen Bereichen der öffentlichen Hand primär betrieben werden sollte, ist ebenfalls eine Frage, von der ich glaube, dass sie heute noch in und von unserer Gesellschaft falsch beantwortet wird. Investitionen ins Gesundheitswesen, in medizinische Forschung, in aktuelle und moderne Wissenschaft sind zukunftsweisender als Investitionen in Bergbau, Landwirtschaft oder Ähnliches.

Hans Schaefer hat sich m. E. auch geirrt bezüglich der Möglichkeiten der modernen Gentechnologie. Er sah vorwiegend das Orwellsche Drama in dieser Art von Wissenschaft. Auch er sprach von Monstern, die gentechnisch entstehen könnten. Er sah in Gentechnik, in Gendiagnostik vorwiegend die Gefahren, aber er sah noch nicht die Möglichkeiten, die bei adäquater und verantwortungsvoller Handhabung, wie ich glaube, die Oberhand haben und behalten werden. Freude am Spekulativen, die Freude am streitbaren Bonmot waren für Schaefer eben auch Lebenselixier.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mich naturgemäß mit den Ansichten Hans Schaefers zur Gesundheitspolitik ausführlicher und kritischer auseinander gesetzt, weil dies ja zentrale Punkte seines Lebenswerkes waren und weil diese Elemente zu einem guten Teil heute noch eine zentrale Bedeutung haben und hoch aktuell sind gerade in diesen Tagen. Ich möchte auch nicht so verstanden werden, dass ich einer neuen Somatisierung über das Genom in der Medizin das Wort rede, schon gar nicht leichthin. Ich tue es, weil die Zeit, in der Hans Schaefer lebte und dachte, viele dieser Möglichkeiten noch nicht sehen konnte. Wichtig war seine Suche, war sein Versuch, seine Unzufriedenheit - die berechtigt war im Blick auf das Gegebene - konstruktiv umzusetzen in eine zusätzliche und neue Denkdimension. Es geht mir auch darum aufzuzeigen, dass heute die neue Dimension der molekularen Medizin in der Tat ein neuer, wichtiger, aber vor allem gangbarer und pragmatischer Weg ist, den wir im Interesse der Patienten beschreiten müssen, wohl wissend, dass am Rande oder am Ende dieses Weges immer wieder die Schaeferschen Fragen stehen werden, welchen Einfluss Umwelt, soziales Umfeld, Prägung und Erziehung ausüben, heute jedoch noch mehr mit der Frage verbunden, wie sie dies tun und wie wir dies therapeutisch konkret umsetzen können.

Der Titel meines Vortrages umreißt nur einen, wenn auch nicht unwesentlichen Teil der Person Hans Schaefer. Ich würde dem Menschen Hans Schaefer jedoch nicht gerecht, wenn ich nicht einen anderen Teil von ihm, der mehr ist als nur eine Facette, zumindest in Kürze ansprechen würde - seine Beteiligung an weltanschaulichen - wie er es selbst nannte - Dialogen.

Der Disput zwischen Naturforschern und Theologen in der Paulus-Gesellschaft, in der er mit außerordentlich interessanten Partnern, speziell auch der katholischen Kirche, zusammentraf, war für ihn essenziell. Radiovorträge wie „Was ist das eigentlich, Gott?” oder seine vehement vorgetragene Kritik an der weitgehend unverständlichen theologischen Sprache, z. B. sein Versuch, sich dem Phänomen der Wunder zu nähern, all dies ließ ihm keine Ruhe. Hans Schaefer schreibt sehr ausführlich in seinen Memoiren über die Gedankenwelt, die ihn und andere in dieser Paulus-Gesellschaft beschäftigt hat. Gegen Ende seines Buches sagt Hans Schaefer: „Letztlich bleiben wir Menschen allein mit der Einsicht, dass der Blick hinter die Fassade der Phänomene nicht gelingt.” Und er tröstet uns und sich, dass schon Immanuel Kant und vor diesem schon Platon dieses festgestellt hätten.

Ich darf diese Erkenntnis auch an das Ende meiner Ausführungen stellen.

Hans Schaefer, ein Mann, der mit seinen Leistungen auf dem Gebiet der Physiologie mindestens drei Wissenschaftler-Karrieren gemacht hat, ein Mann, der als Wissenschaftspolitiker am Ende des Krieges und in den ersten Jahren des Wiederaufbaus die Möglichkeit hatte, an den Schaltstellen des wissenschaftspolitischen Getriebes tätig zu werden. Ein Mann, der nach Beendigung seiner eigentlichen physiologischen Tätigkeit wie kein anderer Physiologe als Gelehrter am gesellschaftlichen Diskurs teilgenommen hat.

Seine Bereitschaft zum Diskurs, diese Bereitschaft, von anderen zu lernen, aber auch andere zu überzeugen, diese Bereitschaft, sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, der Wunsch, Wissenschaft mit uns zu versöhnen, all dies ist ein Lehrbeispiel, all dies können, ja all dies müssen wir von ihm lernen.

Ein Mann, der mit seinem Organisationstalent, der kraft seiner Rhetorik viele zu begeistern verstand, wichtige Erkenntnisse gewann und vermittelte und institutionell verankerte, aber auch in manchen Einschätzungen irrte: Diesen großen Mann ehren wir. Wir gedenken seiner, und ich schließe mit einem Satz, den Hans Schaefer in seiner Biographie zitiert, als seine Mutter auf dem Sterbebett liegt und zu ihm sagt: „Gut, dass du da bist.” Ich denke, dieser Satz galt, obwohl 1964 gesprochen, bis 2000, als Hans Schaefer selbst in Heidelberg starb.

Prof. Dr. Dr. h. c. Günter Stock

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