Gesundheitswesen 2004; 66 - 72
DOI: 10.1055/s-2004-833810

Sexueller Missbrauch als Public-Health-Problem – ein soziodemografischer Ansatz der kommunalen Gesundheitsberichterstattung

HJ Boschek 1, KJ Kügler 1, A Prämassing 2
  • 1Kreisgesundheitsamt Ennepe-Ruhr (Schwelm)
  • 2Pro Familia Ennepe-Ruhr-Süd (Gevelsberg)

Hintergrund: Sexueller Missbrauch ist wegen der großen Zahl der Betroffenen und wegen der teilweise schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden ein bedeutsames Public-Health-Problem. Ziel: Mit der Einrichtung einer Beratungsstelle soll die Versorgung für die jugendlichen Opfer von sexuellem Missbrauch verbessert und Grundlagen für die kommunale Gesundheitsplanung erarbeitet werden. Methoden: Im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis (ca. 120000 Einwohner) wurde eine Stelle für die Opfer von sexuellem Missbrauch eingerichtet. Ergebnisse: In zwei Jahren wurden 99 Fälle durch eine Psychologin betreut. In vier Fällen konnte der Verdacht nicht bestätigt werden. Die Kontakte kamen zustande über Selbstmeldung (23), Vermittlung über Institutionen wie Schule und Polizei (13) bzw. über die Eltern (20). 81% der Opfer waren weiblich. Der Altersmedian beträgt 15 Jahre. Das jüngste Opfer war 12 Monate, die älteste Betroffene 66 Jahre alt. Die Täter waren alle männlich und stammten fast alle aus dem unmittelbarem familiären Umfeld. 8 Täter waren selber Jugendliche. Die Schädigungen der Opfer umfassten vor allem Diagnosen wie Suizidversuch, Depressionen, PTBS, Borderlinesymptomatiken, Essstörungen und Suchtprobleme. Zu den vorrangigen Hilfen gehörten Verdachtsklärung, Beratung, Therapie bzw. Therapievermittlung sowie Prozessbegleitung. In 27 Fällen wurde eine Strafanzeige erstattet. Diskussion: Mit einem ortsnahen Hilfeangebot kann ein hoher Anteil von Opfern sexuellem Missbrauchs erreicht werden. Als Konsequenz wurde ein Leitfaden mit Informationen über Hilfeangebote erarbeitet und eine Fachkonferenz zur Verbesserung der Koordination eingerichtet. Schlussfolgerungen: Der vorgestellte soziodemografische Ansatz hat drei wesentliche Aspekte für die Gesundheitsberichterstattung. (1) Er liefert Fakten, besonders dann, wenn Routinedaten, z.B. aus der Kriminalitätsstatistik nicht verwertbar sind. (2) Er ist handlungsorientiert, weil mit einer konkreten Interventionen verknüpft. (3) Er generiert relevante Fragestellungen wie das Problem jugendlicher Täter oder der Therapie von Straftätern als Ansatz für Tertiärprävention.