Gesundheitswesen 2004; 66 - 184
DOI: 10.1055/s-2004-833922

Soziale Unterschiede bei der Inanspruchnahme der Notfallambulanz

Th Borde 1, Chr Bunge 1, T Braun 1, M David 2
  • 1Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin
  • 2Charite, Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Frauenheilkunde u. Geburtshilfe

Hintergrund: Studien aus den USA, Kanada und Spanien weisen auf eine hohe Inanspruchnahme von Erste Hilfe-Stellen durch sozial benachteiligte Gruppen und ethnische Minderheiten und eine hohe Rate an „unangemessener“ Nutzung hin. Ziel: In einer Studie zur Inanspruchnahme klinischer Notfallambulanzen (BMBF/ Spitzenverbände der GKV 2001–2003), die in den Rettungsstellen von drei Berliner Kliniken in Stadtteilen mit einem hohen Migrantenanteil angesiedelt war, wurde der Frage nach Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme der Ersten Hilfe bei verschiedenen Patientengruppen nachgegangen. Methoden: In den Rettungsstellen wurde eine Stichprobe von 800 gynäkologischen und internistischen Patienten/-innen (15–65 Jahre alt) anhand standardisierter Interviews befragt. Migranten/innen und deutsche Patienten/innen waren in der Stichprobe der Befragung jeweils zu 50% vertreten. Parallel wurden die Erste Hilfe-Scheine (EHS) aller Patienten/-innen während des jeweils 1-monatigen Untersuchungszeitraums ausgewertet (n=4930). Als Indikatoren für die soziale Lage wurden bei den EHS der Krankenversicherungsstatus, bei der Patientenbefragung der Bildungsgrad und der Erwerbsstatus der Patienten/innen berücksichtigt. Ergebnisse: Migranten/innen machten im Untersuchungszeitraum insgesamt ein Drittel und in der Altersgruppe <30 Jahre etwa die Hälfe der Nutzer/-innen aus. Der größte Teil der Patienten/innen (85%) war gesetzlich krankenversichert. Der Anteil der über das Sozialamt Versicherten lag bei deutschen und türkischen Patienten/-innen bei 6%, bei Patient/-innen anderer Ethnizität war er deutlich höher. Patienten/innen mit Migrationshintergrund und Frauen verfügten über geringere Schulabschlüsse und hatten seltener einen Beruf erlernt. 54% der befragten Männern und 63% Frauen waren nicht erwerbstätig. Neben Krankheiten des Kreislauf-, Verdauungs- und Atmungssystems waren psychische Krankheiten und Symptome/abnorme Laborbefunde die am häufigsten auf den EHS dokumentierten ICD-10 Diagnosegruppen. Bei Patienten/innen, die über das Sozialamt versichert waren, standen psychische Erkrankungen an erster Stelle. Patienten/innen mit geringerem Bildungsgrad berichteten in der Befragung häufiger über starke Schmerzen, gaben mehr Schmerzregionen an und führten ihre aktuellen Beschwerden häufiger auf Gewalterfahrungen zurück (p<.05). Diskussion: Medizinische, psychosoziale, sozioökonomische sowie geschlechts- und altersspezifische Faktoren beeinflussen die Inanspruchnahme von Notfallambulanzen in unterschiedlicher Weise. Bei einem Vergleich von Studienpopulationen mit und ohne Migrationshintergrund bleiben die Indikatoren zur Abbildung der sozialen Schicht unbefriedigend, da sich diese kulturspezifisch möglicherweise unterschiedlich definiert. Schlussfolgerungen: Insbesondere für untere soziale Schichten und Migranten/innen stellen Rettungsstellen offenbar sowohl bei medizinischen als auch bei psychosozialen Problemen eine wichtige Versorgungsinstanz dar. Die Frage nach der Angemessenheit der Inanspruchnahme sollte daher die Diskussion über die Angemessenheit der Versorgungskonzepte für diese Patientengruppen einleiten.