Gesundheitswesen 2004; 66 - 204
DOI: 10.1055/s-2004-833942

Rückkoppelungseffekte zwischen Wirtschaft und Public Health. Das Beispiel des Diskurses um das wünschenswerte Körpergewicht

U Thoms 1
  • 1Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin, Institut für Geschichte der Medizin, Berlin

Eins der größten Paradoxe der Entwicklung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft ist die Gefährdung des erreichten Fortschritts durch die Folgen des Wohllebens: Waren noch im 19. Jahrhundert Arme von Hunger bedroht, ist heute vom kollektiven Selbstmord mit Messer und Gabel die Rede: Übergewicht spielt in der gegenwärtigen Gesundheitsdebatte als Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko eine zentrale Rolle. Es gilt als ausgemacht, dass es Ursache zahlreicher Zivilisationskrankheiten ist. Die Sozialversicherungsträger rechnen vor, dass etwa ein Drittel aller Kosten, die im Gesundheitswesen anfallen, als direkte oder indirekte Folge des Übergewichts zu betrachten sind. Das Körpergewicht ist häufiger Gegenstand sozialmedizinischer Studien geworden und ist es noch heute.

Dabei wird der historische Ursprung dieses argumentativen Zusammenhanges häufig vergessen. Er soll in dem vorgeschlagenen Beitrag aufgesucht werden. Es soll nicht allein darum aufgezeigt werden, wie die Zusammenhänge zwischen Übergewicht, Morbidität und Mortalität konstruiert wurden, sondern auch um die enorm erfolgreiche Popularisierung dieser Ursache-Wirkungs-Kette, die dazu geführt hat, dass der Zusammenhang von Übergewicht und körperlichen, aber auch seelischen Erkrankungen heute ein Allgemeinplatz ist. Dabei wird deutlich, dass das Gesundheitssystem nicht allein vom Ende der Kette, den auftretenden Erkrankungen und ihrer Beseitigung her ökonomisch gedacht und argumentiert wurde, sondern dass seine Argumente über die Versicherungswirtschaft und damit direkt aus der Ökonomie bezogen wurden.

Methodisch erfolgt eine Diskursanalyse anhand historisch-kritischer Quellenstudien sowie von Abhandlungen über den Zusammenhang zwischen Morbidität, Mortalität und Übergewicht von 1900 bis ca. 1970.

Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchten Lebensversicherungsunternehmen, den Zusammenhang von Körpergewicht und Mortalität so zu operationalisieren, dass das Körpergewicht ein für sie kalkulierbarer Risikofaktor wurde. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es eben nicht das staatliche Gesundheitssystem, das entsprechende epidemiologische Daten sammelte. Vielmehr stützten sich Mediziner wie Statistiker vornehmlich auf Material vorwiegend amerikanischer Lebensversicherungsgesellschaften – und das heißt privatwirtschaftlicher Unternehmen -, wenn es darum ging, den allgemeinen Anstieg des Übergewichts zu dokumentieren und seine ökonomischen Folgen darzulegen. Hier schließt sich der Kreis zwischen Ökonomie und Gesundheit, indem die Datensammlungen den Anlass für Präventionskampagnen sowohl der Bundesregierung wie der Sozialversicherer abgaben. Zugleich leisteten sie einer gigantischen Diätindustrie Vorschub, die einen stetig wachsenden Markt mit Diäthandbüchern, -produkten und -kursen beschickt, mit dem die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen des Übergewichts begrenzt werden sollen.

Es stellt sich die Frage, ob vor dem skizzierten Hintergrund sowie der in den letzten Jahren vermehrt aufgekommenen Kritik an der Framingham-Studie die Frage nach den Zusammenhängen von Morbidität, Mortalität und Übergewicht nicht ganz neu zu stellen ist.

Die vorliegenden epidemiologischen Daten zum Zusammenhang von Übergewicht, Morbidität und Mortalität sind vor ihrem Entstehungs- und Sammlungshintergrund deutlich kritischer und differenzierter zu betrachten, als dies bislang geschehen ist.