RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-2004-833953
Genetik als neue Herausforderung für Public Health(-Ethik)
Durch die Möglichkeiten der Genmedizin deuten sich nicht nur auf der individuumsbezogenen Ebene, sondern auch auf der Ebene der öffentlichen Gesundheitsversorgung präzisere, schnellere, wirksamere, nebenwirkungsärmere Präventions-, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten an für Einzelne, für bestimmte Patientenkollektive wie für bestimmten Umwelteinflüssen ausgesetzte Personen(-kreise). Während die individuumsbezogenen Problemaspekte künftiger angewandter Genetik ethisch bereits intensiv diskutiert werden (Schutz der Privatsphäre, Vertraulichkeit, informed consent, Schutz vor Diskriminierung und Stigmatisierung), deuten sich bei der möglichen Integration der Genetik in die öffentliche Gesundheitsversorgung weitere spezifische gesellschaftliche Herausforderungen an, die die weithin bekannten Argumentationsstrategien zu „Gerechtigkeit im Gesundheitswesen“ neu justieren könnten. Der Vortrag widmet sich diesen neuen gerechtigkeitstheoretischen und -praktischen Herausforderungen:
Zunächst zeigt er, dass die Frage nach einer gerechten Integration von (möglichen) genetischen Maßnahmen auf die neuzeitliche Grundunterscheidung von Gerechtem und Gutem zurückgreifen muss. Bei der Bestimmung von Subkriterium und Maß eines genetischen decent minimum können die potentiellen Kandidaten Nutzen, strikte Gleichheit, Wohlfahrtsgleichheit und radikale Freiheit zurückgewiesen werden, so dass sich die Chancengleichheit als Leitkriterium nahe legt. Da es weiter differenziert werden muss, werden implizite Menschenbilder (des social structural view, des brute luck view oder des capabilities approach) deutlich. Aber noch der hier aufgrund seiner Nähe zum Menschenbild kommunikativer Freiheit vertretene capabilites approach muss im Fall der Integration genetischer Maßnahmen in die öffentliche Gesundheitsversorgung weiter ausdifferenziert werden. Hier befürchtete mögliche Diskriminierung und Stigmatisierung sind nämlich nicht nur individuelle, sondern auch sozialethische Probleme. Ihnen kann man mit der bifokalen Gerechtigkeitsposition Nancy Frasers, die als Ausdifferenzierungsmodell des capabilities-approach genutzt wird, begegnen. Auch wenn dagegen argumentiert wird, dass genetisches Wissen gegenüber anderen Wissensformationen einen exzeptionellen Status besitzt, können mithilfe des heuristischen Kriteriums Anerkennung doch spezifische Fragen sozialer Gerechtigkeit perspektiviert werden in den Bereichen Versicherungswesen, Krankenversicherungsschutz und Arbeitsverhältnisse.
Als weitere gerechtigkeitstheoretische Herausforderung der möglichen Integration von Genetik in die öffentliche Gesundheitsversorgung wird (wie im Falle von Biobanken oder Screening-Verfahren) der mögliche Konflikt zwischen individuumsbezogenem Autonomierespekt und gesellschaftlichen Gesamtnutzen oder Gemeinwohl thematisiert und für seine Gestaltung ebenso ein Priorisierungsmodell vorgestellt und begründet wie die Frage des „benefit-sharing“ thematisiert.