Gesundheitswesen 2004; 66 - 217
DOI: 10.1055/s-2004-833955

Public Health vor den Herausforderungen durch die moderne Genetik. Die Sicht deutscher Public Health Experten auf eine mögliche Integration genetischer Erkenntnisse in die Zielperspektive von Public Health

K Kälble 1
  • 1Abteilung für Medizinische Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Hintergrund: Durch die Erkenntnisfortschritte der modernen Genetik werden u.a. tiefere Einsichten in die Ursachen von Erkrankungen, eine verbesserte Prädiktion individueller und populationsbezogener Gesundheitsrisiken sowie neue Möglichkeiten der Diagnostik, Therapie und Prävention erwartet. Anglo-amerikanische Public Health-Experten plädieren deshalb für eine Integration genetischer Erkenntnisse in die Forschung und Praxis von Public Health. Unter dem Begriff „Public Health Genetics“ hat sich in den USA und einigen europäischen Ländern ein neues Fachgebiet entwickelt, dessen Ziel es ist, die Fortschritte der Genetik für eine Verbesserung der Gesundheit und Krankheitsprävention zu nutzen. In der deutschen Public Health findet eine Auseinandersetzung mit der neuen Genetik kaum statt. Auch fehlt es an Untersuchungen, wie Public Health die Möglichkeiten der modernen Genetik für die Perspektive der Gesundheitsversorgung einschätzt. Vor diesem Hintergrund hat der Autor – im Rahmen seiner Tätigkeit in der Kooperationsgruppe „Public Health Genetics“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld – eine postalische Befragung von Public Health Experten konzipiert und durchgeführt. Ziel: Mittels der Befragung sollten erstmals empirische Daten gewonnen werden, die begründete Aussagen erlauben, wie sich die deutsche Public Health zur neuen Genetik und zu einer möglichen Etablierung von Public Health Genetics positioniert und wie sie Chancen und Risiken der Genetik im Hinblick auf populationsbezogene Gesundheitsprobleme beurteilt. Methoden: Expertenbefragung (N=66; Rücklauf 50%) auf der Basis eines teilstandardisierten Fragebogens, die Transkripte wurden qualitativ orientiert ausgewertet. Ergebnisse: Die Studie zeigt u.a., dass über 50% der Experten die Diskussion um Public Health Genetics kaum bekannt ist, dass nach Meinung der Mehrheit der Experten Public Health die Entwicklungen der Genetik eher nicht wahrnimmt, dass Public Health die Genetik zum Thema machen sollte, dass die Experten mit der Genetik eine Vielzahl von Risiken, aber durchaus auch Chancen für Gesundheit und Prävention verbinden, und dass Bedarf an Public Health Genetics besteht, sowohl zur kritischen Begleitung der genetischen Entwicklungen als auch zur Erweiterung der Erkenntnisperspektive im Sinne der öffentlichen Gesundheit. Diskussion und Schlussfolgerungen: Die in der Public Health Literatur erkennbare Abwehrhaltung gegenüber der Genetik wird durch die Studie nur zum Teil bestätigt. Bei aller kritischen Distanz zur Genetik wird die Notwendigkeit einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken der humanen Genetik sichtbar. Voraussetzung dafür ist der Aufbau einer auf Genetik bezogen Expertise im Rahmen der Ausbildung.