Gesundheitswesen 2004; 66 - 218
DOI: 10.1055/s-2004-833956

Genetik und Arbeitswelt. Perspektiven der Arbeitsmedizin

R Müller 1
  • 1Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen, Abt. Gesundheitspolitik, Arbeits- und Sozialmedizin

Hintergrund: Die biomedizinische Fortschrittseuphorie der Humangenetik als fachübergreifende Grundlage einer allgemeinen Krankheitslehre hat auch, wie die Stellungnahme des Verbandes der Betriebsärzte von 2000 zeigt, die Arbeitsmedizin ergriffen, die sich traditionell mit dem Verhältnis von Disposition und Exposition auseinander setzt. Galt der Exposition gegenüber physikalischen, chemischen und biologischen Einzelfaktoren das traditionelle Interesse, so schwingt derzeit die Orientierung in Richtung genetisch geprägter Empfindlichkeit gegenüber z.B. chemischen Stoffen mit der Konsequenz, dass Präventionshoffnungen im Gene Screening zur Aufdeckung der individuellen Suszeptibilität, also Empfindlichkeit bzw. Empfänglichkeit gesehen werden. Ziel: Auf die Stellungnahme des Verbandes der Deutschen Betriebs- und Werksärzte soll kritisch aus der Perspektive von Public Health eingegangen werden. Methoden: Diskursanalyse, Auswertung aktueller Literatur. Ergebnisse: In der Stellungnahme des Verbandes der Betriebsärzte ist ein Public Health-Konzept von Gesundheit bzw. Krankheit nicht erkennbar. Bei der Erforschung der individuellen Suszeptibilität gegenüber Noxen wird die Relevanz der intakten Selbstregulation im soziopsychischen Zusammenhang der Person, auch bei der Induktion von Genleistungen, von der Arbeitsmedizin nicht systematisch in den Blick genommen. Diskussion: Gene allein sind nämlich nicht ausschlaggebend, sondern der Gebrauch, der davon gemacht wird. Bei einem Individuum mit chronischer Angst und in anhaltender Hoffnungslosigkeit (Verlust bzw. Störung des Sense of Coherence) kommt es über komplexe neurologisch bzw. biochemisch getragene emotionale Prozesse zu Störungen der Funktionen, Regulationen und Strukturen auf den Ebenen des Physionoms, des Proteoms und des individuellen Genoms. Schlussfolgerungen: Arbeitsmedizin bzw. Betriebsärzte und -ärztinnen haben sich der systematischen Neuartigkeit des Ausmaßes der wachsenden diagnostischen und therapeutischen Eingriffstiefe und eben auch der sich daraus ergebenden Ambivalenzen, Dilemmata und Paradoxien der sich eröffnenden Handlungsmöglichkeiten zu stellen.