Gesundheitswesen 2006; 68(6): 347-356
DOI: 10.1055/s-2006-926870
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Trägerübergreifendes Projekt zur Früherkennung von Rehabilitationsbedarf bei Versicherten mit muskuloskelettalen Beschwerden durch Auswertung von Arbeitsunfähigkeitsdaten: Ergebnisse einer randomisierten, kontrollierten Evaluationsstudie

Offering Multidisciplinary Medical Rehabilitation to Workers with Work Disability due to Musculoskeletal Disorders: Results of Randomized Controlled TrialA. Hüppe1 , N. Glaser-Möller2 , H. Raspe1
  • 1Institut für Sozialmedizin der Universität zu Lübeck
  • 2Deutsche Rentenversicherung Nord
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Publication History

Publication Date:
07 July 2006 (online)

Zusammenfassung

Ziele: Im Zeitraum 2000 bis 2005 erprobte die LVA Schleswig-Holstein (S-H) mit 4 gesetzlichen Krankenkassen und deren Medizinischem Dienst ein neues Verfahren zur Früherkennung von Rehabedarf durch Analyse der Dauer und Anzahl von AU-Tagen nach definierten Kriterien (PETRA-Verfahren: Projekt zur Erkennung, trägerübergreifend, von Rehabedarf durch Auswertung von Arbeitsunfähigkeitszeiten). Hauptziel war die Reduktion der Gefährdung der Erwerbsfähigkeit durch das Angebot einer Beratung mit Unterstützung bei der Rehaantragstellung. Der Nutzen des Verfahrens wurde im Rahmen einer kontrollierten, randomisierten Studie evaluiert. Methodik: Ein Jahr lang wurden alle identifizierten Versicherten mit muskuloskelettalen Beschwerden (M05 - 25, M40 - 54, M60 - 99 nach ICD-10) in randomisierter Weise einer Interventions- (IG) oder Kontrollgruppe (KG) zugewiesen. Der IG wurde das Angebot einer Beratung mit dem Ziel einer Rehaantragstellung gemacht, die KG erhielt die Routineversorgung. Bei Studieneintritt, nach 6 und 12 Monaten, wurde ein Fragebogen zum Gesundheitszustand vorgelegt. Krankenkassen und Rentenversicherung meldeten u. a. Fehltage, Krankenhaustage und Berentungen. Die Auswertung erfolgte nach verschiedenen Strategien (intention to treat, per protocol, as actual, matched pairs). Ergebnisse: 230 Versicherte nahmen an der Studie teil. In der IG (n = 134) erhielten 69 %, in der KG (n = 96) 20 % eine Rehamaßnahme. In IG wie KG reduzierten sich die Fehltage, in den durch ein halbes Jahr getrennten je sechsmonatigen Beobachtungszeiträumen, deutlich mit Effektstärken von 1,3 (IG) und 1,6 (KG). Es zeigten sich keine signifikanten Gruppenunterschiede bei Berentungen, Krankenhausaufenthalten, Wiedereingliederungsmaßnahmen sowie bei der Entwicklung der Erwerbstätigkeit. Subjektive Gesundheitsparameter wie z. B. die Funktionskapazität entwickelten sich in beiden Gruppen in vergleichbarer Weise. Schlussfolgerung und Ausblick: Das PETRA-Verfahren erweist sich bei Versicherten mit muskuloskelettalen Beschwerden weder im Hinblick auf die Beeinflussung der Arbeitsunfähigkeit noch des subjektiven Gesundheitszustandes der medizinischen Routineversorgung überlegen. Eine mögliche Erklärung ist die mangelnde Nachhaltigkeit der Wirksamkeit der in der Beratung empfohlenen Intervention. Sektorübergreifende Versorgungskonzepte, die langfristig eine dem Alter entsprechende Teilnahme am Arbeits- und Gesellschaftsleben ermöglichen, sind zu entwickeln. Forschungsmethodisch bietet das gewählte Verfahren einen entwicklungsfähigen Zugang zur Durchführung von randomisierten, kontrollierten Studien in der Versorgungs- und Rehabilitationsforschung an.

Abstract

Aims: In Germany medical rehabilitation has to be initiated by members of statutory pension fund and health insurances. This often leads to delays in the application for and provision of rehabilitation services. Since January 2000 a regional statutory pension fund for blue collar workers (LVA Schleswig-Holstein), 4 statutory health insurances and their medical service MDK have been evaluating a pro-active system to offer rehabilitation to certain member groups. Its acceptance, performance and outcomes were evaluated within a randomized controlled study. Methods: Over one year actively insured (i. e. working) members of the a. m. institutions were screened for longer work disability due to musculoskeletal disorders (ICD-10: M05 - 25, M40 - 54, M60 - 99). Based on further inclusion criteria eligible persons were randomized either to an intervention (invitation, counselling, application support) or control (usual care) group. At baseline and six and 12 months all participants completed a postal questionnaire enquiring about various health status aspects (secondary outcomes). Information on sick leave (cases, days), hospital treatment and disability pension was based on administrative data (primary outcomes). Analyses were run on an intention to treat-, per protocol-, as actual-, and matched pairs-basis. Results: 230 persons gave written informed consent (IG: n = 134, KG: n = 96). Within 6 months after study entry 69 % of the IG- and 20 % of the KG-members participated in a 3 week in-patient multidisciplinary rehabilitation program. Compared to 6 months prior to the study the occurrence of sick leave due to musculoskeletal disorders was clearly reduced during follow-up between month 6 and 12, however with no significant difference between the two groups. Additionally, IG and CG did not differ in any other primary and secondary outcomes. Conclusion: Contrary to our expectations the IG-members do not seem to benefit from the PETRA-programme including inpatient rehabilitation.

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Dr. Angelika Hüppe

Institut für Sozialmedizin

Beckergrube 43 - 47

23552 Lübeck

Email: angelika.hueppe@sozmed.uni-luebeck.de

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