Z Orthop Unfall 2007; 145(3): 268-273
DOI: 10.1055/s-2007-982623
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diskussion - Korrespondenz zu der Arbeit: Chronisches kraniozervikales Beschleunigungstrauma

Z.Orthop. 144 (2006) 345 - 348; von C. U. Mayer
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Publication Date:
03 July 2007 (online)

 

Leserbrief

Ende der konservativen Orthopädie Dr. Uwe Oppel

Die zentrale Hypothese dieses Artikels, dass nicht die physikalische Primärverletzung, sondern ein primäres Angsterleben vor dem Hintergrund der "Struktur - und Ergebnisqualität" der tatsächlichen medizinischen und sozialen Versorgungssysteme die einzige, zumindest aber die wesentliche Ursache für die ca. 20 % chronischer Verläufe nach derartigen Bagatelltraumen sein soll, ist nicht wirklich neu, wird aber nach wie vor nicht überzeugend begründet.

Der umfangreiche und mitunter verwirrende posttraumatische Symptomenkomplex wird zutreffend geschildert, die pauschale Kausalitätszuordnung all dieser Symptome zu einer simplen Angststörung ist dagegen eine sehr persönliche Hypothese des Autors, die bei Verzicht auf eigene Studien oder Literaturverweise keine wirkliche Überzeugungskraft entwickeln kann.

Unter Experten und in der wissenschaftlichen Literatur wird inzwischen von der sogen. "whiplash associated disease" gesprochen, um den epidemiologisch gesicherten Tatsachen sowie dem medizinisch - inhaltlichen Unverständnis Rechnung zu tragen: Unabhängig von der Kollisionsenergie stellen ausschließlich derartige Verkehrsunfälle die Eintrittspforte in die vorhandenen westlich - medizinischen Versorgungssysteme dar, die dann nicht verhindern können, dass eine nennenswerte Zahl schwer kranker Patienten zurückbleibt bzw. entsteht.

Per Titel ein "kraniozervikales Beschleunigungstrauma", also eine primär physikalische Belastung als conditio sine qua non für die ggf. nachfolgende Patientenkarriere zu fordern, um dann im Ergebnis eine primäre, nur nicht behandelte Angststörung als kausale Grundlage für die finale, aber nicht näher bezeichnete Krankheit zu unterstellen, ist absolut unlogisch.

Was ist das spezifische an der Schrecksituation bei einer Heckkollision? Ohne konkrete und belastbare Hinweise auf eine praetraumatische Psychopathologie ist zudem die Spontanmanifestation einer eigenständigen Angststörung zum Zeitpunkt eines Blechschadens zumindest mit den deutschen zivil - und sozialrechtlichen Kausalitätskriterien unvereinbar.

Es ist weltweiter medizinischer und juristischer Standard und Konsens, nach Unfällen in akut auftretenden körperlichen Beschwerden bei fehlender Psychopathologie einen somatischen Schaden zu erkennen und zu akzeptieren, dass sich die letztliche Schmerzursache oft nur mittel medizinischem Wissen und nur ausgesprochen selten mit technischen Methoden ermitteln lässt.

Unterstellt, dass die tatsächlichen medizinischen und sozialen Versorgungssysteme wirklich fehlerhaft die primäre und rein psychische Angststörung als eigentliche Symptomursache übersehen und fälschlich eine behandlungsbedürftige somatische Verletzungsfolge annehmen, würde die tatsächliche Therapie mit ihren auf körperliche Veränderungen gerichteten Maßnahmen dann aber sekundäre somatische Unfallfolgen hervorrufen, für deren finanzielle Konsequenzen der Unfallverursacher bzw. die zuständige Versicherung regulierungspflichtig würde.

Weiterhin unterstellt, dass die sehr einseitige Interpretation der IASP Definition von Schmerz durch den Autor zuträfe und daher Schmerz vorwiegend ein Gefühlserlebnis sei, würde damit die konservative Orthopädie/ Physiotherapie der unspezifischen Wirbelsäulenbeschwerden (>> 80 % aller Wirbelsäulenbeschwerden) als Scharlatanerie und vorsätzliche Körperverletzung gekennzeichnet, selbst der kurzzeitige Einsatz von Analgetika zur bewussten ärztlichen Fehlbehandlung abgewertet, weil krankheitsursächlich der verstärkte Einsatz von Psychopharmaka und Psychotherapie geboten wäre.

Atemberaubend die Argumentation, dass seine Hypothese einer Hemmung der Spontanheilung durch die vorhandenen medizinischen Versorgungssysteme dadurch bestätigt würde, dass keine diesbezüglichen Publikationen existieren.

Alternativ aber eine primäre Angstreaktion als exklusive Unfallfolge zu unterstellen und gleichzeitig zu behaupten, dass sich der Patient von seiner Angstkrankheit nur selber heilen könne, überzieht m.E. die Kritik an der derzeitigen medizinischen Versorgungsqualität und redet unbegründet einem therapeutischen Nihilismus das Wort. Der Verzicht auf einen Arztbesuch aber könnte dann vom Unfallverursacher und den beteiligten Versicherungen unter Hinweis auf die Schadensminderungspflicht des Verunfallten als Argument sowohl gegen eine primäre oder anhaltende Leistungspflicht verwertet werden - ist also für den Verunfallten nicht wirklich ratsam.

Honorig aber, dass der Autor einräumt, im praktischen therapeutischen Alltag Betroffene nicht davon überzeugen zu können, dass primär eine psychotherapeutische Bearbeitung der Folgen der automobilen Kontaktaufnahme erforderlich ist. Ggf. erklärt sich dies dadurch, dass der Autor wenig überzeugend beklagt, dass ein starres kartesianisches Krankheitsmodell und gutachterliche Bewertungsvorschriften einer vorangegangenen Arzt - Patient - Beziehung schon in dieser eine angemessene Berücksichtigung psychosozialer Risikofaktoren/ Krankheitsanteile, d.h. eine zeitgemäße Medizin verhindern würden.

Mit dem (iatrogenen?) psychischen Erklärungsmodell des Autors würde in Deutschland zudem lediglich die private Unfallversicherung von einer Leistungspflicht für die chronischen Schmerzen nach physikalischen Primärschäden befreit. Hierzu ist generell anzumerken, dass sich angesichts derartiger Tendenzen in der traumatologischen Begutachtungspraxis ernsthaft die Frage stellt, ob solche Versicherungen noch den versprochenen und bezahlten Schutz gegenüber schmerzhaften Unfallfolgen bieten, d.h. auch für den Versicherungsnehmer sinnvoll sind.

Zudem ist mehr als fraglich, ob sich auch die therapeutisch aktiven Ärzte und ihre Haftpflichtversicherungen mit diesem gutachterlichen Erklärungsmodell und den daraus resultierenden Konsequenzen einverstanden erklären können.

Dr. med. Uwe Oppel, Arzt für Orthopädie, Chirotherapie, Laarstr. 2 - 4, 58636 Iserlohn

Literatur

  • 01 Lucire Y . Constructing RSI. Belief an desire.  UNSW Press Sydney. 2003; 
  • 02 Waddell G . The back pain revolution.  Churchill Livingstone, Edinburgh. 1998; 
  • 03 Castro WHM . et al . No stress - no whiplash? Prevalence of "whiplash"-symptoms following exposure to a placebo rearend collision.  Int. J. Legal Med. 2001;  114 316-322
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