ZFA (Stuttgart) 2007; 83(10): 405-410
DOI: 10.1055/s-2007-991130
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diagnostische Konzepte der Depression in aktuellen allgemeinmedizinischen Publikationen

Depression in General Practice: Diagnostic Concepts in Current German PublicationsM. Sielk 1
  • 1Universitätsklinikum Düsseldorf, Abteilung für Allgemeinmedizin, Düsseldorf
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eingereicht: 01.09.2007

akzeptiert: 11.09.2007

Publication Date:
15 November 2007 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Vor 25 Jahren hat ein Wandel in der Klassifikation der Depression begonnen, welcher inzwischen weltweit Anerkennung gefunden hat. Neben dem Nutzen einer Vereinheitlichung und Ent-Ideologisierung hat diese neue, phänomenologische Nosologie auch zu problematischen Entwicklungen geführt: die Prävalenz depressiver Störungen und vor allem die medikamentöse Behandlung sind erheblich gestiegen. Die Diskussion darüber, ob klassifizierende Fragebogenerhebungen, die konzeptionell dieses Diagnosekonzept repräsentieren, überhaupt in der Lage sind, emotionale Störungen in der Hausarztpraxis zu erfassen, legt die Überlegung nahe, dass ein rein auf Symptomen beruhendes, die Umstände und Geschichte des Patienten nicht beachtendes Konzept unter Hausärzten umstritten sein könnte. In einer Analyse aktueller allgemeinmedizinischer Publikationen zur Depression sollte untersucht werden, in wie weit das neue, phänomenologische Konzept dort Eingang gefunden hat.

Methode: Es wurden 9 aktuelle Lehrbücher und Zeitschriftenartikel von 3 allgemeinmedizinischen Zeitschriften der letzten 4 Jahre im Hinblick auf die Fragestellung untersucht.

Ergebnisse: Nur ein Lehrbuch vertritt noch die alte Klassifikation, ein weiteres nutzt eigene allgemeinmedizinische Klassifikationen. Von den 16 gefundenen Zeitschriftenartikeln ließ sich bei einem überhaupt kein diagnostisches Konzept finden und 2 nutzten eigene Konzepte. Alle 13 anderen Artikel nutzten die neuen Klassifikationen nach ICD-10 oder DSM-IV. Implizit allerdings wurde bei einigen Lehrtexten im Kontext von mit der Depression verwandten Themen in Inhalt oder der benutzten Terminologie deutlich, dass in der konkreten Anwendung alte Konzepte weiter wirken.

Diskussion: Das neue phänomenologische Konzept hat auch in der deutschen allgemeinmedizinischen Literatur das alte, ätiologisch orientierte abgelöst. Allerdings fallen einige Autoren im Kontext konkreter Anwendung immer wieder in alte, über die Phänomenologie hinaus gehende Konzepte der Depression zurück.

Schlussfolgerung: Es ist zu diskutieren, ob ein rein phänomenologisches Konzept der Depression der Situation in der Hausarztpraxis angemessen ist.

Abstract

Background: For the last 25 years a major change in the diagnostic concept of depression has happened. This development has brought the advantage of standardization but disadvantages as well: Prevalence and the use of antidepressants have increased dramatically. A discussion is going on among GPs about the diagnostic ability of instruments (questionnairs) representing the new concept. The new concept has maybe not yet reached in General Practice Context and history of development of a Symptom are not represented in the ICD-10, which is in contrast to the way GPs work. This study analyzes current publications from General Practice with regard to the question which concepts are used.

Methods: Articles from 9 textbooks and 3 German journals about depression were analyzed.

Results: Only one textbook is still referring to the „old” classification, and one textbook is using its own traditional German/Austrian Classification. The other 13 journal articles used the new concepts of ICD-10 or DSM-IV. In some of the publications the concepts were not used consistantly. When depression was not the main topic but only dealt within the context, some authors ”fell back” into the language and concepts of former classifications (like IDC-9).

Discussion: The new concept has reached German general practice concerning the definition of depression. But concrete often the old concepts are still in use.

Conclusion: Maybe the new concepts do not always suit the situation in General Practice.

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1 Der Begriff „Konzept” wird in dieser Arbeit im Sinne von „Klassifikation” oder „Schule” eng auf die theoretisch begründeten Nosologien von Krankheiten bezogen. Er soll nicht im soziologischen Sinn von „Krankheitskonzepten”, mit denen z. B. die individuellen Vorstellungen von Patienten zu ihren Krankheiten bezeichnet werden, verstanden werden.

2 Allerdings bezieht sich diese Periodenprävalenz auf 12 statt auf 6 Monate, was aber bei den meist längeren Verläufen einen geringen Unterschied macht. Studien, die z. B. sowohl Punktprävalenzen als auch Periodenprävalenzen der Depression in der Hausarztpraxis untersuchen, finden wenig Unterschiede. S. dazu z. B. Übersicht in Becker 2005 [5].

3 Die Autoren sprechen hier sogar davon, dass allein die „schweren Depressionen” jährlich über 10% der erwachsenen Bevölkerung beträfen, und dass leichte Depressionen doppelt so häufig wären. Wörtlich genommen hätte sich somit die vom Lehrbuch vermittelte Häufigkeitsannahme depressiver Störungen nochmals um ein vielfaches erhöht und wäre damit in Bereiche gekommen, die jedem Alltagsverständnis widersprechen. Es ist daher ein Übersetzungs- bzw. Interpretationsfehler (s. u.) anzunehmen. Hier ist also zunächst in einer konservativen Interpretation davon auszugehen, dass mit „schwerer Depression” die klassische Depression („major depression”) gemeint ist.

4 Selbst die Aussage, dass die Fragebögen eine Depression im Rahmen des gemeinsamen Konzepts gut abbilden können, muss jedoch relativiert werden angesichts der Tatsache, dass der positive Vorhersagewert bei den für die Hausarztpraxis geschätzten Prävalenzen der zu messenden Störung mit kaum über 50% zu verorten ist!

5 Um für jede Zeitschrift mindesten 3 Artikel einfließen lassen zu können, wurde die Suche von „Der Hausarzt” ausgeweitet und bis 2001 gesucht.

6 Dieser Effekt ist übrigens auch bei Artikeln zu erkennen, welche von psychiatrisch tätigen Autoren für ein allgemeinmedizinisches Organ geschrieben wurden (z. B. Schmidt 2003 in Tab. 3). Es ist anzunehmen, dass die beschriebene „Dissonanz” auch psychiatrisch oder psychotherapeutisch Tätige betrifft und sich nicht nur auf Hausärzte beschränkt.

7 Geänderte Version vom 12.11.2007

Korrespondenzadresse

Dr. med. M. Sielk

Abteilung für Allgemeinmedizin

Universitätsklinikum

Düsseldorf

Moorenstr. 5

40225 Düsseldorf

Email: sielk@med.uni-duesseldorf.de

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