Rehabilitation (Stuttg) 2008; 47(3): 196-197
DOI: 10.1055/s-2008-1077092
Bericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bericht über die Generalversammlung von Rehabilitation International im Oktober 2007 auf Djerba, Tunesien

Report of the Rehabilitation International General Assembly October 2007 in Djerba, TunesiaM. Schmollinger 1 , T. Golka 2
  • 1Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V., Heidelberg
  • 2Fürst-Donnersmarck-Stiftung, Berlin
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Publication Date:
13 June 2008 (online)

Bei der jährlichen Generalversammlung (Governing Assembly) von Rehabilitation International (RI) vom 22. bis 23. Oktober 2007 auf der tunesischen Mittelmeerinsel Djerba ist es nach einer mehr als zehn Jahre andauernden Diskussion gelungen, mit breiter Mehrheit das zuletzt 1996 angepasste Beitragsrecht und die Stimmrechtsordnung in diesem Hauptorgan der globalen Fachorganisation für Fragen der Teilhabe behinderter Menschen grundlegend zu reformieren.

Die Delegierten verbinden damit die Hoffnung, dass diese Reform für alle Beteiligten von Vorteil sein wird. Während nämlich bisher der Mindesteinnahmebedarf von RI aus jährlichen Mitgliedsbeiträgen allein auf der Grundlage des relativen Pro-Kopf-Sozialprodukts der einzelnen Mitgliedsländer festgelegt wurde, wird jetzt nach weiteren Kriterien differenziert, sodass u. a. auch die absoluten Bevölkerungszahlen - und somit die Zahl behinderter Menschen, die ein Land in RI repräsentiert - zählen. Mithilfe einer Gruppeneinteilung wurde zum einen sichergestellt, dass Mitgliedsstaaten mit sehr niedriger Wirtschaftskraft und gleichzeitig großen Herausforderungen im Bereich der Hilfen zur Teilhabe (d. h. den Entwicklungsländern) aus der Umstellung keine Beitragssteigerungen erwachsen und dass andererseits auch bei den größten Zahlern, z. B. bei den USA, Beitragssprünge nach oben, die eine Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft gefährden könnten, vermieden werden. Für den breiten Bereich der „mittleren Beitragszahler” wird es künftig Verschiebungen in der Beitragshöhe geben, allerdings in begrenztem Umfang. Ländern mit vergleichsweise größerem Beitragsanstieg, wie etwa den skandinavischen Mitgliedsstaaten, werden auf Antrag Übergangsfristen eingeräumt, die eine Anpassung der Zahlungen in mehreren Jahresstufen zulassen.

RI-Schatzmeister Dr. Martin Grabois hat errechnet, dass der mit der Reform verbundene Rückgang des Beitragsaufkommens von RI wohl unter 50 000 US-Dollar liegen wird und somit verkraftbar erscheint, zumal es Signale seitens einiger „Gewinner” der Reform gibt, sich weiter an der bisherigen Beitragshöhe orientieren zu wollen, d. h. eine fakultative Ausgleichsleistung zum reduzierten Pflichtbeitrag aufzubringen, die dann etwa dem Stiftungskapital der „RI Foundation” zufließen könnte.

Zugleich - und ebenfalls vom Geist der Solidarität getragen - bestimmte eine klare Mehrheit der Generalversammlung von RI, dass künftig die Anzahl der Stimmrechte zwar nicht von der Frage, ob ein Land den geschuldeten Jahresbeitrag gezahlt hat, sehr wohl aber von der Beitragshöhe entkoppelt wird. Damit können wohlhabende Länder die RI-Assembly nicht mehr dominieren, und die bisherigen Missverhältnisse - z. B. verfügte das vergleichsweise kleine Deutschland über 8 Stimmen (bei ca. 8,6 Mio. schwerbehinderten Einwohnern) gegenüber Indien mit 2 Stimmen (bei geschätzten mindestens 40 Mio. Einwohnern mit Behinderung) - sind jetzt aufgelöst. Die Stimmenzahl der Assembly wurde auch absolut verringert, da jedem Staat mit weniger als 50 Mio. Einwohnern eine Stimme und mit über 50 Mio. Einwohnern zwei Stimmrechte automatisch zuerkannt werden. Jedoch können auch kleinere Länder in Fällen, in denen das Stimmrecht auf mehrere Mitgliedsorganisationen entfällt, zwei Stimmrechte beantragen, wenn sie befürchten, kein einheitliches Abstimmungsverhalten zu erreichen.

Die Beschlüsse wurden dem Vernehmen nach auch innerhalb derjenigen Mitgliederschaft, die der Reform nicht zustimmte, weithin als tragbar und zukunftsfähig beurteilt.

Eine weitere lang anhaltende Satzungskontroverse jedoch konnte die Assembly auch dieses Mal nicht lösen. Bei dieser Kontroverse geht es um den Namen der Weltorganisation. Eine Gruppe von Mitgliedern hält den Begriff der „Rehabilitation”, der aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende stamme, für nicht mehr zeitgemäß. Dieser drücke eine dringend zu überwindende Dominanz der vorwiegend medizinisch orientierten Berufsgruppen bzw. Fachleute im Behandlungs- und Entwicklungsprozess aus und beinhalte nicht die nötige Veränderung der Gesellschaft, die „accommodation”. Der Begriff habe sprachlich einen transitiven Charakter (Rehabilitation als etwas, das mit jemandem „gemacht wird”) und mache nicht deutlich, dass Weg und Ziel von der betroffenen Person selbst - in ihrer individuellen Lage und ihrem spezifischen Umfeld - zu bestimmen seien; er stelle gegen alle Trends moderner Menschenrechtsaktion eine Art kausale Verbindung zwischen Behinderung und Menschenwert her. Übrigens ist es durchaus nicht so, dass die Kritiker des Namens „Rehabilitation International”überwiegend der Behindertenbewegung angehören, die Trennlinie im Diskurs verläuft quer durch alle beteiligten Gruppen.

Pragmatisch - und keinesfalls etwa „traditionalistisch”- argumentieren die Befürworter, die auf Djerba (noch) die Delegiertenmehrheit behielten. Der vor rund 110 Jahren aufgegriffene Begriff „Rehabilitation” sei im internationalen Sprachgebrauch endlich als Ersatz für die unhaltbar gewordenen Termini der „Behindertenfürsorge” anerkannt. Erst seit etwa 25 Jahren beginne weltweit das Verständnis dafür zu wachsen, dass Rehabilitation nicht (nur) eine fachliche Methodik, sondern vor allem den mit selbstbestimmter Teilhabe unterlegten, individuellen Rechtsanspruch bezeichnet, der an alle Gesellschaften dieser Welt gerichtet ist und dessen Ausgestaltung gleichermaßen den unteilbaren Menschenrechten wie den länderspezifischen Sozialnormen unterliege. Es bestehe deshalb keine Notwendigkeit, dieses global eingeführte „Markenzeichen” aufzugeben. Selbst wenn - wie vorgeschlagen - das Logo „RI” oder zumindest „RI global” mit einer kreativen Umbenennung z. B. in „Rights & Inclusion global” gerettet würde, sei eine Namensänderung nicht angebracht, weil das „Alleinstellungsmerkmal” des Verbandes verloren ginge; RI wolle ja weder eine unter vielen Behindertenorganisationen sein noch eine unter vielen Menschenrechtsinitiativen, sondern darlegen - zusammengefasst genau im Wort „Rehabilitation”- dass RI weltweit alle als Mitgestalter an einen Tisch bringt, die sich mit Behinderungen befassen: Betroffene und Beteiligte, Einzelne und Institutionen, freie und staatliche Akteure, Praktiker und Forscher.

Bei der Debatte um die Namensänderung wurde der Begriff „improving the quality of life” in besonderem Maße diskutiert. Das Ziel von RI sei nämlich die Verbesserung von Lebensqualität - nicht allein die Verbesserung von Gesetzen. Eine verbesserte Rechtslage für Menschen mit Behinderung sei nur ein Werkzeug auf dem Weg zu einer bestmöglichen Lebensqualität. Daher wäre das Betonen des Ziels allein einer „Rechtsorganisation RI” eher eine Einschränkung auf dem Weg zu verbesserter Lebensqualität. Insgesamt war die Debatte auch geprägt durch soziokulturelle Aspekte, die bei der Organisation der sozialen Leistungen und der Kodifizierung von Rechtsansprüchen in den einzelnen Ländern bestimmend sind, so z. B. im schwedischen Sozialstaatsmodell oder im US-amerikanischen Zivil-Rechtsmodell.

Kann man zwei Debatten aus dem Bereich der Selbstregulierung, gar der Satzung von RI als eigentliche Highlights einer Generalversammlung hervorheben? Die Autoren sind davon überzeugt - bei voller Anerkennung der Bedeutung der politischen Aufgaben von RI, wie z. B. der Förderung der Ratifizierung und Umsetzung der neuen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, oder auch von Projekt- und Tätigkeitsberichten, Veranstaltungsvorschauen oder Strategiethemen. Denn diese beiden Punkte fanden nicht nur eine lebendige Beteiligung und große Aufmerksamkeit bei den Delegierten; es spricht auch vieles dafür, dass eine rund 70 Jahre alte Organisation von Zeit zu Zeit „über sich selbst nachdenkt”!

Der Prozess der Zeichnung und Ratifizierung der UN-Konvention wird von RI übrigens durch zwei Maßnahmen im Besonderen unterstützt, zum einen durch die Anregung von „Mentorschaften” für Organisationen in Staaten, die noch nicht gezeichnet oder ratifiziert haben, zum anderen durch Materialien, die RI bereitstellt, um den Wert und Nutzen der Konvention zu verdeutlichen. Diese Materialien wurden auch in Djerba verteilt und diskutiert.

Die deutschen Delegierten - Thomas Golka von der Fürst-Donnersmarck-Stiftung und Martin Schmollinger von der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation als Vertreter des deutschen RI-Nationalsekretariats - konnten den Beschlüssen der Assembly jedenfalls zustimmen. Am Rande der Vollversammlung beteiligten sie sich natürlich auch an Sitzungen der RI Commissions, führten Gespräche z. B. zu Themen der Vorbereitung des 21. RI-Weltkongresses 2008 in Quebec, Kanada, einschließlich der dortigen Wahlen (auch für die beiden Spitzenämter der RI-Region „Europa”) und fanden sogar noch etwas Zeit für interessante Einblicke in die tunesische Rehabilitationspraxis vor Ort.

Auf Djerba ging es auch um eine wichtige Personalie: Im Spätsommer 2008 endet die Amtszeit von RI-Generalsekretär Tomas Lagerwall aus Schweden. Er hat in einem runden Jahrzehnt dieses Amt in verschiedenen Bereichen weiterentwickelt, so beispielsweise die supranationale Politikbegleitung und die bessere Vernetzung der „Szene der Fachleute” mit den globalen Menschenrechts- und Behindertenbewegungen. Mit seiner Hilfe sind vor allem auch die Kooperationsbeziehungen zur International Disability Alliance (IDA) eng geworden, deren US-Geschäftsstelle sogar im RI-Büro in der Nähe des UN-Hochhauses in New York angesiedelt ist. Die Suche nach einem Nachfolger für das Amt des Generalsekretärs ist seit einiger Zeit in vollem Gang. Spätestens im August 2008 wird in Quebec wohl Näheres über diese Nachfolge zu erfahren sein.

Korrespondenzadresse

Martin Schmollinger

Deutsche Vereinigung für Rehabilitation

Friedrich-Ebert-Anlage 9

69117 Heidelberg

Email: m.schmollinger@dvfr.de

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