CC BY-NC-ND 4.0 · Aktuelle Neurologie 2018; 45(06): 429-433
DOI: 10.1055/a-0584-5717
Aktuelles Thema
Eigentümer und Copyright © Georg Thieme Verlag KG 2018

Warum die Deutsche Gesellschaft für Neurologie einen industrieunabhängigen Kongress braucht

Why German Neurology Needs an Annual Meeting Without Industry Sponsorship
Thomas Lempert
1   Neurologische Abteilung, Schlosspark-Klinik, Berlin
,
Rudolf Wilhelm Christian Janzen
2   Ehem. Chefarzt, Frankfurt
,
Rolf R. Diehl
3   Klinik für Neurologie, Alfried Krupp Krankenhaus, Essen-Rüttenscheid
,
Erwin Stark
4   Ehem. Chefarzt, Offenbach
,
Friedemann Paul
5   AG Klinische Neuroimmunologie, NeuroCure Clinical Research Center, Charité – Universitätsmedizin, corporate member of Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, and Berlin Institute of Health, Berlin
,
Christian Wilke
6   Neurologische Praxis, Potsdam
,
Ramin Tavakolian
7   gematik, Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte, Berlin
,
Enrico Völzke
1   Neurologische Abteilung, Schlosspark-Klinik, Berlin
,
Michael von Brevern
8   Neurologische Praxis, Berlin
,
Peter Möller
9   Klinik für Neurologie und Klinische Neurophysiologie, Klinikum Weimar
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Lempert
Neurologische Abteilung, Schlosspark-Klinik
Heubnerweg 2
14059 Berlin

Publication History

Publication Date:
05 April 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Wissenschaftliche Fachkongresse müssen finanziell und inhaltlich unabhängig von kommerziellen Interessen sein. In diesem Debattenbeitrag argumentiert die Initiative NeurologyFirst für eine stärkere professionelle Autonomie und die Rückführung des Einflusses der Industrie auf den Jahreskongress der deutschen Neurologie. Unser Kernanliegen ist der Verzicht auf Industriesymposien, die vornehmlich kommerzielle Ziele verfolgen und das Produkt des Sponsors regelhaft in ein günstiges Licht setzen. Die bei Industriesymposien präsentierten Zulassungsstudien neuer Medikamente weisen oft erhebliche methodische Mängel auf, insbesondere die Selektion günstiger Studiendaten. Auch die Industrieausstellung des Kongresses erscheint problematisch, da sie im wissenschaftlichen Gewand eine werbende Absicht verfolgt. Die Lösung von der Industrie wird dazu beitragen, die Pharmakotherapie neurologischer Erkrankungen vermehrt aus der kritischen Perspektive der evidenzbasierten Medizin zu bewerten und damit den Interessen unserer Patienten besser gerecht zu werden. Dass sich auch große Kongresse ohne Unterstützung der Industrie organisieren und zu moderaten Preisen anbieten lassen, zeigen nationale und internationale Beispiele.


#

Abstract

Scientific conferences need to be independent from commercial interests. In this contribution to an ongoing debate the German initiative NeurologyFirst argues for professional autonomy and reduction of industry influence on the annual neurology meeting. Our key concern is the abolition of industry symposia which pursue mainly commercial interests and are designed to shed a favourable light on the sponsor’s product. Industry symposia are usually based on industry-sponsored studies which are often burdened with methodological shortcomings including selection of positive data. The industry exhibition appears similarly problematic as it pursues a commercial agenda in scientific clothing. Giving up industry support will help us to appraise pharmacological treatments from the perspective of evidence-based medicine and thus serve our patients. Several national and international examples demonstrate that large conferences can be organized without industry at moderate prices.


#

Auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Leipzig wurde vom DGN-Präsidium die Anregung unserer Initiative NeurologyFirst aufgegriffen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die Modelle für einen industrieunabhängigen Kongress kritisch prüfen soll. Mit seinem Editorial „Der industriefreie Kongress – der Veggie Day für die Deutsche Neurologie“ hat Professor Diener kämpferisch gegen dieses Vorhaben Stellung genommen [1]. Im Folgenden wollen wir als DGN-Mitglieder und Vertreter der Initiative NeurologyFirst begründen, warum die DGN einen industrieunabhängigen Kongress braucht.

Das gegenwärtige Finanzierungsmodell

Der jährliche DGN Kongress ist das zentrale Ereignis der deutschsprachigen Neurologie: Keine andere Veranstaltung prägt das neurologische Wissen nachhaltiger und damit die Behandlung unserer Patienten. Die Inhalte des Kongresses müssen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und möglichst frei von systematischen Verzerrungen sein.

Seit vielen Jahren ist der DGN-Kongress durch eine gestaltende Präsenz der pharmazeutischen Industrie geprägt. Die Firmen zahlen nicht nur für Messestände, Industriesymposien und Hospitality-Suiten auf dem Kongress, sondern auch für Reise- und Hotelkosten sowie Kongressgebühren einzelner Teilnehmer. Die DGN erzielt daraus Überschüsse, die den vielfältigen und durchaus nützlichen Aktivitäten der Fachgesellschaft zugutekommen. Im Jahr 2016 waren es 1,2 Millionen Euro. Dieses Modell hat zweifellos zum wirtschaftlichen, organisatorischen und politischen Erfolg der DGN beigetragen. Wir glauben gleichwohl, dass es Zeit für eine unabhängige Finanzierung unseres Kongresses ist.


#

Ziele der Wissenschaft, Ziele der Industrie

Die ärztliche Ethik zielt auf das Patientenwohl, die wissenschaftliche Professionalität auf die neutrale Erhebung und ergebnisoffene Bewertung von Daten. Das Ziel der Industrie ist der wirtschaftliche Erfolg, es geht ihr also darum, möglichst viele Medikamente zu verkaufen. Eine Kooperation mit der Industrie ist nützlich, wenn sie die primären Ziele der Medizin fördert, etwa in der klinischen Forschung bei Zulassungsstudien. Sie muss aber begrenzt werden, wenn die wirtschaftlichen Interessen der Industrie zum Risiko für das Patientenwohl und für die wissenschaftliche Neutralität werden, etwa wenn in Patienten mit chronischen Erkrankungen vorrangig ein lukratives Langzeitgeschäft gesehen wird.

Besonders problematisch erscheinen uns die Industriesymposien auf Kongressen, die von den Herstellern patentgeschützter und hochpreisiger Medikamente finanziert und organisiert werden (und an denen einige von uns auch in der Vergangenheit mitgewirkt haben). Sie sind Hybride aus Wissenschaft und Marketing, denn für sie alle gilt, zugespitzt formuliert, die Regel: Das Produkt des Sponsors gewinnt immer. Die Industrie selbst lässt an diesem instrumentellen Charakter ihrer Informationspolitik keinen Zweifel. So trägt das Buch einer erfahrenen Pharmamanagerin den Titel: „Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte – Marketinginstrument für Pharmaunternehmen“ [2]. Ähnlich heißt es in einem internen Firmendokument eines internationalen Pharmakonzerns: „Purpose of data is to support, directly or indirectly, marketing of our product“[3]. Es verwundert daher nicht, dass der Besuch gesponserter Fortbildungen mit einer häufigeren Verordnung des beworbenen Produkts assoziiert ist [4] – andernfalls wären diese Veranstaltungen aus unternehmerischer Perspektive Fehlinvestitionen.


#

Unzuverlässige Zulassungsstudien

Grundlage der meisten Industriesymposien sind die von den Herstellern konzipierten Zulassungsstudien für ihre Arzneimittel, die positive Ergebnisse im Sinne der Auftraggeber begünstigen [5] und die oft mit methodischen Mängeln behaftet sind. Dazu gehören problematische Ein- und Ausschlusskriterien, die unzureichende Randomisierung und Verblindung, Placebo statt aktiver Kontrollen trotz etablierter Standardtherapie und Surrogatmarker statt patientenrelevanter Endpunkte [6] [7]. Hinzu kommt ein Selektionsbias, der die Publikation positiver Ergebnisse favorisiert [8]. So zeigte eine Analyse von 101 Zulassungsstudien, dass nur 51 % der schweren Nebenwirkungen in den Journalpublikationen aufgeführt wurden [9]. Dementsprechend lässt sich das Sicherheitsprofil neuer Pharmaka erst spät zuverlässig einschätzen. Von 222 Neuzulassungen durch die FDA erhielten 31 % einen nachträglichen Warnhinweis – nach einem Median von 4,2 Jahren [10].

Die Auswirkungen des Publikationsbias zeigten sich beispielhaft an den SSRI-Antidepressiva. Deren anfangs euphorische Bewertung musste revidiert werden, nachdem bekannt wurde, dass fast ausschließlich die positiven Studien publiziert worden waren, während ebenso viele Negativstudien in der Schublade geblieben waren [11]. Das Antidepressivum Reboxetin erwies sich nach Jahren der verweigerten Datentransparenz durch den Hersteller schließlich als gänzlich unwirksam – bei erheblichen Nebenwirkungen [12]. Zuvor war Reboxetin, ebenso wie alle anderen neuen Antidepressiva, auf Industriesymposien von führenden Psychiatern angepriesen worden. Für den Besucher eines Industriesymposiums war und ist es schlicht nicht erkennbar, ob er die ganze Wahrheit über ein Medikament erfährt – und auch der Referent bleibt im Ungewissen, ob er nicht auf einem Hügel beerdigter Daten steht. Vor diesem Hintergrund sind Industriesymposien riskant. Die ohnehin dürftige Datengrundlage erhält hier einen zusätzlichen Spin im Sinne des Veranstalters statt nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin kritisch hinterfragt zu werden. Da die Verzerrung der Studiendaten für den Zuhörer meist nicht durchschaubar ist, kann der äußere Anschein der Wissenschaftlichkeit kein Garant für verlässliche Information sein. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Bewertungen im AMNOG-Verfahren findet kaum Eingang in die Präsentationen.


#

Risikomanagement

Arzneimittel sind eine Risikotechnologie, von der die Gesundheit und bisweilen das Leben unserer Patienten abhängt. Ähnlich wie in der Luftfahrt oder in der Kerntechnik muss die Risikominimierung weit im Vorfeld ansetzen. Akzeptiert man dieses Prinzip, dann kann der Schutz des ärztlichen Wissens nicht halbherzig, sondern nur konsequent betrieben werden – was mit Fundamentalismus nichts zu tun hat. Ein bisschen unabhängig funktioniert für einen Kongress ebenso wenig wie partiell verblindet in einer klinischen Studie, überwiegend neutral bei der Sicherheitsprüfung eines Kernkraftwerks oder sporadisch bei der Aufarbeitung von Beinahe-Unfällen von Passagierflugzeugen. Auch einem Richter, Schiedsrichter oder Gutachter wird nicht freigestellt, ob er sich an die strenge Norm der Neutralität hält. Die deutschen Ärztekammern und die europäische Akkreditierungsstelle EACCME beurteilen Industriesymposien im Hinblick auf diese professionell gebotene Neutralität und vergeben dafür bereits seit Jahren keine CME-Punkte.


#

Bevormundung

Natürlich werden auf den Industriesymposien auch gute wissenschaftliche Vorträge gehalten. Die hohen Besucherzahlen der Industriesymposien sind jedoch kaum als Beleg ihrer Qualität zu deuten, da sie vornehmlich andere Gründe haben:

  • die Verpflichtung der einzelnen Teilnehmer gegenüber ihren Kongress-Sponsoren, die nach dem Mechanismus der Reziprozität funktioniert (Do ut des = ich gebe, damit Du gibst). Das Reziprozitätsprinzip ist ein Grundpfeiler des menschlichen Soziallebens. Es gilt für alle Menschen, auch die Verfasser dieses Artikels. Dass man sich selbst für immun hält, schützt nachweislich nicht vor dieser Art der Beeinflussung [13],

  • die Alternativlosigkeit, finden die Industriesymposien doch regelhaft in einem konkurrenzlosen Zeitabschnitt zur Tagesmitte statt,

  • die renommierten Referenten, die natürlich ebenso gut im Hauptprogramm des Kongresses oder bei der Fortbildungsakademie sprechen können.

Die Lenkung der Kongressteilnehmer in den Hafen der Industrie kann man durchaus als bevormundend empfinden. Die DGN plant bereits, Themen zurück in das DGN-Programm zu holen, die bislang überwiegend in den Industriesymposien behandelt wurden.


#

Industrieausstellung

Die Industrieausstellung des Kongresses hat nach den Vorgaben des DGN-Präsidiums bereits einen Wandel durchgemacht. Lärmige Gewinnspiele sind ebenso verschwunden wie das Anlocken der Besucher durch Geschenke oder duftende Waffeln. Das Mittagessen wird nun firmenunabhängig zu moderaten 5 € angeboten. Noch immer präsentieren sich die Firmen jedoch mit zweistöckigen Messebauten größer und auffälliger als die veranstaltende Fachgesellschaft. Brauchen wir die Firmen – oder brauchen sie uns? Oft wird die Präsenz der Firmen mit der Vermittlung von Informationen gerechtfertigt, obwohl offensichtlich ist, dass die Firmenkommunikation auf Verordnungssteigerung und nicht primär auf das Patientenwohl ausgerichtet ist. In der Wissenschaft werden Daten und ihre Interpretation publiziert, das heißt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Da bleibt wenig Raum für ein besonderes Wissen, das man nur am Firmenstand vermittelt bekommt.

Anders verhält es sich mit Medizingeräten: Hier braucht man direkte Anschauung und Erläuterung, oft auch das eigene Ausprobieren, um eine fundierte Entscheidung für eine Beschaffung zu treffen. In dieser Funktion hat der Jahreskongress einen Messecharakter, der erhalten bleiben muss. Das Gleiche gilt für die Präsenz der Patientenverbände und Buchhändler, die den Kongress sinnvoll ergänzt. Perspektivisch hat der Verzicht auf Industriesymposien zunächst Vorrang vor der Verkleinerung und schließlich dem Verzicht auf die Ausstellung der Arzneimittelhersteller, weil die Einflussnahme auf das ärztliche Wissen bei den Industriesymposien direkter und weniger nachprüfbar ist.


#

Was machen die anderen?

Ist es wirklich so, dass wir als einzige Fachgesellschaft über einen industrieunabhängigen Kongress nachdenken? Wenn man auf die pharmakotherapeutisch aktiven Fächer schaut, mag das so aussehen: Weder in der Kardiologie, Diabetologie, Rheumatologie noch Onkologie gibt es darüber eine ernsthafte Diskussion. Die von Medizinethikern und führenden Vertretern der US-Fachgesellschaften bereits 2009 vorgeschlagene „Zero-dollar-strategy“ hat hier wenig Resonanz gefunden [14]. Weitet man den Blick, wird jedoch deutlich, dass die Industriefinanzierung die eigentliche Anomalie ist, nicht die Unabhängigkeit von der Industrie. Keine andere Berufsgruppe lässt sich von einem Industriezweig so umfassend alimentieren wie die Ärzteschaft. Richter, Journalisten, Lehrer, Wissenschaftler und Schiedsrichter achten auf ihre Unabhängigkeit, um die Glaubwürdigkeit ihres Berufsstands zu schützen. Psychologen, Pflegekräfte und Krankengymnasten haben keine Sponsoren, um ihre mitunter kostspieligen Fortbildungen zu finanzieren.

Innerhalb der Ärzteschaft sind die industriefernen Fachgruppen schon lange finanziell autark, das gilt beispielsweise für die Pathologen, Epidemiologen und selbst für Spezialgebiete innerhalb der Neurologie wie die Elektrophysiologie oder Neuro-Otologie. Keine dieser Fachgruppen klagt, dass sie sich aufgrund finanzieller Nöte nicht angemessen fortbilden könne. Die deutschen neurologischen Chefärzte tagen ohne Industriegelder (neuerdings mit Unterstützung der DGN) und auch die Berliner Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie mit ihren 400 Mitgliedern ist seit Jahren industrieunabhängig. Auch auf der Ebene großer Kongresse lässt sich die Unabhängigkeit verwirklichen: Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) organisiert ihren dreitägigen Kongress traditionell ohne Unterstützung der pharmazeutischen Industrie, die American Psychiatric Association verzichtet seit 2009 auf Industriesymposien [15] und ab 2018 wird die European Stroke Conference die Industriefinanzierung hinter sich lassen [16].


#

Finanzielle Auswirkungen

Die Unabhängigkeit von der Industrie wird ihren Preis haben. Anders als oft behauptet werden jedoch die Kongressgebühren nicht wesentlich steigen, vielmehr werden wir auf die Überschüsse aus den Kongressen verzichten. Die DEGAM bietet ihren 3-tägigen Jahreskongress für moderate 280 € an, die man auch noch von der Steuer absetzen kann. Die fehlenden Überschüsse werden sicherlich auch manche sinnvolle Aktivität der DGN beschneiden. Der Fantasie einer DGN-Geschäftsstelle mit 150 Mitarbeitern werden aber nur wenige Mitglieder nachträumen. Am Ende wird die DGN so stark sein, wie sie von ihren inzwischen über 8000 Mitgliedern gemacht wird. Zu behaupten, wir kämen ohne die Industriegelder nicht aus, beschriebe eine existenzielle Abhängigkeit und käme einer Bankrotterklärung einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft gleich.


#

Die Versicherten zahlen die Rechnung

Zur finanziellen Analyse gehört auch die Frage, wer die Rechnung bezahlt. Unsere Kongresse werden derzeit überwiegend aus den Marketingetats der Arzneimittelindustrie finanziert. Diese werden wiederum aus den Arzneimittelumsätzen gespeist. Gezahlt haben dafür alle Versicherten mit ihren Beiträgen. Am Ende sind sie es also, die ohne ihre Zustimmung wissenschaftlich fragwürdige Fortbildungen finanzieren müssen, die im Wesentlichen darauf abzielen, dass noch mehr hochpreisige Arzneimittel verordnet werden. Aus den gleichen Etats werden die Kongressgebühren, Hotelkosten, die Anreise und die Mahlzeiten vieler Teilnehmer erstattet. Ist es die Pflicht der Versicherten, ihren Ärzten den Pharmaschinken zu spendieren? Das Sozialgesetzbuch sagt „nein“, indem es die Verwendung der Versichertengelder unter das Gebot der Wirtschaftlichkeit stellt (§ 12) und im Einklang mit unserer Berufsordnung festlegt, dass ärztliche Fortbildung frei von wirtschaftlichen Interessen sein muss (§ 95 d).


#

Demokratischer Prozess

Die Willensbildung zur zukünftigen Kongressstruktur sollte mit kollegialem Verständnis und demokratisch ablaufen – auch wenn die Mitglieder der Fachgesellschaften wenig zu entscheiden hatten, als sich die Kommerzialisierung medizinischer Kongresse in den vergangenen Jahrzehnten entfaltete. Zu dieser Willensbildung gehören aus unserer Sicht: eine Arbeitsgruppe, die verschiedene Optionen auf ihre Machbarkeit und Finanzierbarkeit prüft, eine offene Diskussion der Vorschläge und eine repräsentative Mitgliederversammlung, die nicht durch gleichzeitige Konkurrenzveranstaltungen ausgedünnt wird. Eine Online-Information der Mitglieder über die Pro- und Kontra-Argumente mit anschließender elektronischer Abstimmung kann die Basis der Entscheidung erheblich verbreitern. Sie würde auch jüngere Ärztinnen und Ärzte vor Befangenheit schützen. Ein solcher Prozess käme der demokratischen und partizipativen Kultur unserer Fachgesellschaft zweifellos zugute.


#

Selbstbewusster Dialog mit der Industrie

Die Zusammenarbeit mit der Industrie wird auch in Zukunft unverzichtbar sein, insbesondere wenn es um die klinische Prüfung neuer Arzneimittel geht. Auf den Kongressen wird es einen neuen Rahmen für den Dialog mit den Ärzten, Pharmakologen und Methodikern aus der Industrie geben müssen. Dabei wird es nicht mehr um unsere Fortbildung durch die Industrie gehen, sondern um ganz andere Fragen: Welche Anforderungen stellen wir als Neurologen an gute Studien? Wie lässt sich Bias reduzieren? Was sind vordringliche Themen für die Arzneimittelentwicklung? Welche Endpunkte sind patientenrelevant? Wie können Patienten sinnvoll in die Studienplanung einbezogen werden? Werden alle Studiendaten offengelegt? Was müssen wir über Nebenwirkungen und Interaktionen wissen? Welche Studienformate sind nach der Marktzulassung erforderlich und ethisch akzeptabel? Welches Preisniveau ist für neue Medikamente gerechtfertigt? Diese neuen Perspektiven erfordern die Unabhängigkeit von der Industrie – im Denken, Reisen und Speisen.


#
#

Interessenkonflikt

Thomas Lempert ist ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und dort im Fachausschuss für Transparenz und Unabhängigkeit in der Medizin aktiv.
Erwin Stark besitzt Aktien von Bayer, Fresenius, Sanofi, Perrigo und Prothena im Wert von insgesamt weniger als 10 000 €.
Rudolf WC Janzen besitzt Aktien von Aventis und Bayer im Wert von etwa 17 000 €. Er ist ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und dort im Fachausschuss für Transparenz und Unabhängigkeit in der Medizin aktiv.
Friedemann Paul hat wissenschaftliche Beratungen für Novartis, SanofiGenzyme, Biogen Idec, MedImmune, Shire und Alexion durchgeführt. Er erhielt Vortragshonorare und Reisekosten von Bayer, Novartis, Biogen Idec, Teva, Sanofi-Aventis/Genzyme, Merck-Serono, Alexion, Chugai, MedImmune, and Shire; SanofiGenzyme, Biogen Idec, MedImmune,Shire und Alexion. Er bekam Forschungsunsterstützung von Bayer, Novartis, Biogen Idec, Teva, Sanofi-Aventis/Genzyme, Alexion, Merck-Serono. Er ist außerordentliches Mitglied der Arzneimiottelkommission der deutschen Ärzteschaft.
Michael von Brevern ist außerordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.
Die anderen Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Diener HC. Der industriefreie DGN-Kongress – der Veggie Day für die Deutsche Neurologie. Akt Neurol 2017; 44: 600-601
  • 2 Schwetzel J. Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte – Marketinginstrument für Pharmaunternehmen. Hamburg: Diplomica Verlag; 2010
  • 3 Spielmans GI, Parry PI. From evidence-based to marketing-based medicine. Evidence from internal industry documents. Bioethical Inquiry 2010; DOI: 10.1007/s11673-010-9208-8.
  • 4 DeJong C, Aquilar T, Tseng CW. et al. Pharmaceutical industry-sponsored meals and physician prescribing patterns for Medicare beneficiaries. JAMA Intern Med 2016; 176: 1114-1122
  • 5 Lundh A, Lexchin J, Mintzes B. et al. Industry sponsorship and research outcome. Cochrane Database Syst Rev 2017; 2: MR000033
  • 6 Downing NS, Aminawung JA, Shah ND. et al. Clinical trial evidence supporting FDA approval of novel therapeutic agents, 2005–2012. JAMA 2014; 311: 368-377
  • 7 Stamatakis E, Weiler R, Ioannidis JP. Undue industry influences that distort healthcare research, strategy, expenditure and practice: a review. Eur J Clin Invest 2013; 43: 469-475
  • 8 Dwan K, Gamble C, Williamson PR. Systematic review of the empirical evidence of study publication bias and outcome reporting bias – an updated review. PLoS One 2013; 8: e66844
  • 9 Wieseler B, Wolfram N, McGauran N. et al. Completeness of reporting of patient-related outcomes. PLoS Medicine 2013; 10: e1001526
  • 10 Downing NS, Shah ND, Aminawung JA. et al. Postmarketing safety events among novel therapeutics approved by the US Food and Drug Administration between 2001 and 2010. JAMA 2017; 317: 1854-1863
  • 11 Turner 1 EH, Matthews AM, Linardatos E. et al. Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008; 358: 252-260
  • 12 Eyding D, Lelgemann M, Grouven U. et al. Reboxetine for acute treatment of major depression: systematic review and meta-analysis of published and unpublished placebo and selective serotonin reuptake inhibitor controlled trials. BMJ 2010; 341: c4737
  • 13 Felser G, Klemperer D. Psychologische Aspekte von Interessenkonflikten. In: Lieb K, Klemperer D, Ludwig WD. Hrsg. Interessenkonflikte in der Medizin. Berlin: Springer; 2011
  • 14 Rothman DJ, McDonald WJ, Berkowitz CD. et al. Professional medical associations and their relationships with industry: a proposal for controlling conflict of interest. JAMA 2009; 301: 1367-1372
  • 15 FierceBiotech. The American Psychiatric Association phases out industry-supported symposia. Im Internet: www.fiercebiotech.com/biotech/american-psychiatric-association-phases-out-industry-supported-symposia [Stand 03.12.2017]
  • 16 European Stroke Conference. A vision becomes reality. Im Internet: http://eurostroke.eu/27-esc-2018-vision-becomes-reality [Stand: 03.12.2017]

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Lempert
Neurologische Abteilung, Schlosspark-Klinik
Heubnerweg 2
14059 Berlin

  • Literatur

  • 1 Diener HC. Der industriefreie DGN-Kongress – der Veggie Day für die Deutsche Neurologie. Akt Neurol 2017; 44: 600-601
  • 2 Schwetzel J. Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte – Marketinginstrument für Pharmaunternehmen. Hamburg: Diplomica Verlag; 2010
  • 3 Spielmans GI, Parry PI. From evidence-based to marketing-based medicine. Evidence from internal industry documents. Bioethical Inquiry 2010; DOI: 10.1007/s11673-010-9208-8.
  • 4 DeJong C, Aquilar T, Tseng CW. et al. Pharmaceutical industry-sponsored meals and physician prescribing patterns for Medicare beneficiaries. JAMA Intern Med 2016; 176: 1114-1122
  • 5 Lundh A, Lexchin J, Mintzes B. et al. Industry sponsorship and research outcome. Cochrane Database Syst Rev 2017; 2: MR000033
  • 6 Downing NS, Aminawung JA, Shah ND. et al. Clinical trial evidence supporting FDA approval of novel therapeutic agents, 2005–2012. JAMA 2014; 311: 368-377
  • 7 Stamatakis E, Weiler R, Ioannidis JP. Undue industry influences that distort healthcare research, strategy, expenditure and practice: a review. Eur J Clin Invest 2013; 43: 469-475
  • 8 Dwan K, Gamble C, Williamson PR. Systematic review of the empirical evidence of study publication bias and outcome reporting bias – an updated review. PLoS One 2013; 8: e66844
  • 9 Wieseler B, Wolfram N, McGauran N. et al. Completeness of reporting of patient-related outcomes. PLoS Medicine 2013; 10: e1001526
  • 10 Downing NS, Shah ND, Aminawung JA. et al. Postmarketing safety events among novel therapeutics approved by the US Food and Drug Administration between 2001 and 2010. JAMA 2017; 317: 1854-1863
  • 11 Turner 1 EH, Matthews AM, Linardatos E. et al. Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008; 358: 252-260
  • 12 Eyding D, Lelgemann M, Grouven U. et al. Reboxetine for acute treatment of major depression: systematic review and meta-analysis of published and unpublished placebo and selective serotonin reuptake inhibitor controlled trials. BMJ 2010; 341: c4737
  • 13 Felser G, Klemperer D. Psychologische Aspekte von Interessenkonflikten. In: Lieb K, Klemperer D, Ludwig WD. Hrsg. Interessenkonflikte in der Medizin. Berlin: Springer; 2011
  • 14 Rothman DJ, McDonald WJ, Berkowitz CD. et al. Professional medical associations and their relationships with industry: a proposal for controlling conflict of interest. JAMA 2009; 301: 1367-1372
  • 15 FierceBiotech. The American Psychiatric Association phases out industry-supported symposia. Im Internet: www.fiercebiotech.com/biotech/american-psychiatric-association-phases-out-industry-supported-symposia [Stand 03.12.2017]
  • 16 European Stroke Conference. A vision becomes reality. Im Internet: http://eurostroke.eu/27-esc-2018-vision-becomes-reality [Stand: 03.12.2017]