Schlüsselwörter
Psychotherapie - Gerechtigkeit - Verbitterung - Lebensbelastung - Ressourcen
Key words
psychotherapy - belief in a just world - embitterment - burdens in life - Resources
Einleitung
Im der der Entwicklungspsychologie und Psychologie der Lebensspanne ist das Thema
„Weisheit“ zu einem eigenen psychologischen Forschungsschwerpunkt geworden [1]
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[10]. Weisheit ist definiert als Expertise im Umgang mit schwerwiegenden und unveränderbaren
Problemen des Lebens, die sich insbesondere bei Fragen der Lebensgestaltung, Lebensplanung
und Lebensdeutung zeigt und eine Adaptation an komplexe situative-, umweltbezogene-,
und personenbezogene Anforderungen ermöglicht [1]
[8]. Sie ist jedem Menschen zu eigen und ist eine Fähigkeit, mittels der Widersprüche
in schwierigen Situationen zu bewältigen oder Konsequenzen einer Handlung für sich
selbst und andere realistisch abgewogen werden können [11]. Weisheit ist nötig, um in schwierigen Situationen eine Balance zwischen intrapersonellen,
interpersonalen und institutionellen Interessen herzustellen. Ein wichtiges Kriterium
in der Definition weisheitsbezogenen Wissens und Urteilens ist die existenzielle Dimension
bezogen auf die fundamentale Pragmatik des Lebens, die das Wissen um lebenslange Veränderungen
bzw. Entwicklungen, die Begrenztheit des eigenen Wissens und der körperlichen Existenz,
die soziale Vernetztheit des Lebens, die Berücksichtigung von unveränderbaren, unverständlichen
Grundgegebenheiten (z. B. Geburt und Tod) sowie konkrete Kenntnisse über Lebensaufgaben
und Lebensziele mit einschließt. Als Ressource zur Konflikt- bzw. Stressbewältigung
steht Weisheit rigiden, dogmatischen und unflexiblen Denkweisen gegenüber [11].
Zusammenfassend kann Weisheit als spezielle Form einer Problemlösefähigkeit verstanden
werden. Sie ist eine wichtige Ressource nicht nur im Umgang mit schwierigen Lebenssituationen,
sondern auch in der Alltagsbewältigung und sogar Alltäglichkeiten, wie z. B. beim
Einkaufen im Supermarkt. Auch dort stellen sich Dilemmata, bspw., ob man eher ein
hochwertiges aber teures Produkt oder ein preiswertes No-Name-Produkt kaufen soll.
Es gibt keine eindeutige oder richtige Antwort, sondern es sind mehrdimensionale,
komplexe Überlegungen erforderlich, ohne je Eindeutigkeit erreichen zu können. Weisheit
ist somit ein allgemeiner Resilienzfaktor und ist ähnlich wie Selbstwirksamkeit oder
soziale Unterstützung für die Bewältigung von Lebensanforderungen und -belastungen
aller Art hilfreich bzw. nötig ist. Von daher ist es eine psychologische Dimension
mit unmittelbarer Bedeutung für die Psychotherapie [13]. Es konnte gezeigt werden, dass Weisheit, analog zur Selbstsicherheit oder anderen
psychischen Kompetenzen, lernbar und trainierbar ist. Damit ergab sich die Möglichkeit,
die Förderung von Weisheit auch zum Psychotherapieziel zu machen. Von Linden und Kollegen
[14]
[15] wurden unter dem Titel der „Weisheitstherapie“ hierfür einige psychotherapeutische
Strategien beschrieben und auch in ersten Studien auf Wirksamkeit untersucht.
Weisheit ist ein mehrdimensionales Konstrukt [12], so wie auch soziale Kompetenz. Fasst man die verschiedenen Definitionsansätze in
der Weisheitsforschung zusammen, dann lassen sich im Wesentlichen 12 Subdimensionen
nennen [4] ([Tab. 1]). Weisheit in Bezug auf den „Blick auf die Welt“ schließt die Kompetenzen „Fakten-
Problemlösewissen“, „Kontextualismus“ und „Wertrelativismus“ ein. Dimensionen mit
„Blick auf andere Menschen“ sind „Perspektivenübernahme“ und „Empathie“. Zum „Blick
auf die eigene Person“ gehören „Problem- und Anspruchsrelativierung“, „Selbstrelativierung“
und „Selbstdistanz“. Der „Blick auf das eigene Erleben“ schließt die „Emotionswahrnehmung
und Akzeptanz“ sowie „Emotionale Serenität im Sinne emotionaler Gelassenheit und Steuerungsfähigkeit
sowie Humor“ mit ein. Der „Blick auf die Zukunft“ umfasst „Ungewissheitstoleranz“
und „Nachhaltigkeit“. Auch wenn die einzelnen Dimensionen nicht immer eindeutig trennscharf
sind, so ermöglicht die Abgrenzung der verschiedenen Konstituenten der Weisheit unmittelbar
auch Trainings- und Therapieinterventionen.
Tab. 1 Weisheitskompetenzen.
A. Blick auf die Welt
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1. Fakten- und Problemlösewissen generelles und spezifisches Wissen um Probleme und Problemkonstellationen, was Probleme
konstituiert und welche Möglichkeiten der Problemlösung es gibt.
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2. Kontextualismus Wissen um die zeitliche und situative Einbettung von Problemen und die zahlreichen
Umstände, in die ein Leben eingebunden ist.
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3. Wertrelativismus Wissen um die Vielfalt von Werten und Lebenszielen und die Notwendigkeit, jede Person
innerhalb ihres Wertesystems zu betrachten, ohne dabei eine kleine Anzahl universeller
Werte aus dem Auge zu verlieren.
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Blick auf andere Menschen
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4. Perspektivwechsel Fähigkeit zum Beschreibung eines Problems aus der Sichtweise verschiedener daran beteiligter
Personen.
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5. Empathie Fähigkeit, sich in das emotionale Erleben einer anderen Person hineinversetzen zu
können.
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Blick auf die eigene Person
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6. Problem- und Anspruchsrelativierung Fähigkeit zur Bescheidenheit und zur Akzeptanz, dass die eigenen die eigenen Probleme
im Vergleich mit vielen Problemen der Welt nicht so wichtig genommen werden dürfen.
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7. Selbstrelativierung Fähigkeit zu akzeptieren, dass man selbst nicht immer am wichtigsten ist und vieles
nicht nach dem eigenen Willen läuft oder sich an den eigenen Interessen orientiert.
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8. Selbstdistanz Fähigkeit, die Wahrnehmungen und Bewertungen der eigenen Person aus der Sicht anderer
Menschen erkennen und nachvollziehen zu können.
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Blick auf das eigene Erleben
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9. Emotionswahrnehmung und Emotionsakzeptanz Fähigkeit zur Wahrnehmung und Akzeptanz eigener Gefühle.
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10. Emotionale Serenität und Humor Fähigkeit zur emotionalen Ausgeglichenheit, zur Steuerung der eigenen Emotionen nach
Situationserfordernissen sowie die Fähigkeit, sich selbst und die eigenen Schwierigkeiten
mit Humor zu betrachten.
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Blick auf die Zukunft
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11. Ungewissheitstoleranz Wissen um die dem Leben inhärente Ungewissheit bezüglich Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft.
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12. Nachhaltigkeit Wissen um negative und positive Aspekte jedes Geschehens und Verhaltens, sowie kurz-
und langfristige Konsequenzen, die sich auch widersprechen können.
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Es gibt eine Reihe von Instrumenten zur Operationalisierung, Erfassung und Quantifizierung
von Weisheit. Die „Practical Wisdom Scale“ (PWS) von Wink und Helson [16] ist eine Adjektiv-Checkliste mit vierzehn weisheitsbezogenen (z. B. „reflective“,
„clearthinking“, „mature“) und vier weisheitsfernen Eigenschaften (z. B. „intolerant“,
„reckless“ und „shallow“). Das „Transcendent Wisdom Rating“ (TWR) [16] ist eine inhaltsanalytische Fremdbeurteilung, der frei formulierten Antworten, die
Probanden auf die Frage geben: „Viele Menschen hoffen mit dem Alter weiser zu werden.
Können Sie ein Beispiel nennen, wie Sie selbst zu mehr Weisheit kamen?”. Die Antworten
werden von Experten auf einer 5-stufigen Skala beurteilt. Die 3-dimensionale Weisheitsskala
(3-d WS) von Ardelt [17] erfasst anhand von 39 Items 3 Komponenten, d. h. eine kognitive Dimension (14 Items;
„I am hesitant about making important decisions after thinking about them“), eine
reflektive Dimension (12 Items; „I always try to look at all sides of a problem”),
und eine affektive Komponente (13 Items; „sometimes I don’t feel very sorry for other
people when they are having problems”). Die Self-Assessed Wisdom Scale (SAWA) [18]
[19] soll Weisheit als „competence in, intention to and application of critical life
experience to facilitate the optimal development of self and others” beschreiben [19]
[20]. Die Erfassung von Weisheit erfolgt über 5 miteinander verknüpfte Persönlichkeitsdimensionen,
d. h. „experience“, die Lebenserfahrung mit schwierigen und die Moral betreffenden
Lebensereignissen, „emotion regulation“, die Möglichkeit starke und subtile Emotionen
zu empfinden und damit umgehen zu können, „reminiscence and reflectiveness“, die Fähigkeit
und Motivation über das Leben intensiv nachzudenken, sich mit der eigenen Identität
auseinanderzusetzen und mit Problemen umgehen zu können, „openess“, das Interesse
an neuen Möglichkeiten, Perspektiven und Problemlösestrategien sowie „humor“, die
Fähigkeit auch in ernsten Situationen komische Aspekte zu sehen. Die Autorin berichtet
eine akzeptable Reliabilität über Cronbach’s Alpha von 0,78 für die Gesamtskala. Im
„Adult Self-Transcendence Inventory“ (ASTI) [21] wird Weisheit mit 18 Items operationalisiert durch 4 Eigenschaften „Selbsterkenntnis
(„self-knowledge“), „Distanziertheit („detachment“), „Integration“ („integration“)
und „Selbsttranszendenz“ („self-transcendence“). Selbsttranszendenz wird als zentrale
Komponente der Weisheit angesehen im Sinne einer Fähigkeit zur Entwicklung von Spiritualität,
der Eigenständigkeit des Selbst und einem Gefühl von Verbundenheit mit der Vergangenheit
und Zukunft, welche als angeborenes Streben nach der Ergründung eines Lebenssinns
gesehen wird. Um die vorgenannten 12 Weisheitsdimensionen systematisch erfassen zu
können, wurde die 12-WD-Skala entwickelt, die im Folgenden näher beschrieben wird
und erstmalig in der vorliegenden Untersuchung verwendet wurde.
Trotz der grundsätzlichen Bedeutung von Weisheit für die Lebensbewältigung und trotz
der Möglichkeit, Weisheit im Sinne eines Resilienzfaktors trainieren und psychotherapeutisch
nutzen zu können, gibt es bislang nur ansatzweise eine systematische Übertragung dieser
grundlagenwissenschaftlichen Forschungsergebnisse in die klinische Praxis. In einem
ersten Schritt interessiert die Frage, wie sich Weisheit in klinischen Populationen
verteilt und welche Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß subjektiver Weisheitseinstellungen
und der Lebensbewältigung zu finden sind. Dies wurde in der vorliegenden Studie u.
W. erstmals unter Einsatz der 12-WD-Skala an einer klinischen Stichprobe untersucht.
Methode
Stichprobe und Untersuchungsdurchführung
Die Untersuchung wurde an einer Psychosomatischen Rehabilitationsklinik (Heinrich
Heine Klinik, Potsdam) durchgeführt. Die Klinik behandelt Patienten aus dem gesamten
Spektrum psychischer Störungen, mit Schwerpunkt auf den affektiven Erkrankungen und
Persönlichkeitsstörungen. Patienten werden über Vermittlung der Renten- und Krankenversicherungen
zugewiesen wegen Problemen mit der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.
Die Fragebögen, die in die vorliegende Untersuchung eingingen, wurden den Patienten
im Rahmen der routinemäßigen Eingangsuntersuchung vorgelegt. Es erfolgte keine spezielle
Patientenselektion und es gab keine Drop-outs. Die Datenerhebung fand in einem Zeitraum
von 2 Monaten statt.
Instrumente
Als Indikator der allgemeinen Lebensbewältigung wurde die „Differentielle Lebensbelastungsskala“
(DLB-Skala) [22] eingesetzt. Sie erfasst mit 17 Items über alle wichtigen Lebensbereiche hinweg das
subjektive Belastungserleben. Es wird vorgegeben: „Wenn ich an das Thema XY (z. B.
Familie) denke, sind meine Gefühle (..)“, gefolgt von dem Rating: „1=sehr negativ“
bis „6=sehr positiv“ getroffen. Es kann ein Durchschnittsscore über alle Items hinweg
gebildet werden, der den Grad des allgemeinen Stresserlebens bzw. der erfahrenen Lebensbelastung
repräsentiert.
Als Dimension, für die ein direkter Zusammenhang mit unzureichenden Weisheitskompetenzen
angenommen wird, wurde die PTED Skala (Posttraumatic Embitterment Scale) [23] verwendet. Sie erfasst anhand von 20 Items belastungsabhängige Verbitterungsreaktionen.
Der Einleitungssatz lautet: „In den letzten Jahren hatte ich ein einschneidendes Lebensereignis
zu verkraften (..)“ und darauf folgend z. B. „(..), das in mir Gedanken an Rache auslöst“.
Ein PTED Score von≥2,5 spricht für eine klinisch bedeutsame Verbitterungstendenz [23].
Die „Allgemeine Gerechte-Welt-Skala“ (GWAL) [24] ist ein Selbstbeurteilungsbogen mit 6 Items zur Erfassung der Gerechtigkeitsüberzeugungen
einer Person. Dieses Konstrukt hat einen unmittelbaren theoretischen Zusammenhang
zu Weisheit. Ein Beispielitem lautet: „Ich glaube, dass die Leute im Großen und Ganzen
das bekommen, was ihnen gerechterweise zusteht“. Die Ratings werden auf einer 6-stufigen
Skala von „1=stimmt genau“ bis „6=stimmt überhaupt nicht“ eingeschätzt. Ein Skalenwert
kann über den Mittelwert bestimmt werden.
Die 12-WD-Skala (Skala zur Erfassung von 12 Weisheitsdimensionen) ist eine Neuentwicklung
in Anlehnung an die vorgenannten 12 Weisheitsdimensionen [4]. Aus einem Itempool von zunächst 237 Items wurden mittels der Delphi-Methode [25] 36 Items ausgewählt, die den theoretischen Definitionen der Weisheitsdimensionen
entsprachen. Im Anschluss wurden mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse 12 Items
extrahiert, indem für jede Dimension das Item mit der höchsten semipartiellen Korrelation
mit dem jeweiligen Faktor ausgewählt wurde. Die finale Version der 12-WD-Skala ist
in [Tab. 2] dargestellt. Es wird als Instruktion vorgegeben: „Im Folgenden finden Sie ganz unterschiedliche
Aussagen und Leitsätze dazu, wie Menschen auf Schwierigkeiten und Lebensbelastungen
reagieren können. Sie werden wahrscheinlich einigen Aussagen sehr zustimmen und andere
stark ablehnen. Bei wieder anderen sind Sie vielleicht unentschieden. Nehmen Sie bitte
zu jeder der folgenden Aussagen Stellung und entscheiden Sie, inwieweit jede auf Sie
ganz persönlich zutrifft“. Die Items werden auf einer 6-stufigen Likert-Skala (1=stimmt
überhaupt nicht; 2=stimmt weitgehend nicht; 3=stimmt eher nicht; 4=stimmt ein wenig;
5=stimmt weitgehend; 6=stimmt genau) beurteilt. Die Items fragen nach generellen Einstellungen
zu Aussagen wie „Nach meiner Meinung soll jeder auf seine Art glücklich werden“. Der
Fragebogen erfasst, mit theoretischer Referenz zu den 12 Subkomponenten, weisheitsbezogene
Einstellungen, was nicht unmittelbar mit weisheitskompetentem Verhalten gleichgesetzt
werden kann.
Tab. 2 Die 12-WD-Skala.
Im Folgenden finden Sie ganz unterschiedliche Aussagen und Leitsätze dazu, wie Menschen
auf Schwierigkeiten und Lebensbelastungen reagieren können. Sie werden wahrscheinlich
einigen Aussagen sehr zustimmen und andere stark ablehnen. Bei wieder anderen sind
Sie vielleicht unentschieden. Nehmen Sie bitte zu jeder der folgenden Aussagen Stellung
und entscheiden Sie inwieweit jede auf Sie ganz persönlich zutrifft
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Stimmt überhaupt nicht
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Stimmt weitgehend nicht
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Stimmt eher nicht
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Stimmt ein wenig
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Stimmt weitgehend
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Stimmt genau
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1. Bevor ich auf ein Problem reagiere, ist es mir wichtig, erst einmal zu verstehen,
worin das Problem besteht
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2. Was gut oder schlecht ist, hängt wesentlich von den Rahmenbedingungen ab
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3
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4
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3. Nach meiner Meinung soll jeder auf seine Art glücklich werden
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3
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4
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4. Für mich ist es interessant sich zu überlegen, was andere zu einem Thema denken
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3
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5. Ich versuche immer mitzufühlen, wie mein Gegenüber sich fühlt
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3
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5
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6. Wenn man zufrieden ist mit dem, was man hat, dann geht es einem besser, als wenn
man dem nachweint, was man nicht hat
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3
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4
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5
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7. Ich versuche mich nach Möglichkeit nicht so ernst zu nehmen
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1
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3
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4
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5
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6
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8. Ich kann nicht erwarten, dass andere mich mögen, wenn ich mich nicht entsprechend
benehme
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4
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9. Ich kann nicht verlangen, immer nur guter Stimmung zu sein
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2
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3
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4
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10. Ich versuche mich nach Möglichkeit nicht aufzuregen, denn man hat ja nicht davon,
wenn man sich selbst aufregt
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3
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4
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5
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6
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11. Ich gehöre zu den Menschen, die sagen, es kommt, wie es kommt
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3
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4
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5
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6
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12. Ich sehe Krisen immer auch als Chance für die Zukunft
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2
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3
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4
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5
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6
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Ergebnisse
Es standen Fragebögen von 202 unausgelesenen Patienten zur Verfügung. Davon waren
71,8% (N=145) weiblich, das Durchschnittsalter betrug 50 Jahre (M=50,02; SD=9,52),
21,6% (N=43) waren ledig, 58,3% (N=116) verheiratet, 17,6% (N=35) geschieden und 2,5%
(N=5) verwitwet. 2% (N=4) hatten keinen Schulabschluss, 22,5% (N=51) einen Haupt-
bzw. Sonderschulabschluss, 34,2% (N=69) eine mittlere Reife bzw. eine abgeschlossene
Berufsausbildung, 17,3% (N=35) das Abitur und 21,3% (N=43) einen universitären Abschluss.
Die Erstdiagnosen bei Aufnahme waren affektive Störungen (F30–F39) mit 64,9% (N=131),
Angst-, Belastungs- und somatoforme Störungen mit 28,7% (N=58), Verhaltensauffälligkeiten
mi körperlichen Störungen und Faktoren (F50–F59) mit 1,0% (N=2), Persönlichkeitsstörungen
(F60–F69) mit 1,5% (N=3), Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit
und Jugend (F90–F99) mit 1,0% (N=2), Schilddrüsen Unterfunktion (E03.9) mit 1,0% (N=2)
essentielle primäre Hypertonie (I10.00) mit 0,5% (N=1), Reizdarmsyndrom (K58.0) mit
0,5% (N=1) und Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung (Z73)
mit 0,5% (N=1).
Der globale Weisheitsscore ist annähernd normalverteilt, mit einem Mittelwert von
M=4,50 (SD=0,71), einem Minimum von 1,24 und einem Maximum von 6,0. Im Durchschnitt
haben nur 7,1% der Patienten (N=14) einen Gesamtwert von<3,5, was als „unweise“ bezeichnet
werden könnte, da sie häufiger den Items nicht zugestimmt haben bzw. ein Durchschnittsrating
von unter „4=stimmt ein wenig“ getroffen haben. [Abb. 1]. zeigt die Prozentwerte, mit denen die einzelnen Items der Weisheitsskala bejaht
oder abgelehnt wurden. Ungewissheitstoleranz, Selbstrelativierung, emotionale Serenität
und Nachhaltigkeit sind die Dimensionen, denen vergleichsweise am häufigsten nicht
zugestimmt wurde, d. h. von etwa 15 bis 20% der Patienten.
Abb. 1 Verteilung der Ablehnungs- bzw. Zustimmungshäufigkeit (% der Patienten) je Item der
12-WD-Skala.
Cronbach’s Alpha beträgt α=0,81. Eine oblique Faktorenanalyse mit Promax-Rotation
erbrachte 3 Komponenten, die jeweils durch 4 Items mit hohen Ladungen abgebildet werden.
Der erste Faktor wird durch die Items des Fakten- und Problemlösewissens, der Nachhaltigkeit,
der emotionalen Serenität und Unsicherheitstoleranz gebildet und klärt 33,41% der
Gesamtvarianz. Man könne dies als „Nüchternheit und Realitätssinn“ zusammenfassen.
Der zweite Faktor umfasst Wertrelativismus, Anspruchsrelativierung, Kontextualismus,
sowie Emotionswahrnehmung und -akzeptanz mit 10,58% der Gesamtvarianz, was als „Gelassenheit“
bezeichnet werden kann. Der dritte Faktor umfasst Selbstdistanz, Perspektivwechsels,
Empathie und Selbstrelativierung mit 9,72% der Gesamtvarianz, was als „Selbstbescheidung“
benannt werden kann. Die 3 Komponenten decken 53,71% der Gesamtvarianz auf. Interkorrelation
zwischen Faktor 1 und Faktor 2 beträgt r=0,33, zwischen Faktor 1 und Faktor 3 r=0,43
und zwischen Faktor 2 und Faktor 3 r=0,31.
Es fanden sich signifikant positive Korrelationen des globalen Weisheitsscores mit
Indikatoren der Lebensbewältigung (DLB-Skala) und Konstrukten, von denen theoretisch
ein enger Bezug zur Weisheit anzunehmen ist (PTED-Skala, GWAL-Skala). Für die DLB-Skala
fand sich, dass ein höherer Weisheitsscore mit höherer allgemeiner Lebenszufriedenheit
korreliert (r=0,23; p=0,001). Es fanden sich Zusammenhänge mit der GWAL-Skala (r=0,16;
p=0,03), d. h. je höher der Weisheitsscore, desto weniger bestehen die Patienten auf
Gerechtigkeit. Es fand sich eine negative Korrelation mit der PTED-Skala (r=−0,15;
p=0,04), d. h. je höher der Weisheitsscore, desto weniger klagen die Patienten über
Verbitterung. Schließlich findet sich auch eine positive Korrelation mit dem Alter
(r=0,15; p=0,04). Es finden sich keine signifikanten Zusammenhänge mit dem Bildungsgrad
der Patienten (r=0,05; p=0,47), dem Geschlecht oder den Hauptdiagnosegruppen.
Diskussion
Die Unterstützung von Patienten mit schwierigen und häufig nicht wieder gut zu machenden
Lebensproblemen gehört zu den häufigen Aufgabenstellungen in der Psychotherapie [26]
[27]. Obwohl nach der psychologischen Grundlagenforschung Weisheit in solchen Fällen
als wichtige Ressource anzusehen ist, gibt es unseres Wissens bislang keine Daten
zu Weisheitseinstellungen und -kompetenzen psychosomatischer Patienten. Insofern können
wir auch keine Vergleiche mit anderen Studien anstellen.
Die neu entwickelte 12-WD-Skala ist ein Instrument, das den Stand der psychologischen
Grundlagenforschung zu Weisheit in ein kurzes Messinstrument übersetzen soll, womit
ein Screeningverfahren zur Verfügung steht. Die Items der Skala wurden in einem ersten
Schritt theoretisch deduktiv abgeleitet und dann faktorenanalytisch basiert ausgewählt.
Das hohe Cronbach-Alpha spricht zunächst einmal für eine hohe Interkorrelation aller
Skalenitems. Hinzu kommt, dass die Verteilung des Summenscores eine annähernde Normalverteilung
zeigt. Die mit der 12-WD-Skala erfassten Weisheitseinstellungen können somit als Globalkonstrukt
interpretiert werden.
Dennoch ist auch eine Betrachtung von Subdimensionen von Interesse. Die Faktorenanalyse
fasst die 12 Items in drei Subdimensionen zusammen, d. h. „Nüchternheit und Realitätssinn“
(Fakten- und Problemlösewissen, Nachhaltigkeit, emotionale Serenität, Unsicherheitstoleranz),
„Gelassenheit“ (Wertrelativismus, Anspruchsrelativierung, Kontextualismus, Emotionswahrnehmung
und –akzeptanz) und „Selbstbescheidung“ (Selbstdistanz, Perspektivwechsels, Empathie,
Selbstrelativierung). Diese Gruppierungen haben eine hohe Augenschein-Validität und
lassen sich gut in die verschiedenen Weisheitstheorien und -konzepte integrieren.
Von Interesse ist schließlich auch eine Betrachtung der Einzelitems. Es gibt Unterschiede
in den Zustimmungsraten mit Ungewissheitstoleranz, Selbstrelativierung, emotionale
Serenität und Nachhaltigkeit als die problematischsten Dimensionen. Es ist zu diskutieren,
inwieweit es sich hierbei um krankheitsspezifische Auswirkungen handelt. Eine mangelnde
Ungewissheitstoleranz ist beispielsweise bei Angsterkrankungen ein wichtiger pathogenetischer
Faktor [28]
[29]. Emotionale Instabilität ist geradezu ein Primärmerkmal vieler psychischer Störungen
[30]
[31]. Und auch die Unfähigkeit von sich selbst Abstand zu finden, kennzeichnet viele
einschlägige Erkrankungen und ist i.S. der Achtsamkeit geradezu ein vorrangiges Therapieziel
[32]. Es wird weiterer Forschung bedürfen, um zwischen Psychopathologie und Weisheit
zu unterscheiden. Vorstellbar ist auch, dass Weisheitseinstellungen, so wie bspw.
auch Selbstsicherheit leiden können, wenn eine psychische Krankheit auftritt.
Große Übereinstimmung mit theoretischen Erwartungen zeigen die Korrelate der Weisheitseinstellungen.
Wie aus der bisherigen Forschung zur Weisheit zu erwarten, zeigen Menschen mit höheren
Weisheitsscores mehr Zufriedenheit mit ihrer Gesamtlebenssituation und weniger Verbitterung.
Es findet sich auch eine negative Korrelation mit Gerechtigkeitsansprüchen, was i.S.
von „Realitätssinn“, „Gelassenheit“ und „Selbstbescheidung“ ermöglicht, auch mit Ungerechtigkeit
und Widrigkeiten im Leben besser umzugehen mit der Folge geringerer Lebensbelastungen
und Verbitterung.
Es zeigt sich der Literatur entsprechend eine Korrelation mit Alter als Ausdruck der
wachsenden Lebenserfahrung und Konfrontationen mit weisheitsfördernden Situationen
[7]
[33]
[34]. Ebenfalls in Übereinstimmung mit der Literatur steht, dass kein Zusammenhang mit
dem Geschlecht oder der formalen Bildung gefunden wurde. Lebenserfahrungen sind etwas
Anderes als Buchwissen.
Von Interesse ist schließlich auch das allgemeine Niveau der Weisheitseinstellungen.
Der Mittelwert von 4,5, bei einem Rating von 4=stimmt ein wenig und 5=stimmt weitgehend,
spricht dafür, dass die Mehrzahl der Menschen in der Tendenz eher positive allgemeine
Weisheitseinstellungen haben. Dennoch gibt es 7% mit Hinweisen auf deutliche Weisheitseinschränkungen.
Zukünftige Untersuchungen sollten detaillierter klären, was dies für Personen sind
und womit dies zusammenhängt.
Die Ergebnisse müssen aber zunächst einmal auch mit gewisser Vorsicht interpretiert
werden. Die statistischen Zusammenhänge zwischen Weisheit, Lebenszufriedenheit, Verbitterung,
Gerechtigkeitserleben und Alter sind zwar signifikant, liegen aber eher im niedrigen
Bereich. Ein weiteres Problem bei der Messung von Weisheit mit Selbstberichtsskalen
ist, dass sie einem Bias der sozialen Erwünschtheit unterliegen und dies insbesondere
auf das zur Rede stehende Konstrukt. In einer Studie von Bluck und Glück [35] wurde gezeigt, dass weise Menschen eher selbstkritisch sind. Vor diesem Hintergrund
könnte man annehmen, dass weise Menschen sich selbst als eher weniger weise beurteilen.
Es stellt sich die Frage, ob die Abfrage von Einstellungen dem Konstrukt adäquat ist
und ob nicht eher eine verhaltensorientierte Erhebung erforderlich ist. Weitere Einschränkungen
sind, dass die Daten ausschließlich aus einer Querschnitterhebung an einer psychosomatischen
Population stammen. Es stehen zudem nur begrenzte Zusatz-Informationen zur Verfügung.
Es sind weitere Studien erforderlich zur Replikation der Ergebnisse an anderen Populationen
mit Wiederholungserhebungen und Beobachtungsdaten.
Die vorliegende Studie ist eine erste explorative Untersuchung mit der neu entwickelten
12-WD-Skala. Aus den Daten kann abgeleitet werden, dass die mit der 12-WD-Skala erfassten
Weisheitseinstellungen sich, so wie viele andere psychologische Dimensionen normal
verteilen und dass es theoriekonforme Zusammenhänge mit Indikatoren der Lebensbewältigung
gibt. Dies bestätigt, dass Weisheit in der Untersuchung wie der Behandlung psychosomatischer
Patienten angemessene Aufmerksamkeit zukommen sollte.