Rehabilitation (Stuttg) 2019; 58(03): 172-180
DOI: 10.1055/a-0862-9273
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Return to Work im Spannungsfeld zwischen Erwerbs- und Gesundheitsorientierung

Return to Work between the Conflicting Priorities of Work and Health Orientation
Susanne Bartel
1   Bundesverband Deutscher Berufsförderungswerke e.V., Berlin
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Publication Date:
18 June 2019 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie Das Grundanliegen dieser Studie war es, gesundheitsbedingte Ausstiegsprozesse aus dem Erwerbsleben sowie deren Bedingungskonstellationen zu untersuchen. Der Fokus richtete sich auf die biografische Bewältigungsarbeit im Kontext der beruflichen Neuorientierung und Return to Work (RTW). Es war Ziel, u. a. Phasen, Merkmale und Mechanismen der Bewältigung einer ‚doppelten Brüchigkeit der Biografie’, d. h. die Bewältigung der chronischen Erkrankung und der vulnerablen beruflichen Situation zu beschreiben.

Methodik Für diese Untersuchung wurden 6 Frauen und 4 Männer im Alter von 25 bis 57 Jahren zu 2 verschiedenen Zeitpunkten zwischen 2011 und 2014 leitfadengestützt (episodisch-narrativ) interviewt: während ihrer medizinischen bzw. beruflichen Rehabilitation (t1) und erneut ca. ein Jahr später (t2). Übergreifendes Merkmal aller Fälle waren die sich anbahnenden bzw. bereits vollzogenen gesundheitsbedingten berufsbiografischen Einschnitte durch eine chronische muskuloskelettale Erkrankung und z. T. begleitet durch psychosomatische Beschwerden oder ausgelöst durch eine psychische Erkrankung. Den rahmenden Forschungsstil der Studie bildete die Grounded Theory [1].

Ergebnisse Der gesundheitsbedingte Ausstieg aus dem Berufsleben vollzieht sich in der Regel schleichend und ist bedingt durch komplexe Risikokonstellationen. Erst im Zusammenspiel personaler und kontextualer Einflussfaktoren baut sich ein Bedingungsrahmen des doppelten biografischen Bruchs auf. Die dadurch ausgelösten Bewältigungsherausforderungen liegen auf sozialer, biografischer und gesundheitlicher Ebene in den Bereichen des Privat- und Arbeitslebens. RTW wird als Versuchsphase erlebt, unter bedingter Gesundheit in den Arbeitsalltag zurückzukehren. Ein zentrales Ergebnis dieser Studie liegt in der Erkenntnis, dass sich in Ausstiegs- und Neuorientierungsprozessen eine Transformation der Bedeutung von Gesundheit vollzielt. Die vorliegende Ergebnisdarstellung fokussiert deren Bedeutung für den Rehabilitations- und RTW-Prozess.

Schlussfolgerung Eine erwerbsbiografische Perspektive ermöglicht es, gesundheitsbedingte Brüche als einen Statuswechsel von gesund zu krank, von leistungsstark zu leistungsgemindert zu beschreiben. Die professionellen Akteure in medizinischen und rehabilitativen Settings sollten verstärkt für die ausgelösten identitätsbildenden Prozesse, individuellen berufsbiografischen Krisen und Krankheitsbewältigungsprozesse der Betroffenen sensibilisiert werden. Es gilt, RTW nicht nur als einzigen Erfolg, zentrales Ergebnis und Abschluss des Rehabilitationsprozesses zu bewerten, sondern ihn als sich fortschreibenden Prozess beruflicher Neuorientierung unter bedingter Gesundheit zu verstehen und als einen partizipativen Begleitprozess zu gestalten.

Abstract

Objective The basic aim of this study was to analyse health-related exit processes from working life and their conditional constellations. It focused on biographical coping in the context of professional reorientation and Return to Work (RTW). The aim was to describe, among other things, phases, characteristics and mechanisms of coping with a double-folded biographical disruption, i. e. coping with the chronic disease and the vulnerable occupational situation.

Methods The study focused on 6 women and 4 men between 25 and 57 years of age who were interviewed (episodically-narrative) at 2 different points in the survey period from 2011 to 2014: during their medical respectively vocational rehabilitation (t1) and again about one year later (t2). The overall characteristic of all cases was the initiated or already faced health-related occupational biographical disruption caused by a chronic musculoskeletal disease partly accompanied by psychosomatic issues or triggered by a mental illness. This study followed the methodological approach and research style of the Grounded Theory [1].

ResultsA health-related exit from working life is usually gradual and is caused by complex risk constellations. Only in the interplay of personal and contextual factors does a framework for the double-folded biographical disruption develop. The resulting social, biographical and health challenges lie in the areas of private and working life. RTW is experienced as an experimental phase to return to everyday working life under limited health conditions. A key finding of this study is the recognition that the transformation of the importance of health is taking place in exit and reorientation processes. This paper focuses on its significance for the rehabilitation and RTW process.

Conclusion The applied perspective on biographical processes makes it possible to describe health-related breaks as a change in status from healthy to sick, from high performance to limited performance. Professional stakeholders in medical and rehabilitative settings should be made more aware of the identity-building processes, individual professional biographical crises and disease management processes of those affected. It is important not only to evaluate RTW as the one and only success, key outcome and end of the rehabilitation process, but to understand RTW as a continuing process of occupational reorientation under limited health conditions and to design it as a participatory process.

 
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