neuroreha 2019; 11(02): 45
DOI: 10.1055/a-0868-0495
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zwischen Wissenschaft und Empathie

Jan Mehrholz
,
Martin Lotze
,
Klaus Starrost
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Publication History

Publication Date:
02 July 2019 (online)

Jahrelange Erfahrungen mit Patienten nach Gehirnschädigung und deren Weiterentwicklung unter unserer therapeutischen Begleitung ermöglichen es uns, neue Patienten grundsätzlich prognostisch einzuschätzen. Sehr früh werden wir durch Kostenträger, Angehörige oder den Patienten selbst gedrängt, hier Vorhersagen zu treffen. Dies geschieht nicht nur in der Planung optimaler Therapien im Sinne eines ökonomischen Einsatzes der zur Verfügung stehenden therapeutischen Ressourcen, sondern auch im Hinblick auf das langfristige Ergebnis. Hierbei besteht die Sorge, dass negative Einschätzungen die Motivation zum Training bereits frühzeitig beeinträchtigen könnten.

Für den Patienten benötigt die Anpassung der eigenen Ziele und Lebensperspektiven an eine womöglich bleibende Behinderung Zeit und entwickelt sich erst unter der Therapie. Mathematische Algorithmen, deren Ergebnis ohne empathische Führung ausgespuckt werden, könnten den therapeutischen Prozess stören, auch wenn sie eine hohe Treffergenauigkeit hätten. Solange diese Treffergenauigkeit nicht hoch genug ist, sollten solche Algorithmen gar nicht genutzt werden, denn sie widersprechen dem therapeutischen Prinzip. Sinnvoller ist es, die Therapieziele in regelmäßigen Abständen zu hinterfragen und gemeinsam mit dem Patienten an die aktuelle Entwicklung und die veränderten Bedürfnisse anzupassen.

Am Beispiel Prognose offenbart sich also die Kluft zwischen „rationaler Wissenschaft“ und therapeutisch-empathischer Begleitung. Das ist spannend und sollte uns bewusst sein, wenn wir die Debatte um Prognosen in der Neurorehabilitation selbstentscheidend gestalten möchten.

Wir haben im vorliegenden Heft dieses Spannungsfeld mit Beiträgen aus Theorie und Praxis dargestellt. Wir denken, dass wir damit das Rüstzeug bieten für die Gestaltung einer frühzeitigen Prognose, einer effizienten Therapieplanung, aber auch der Planung homogener Gruppen für Interventionsstudien.

Es verhält sich bei der Frage zur Prognose leider wie so oft: Sobald man sich auf die Thematik einlässt, wird einem bewusst, wie viel noch erarbeitet werden muss, um eine wirkungsvolle Nutzung der Verfahren für eine optimal gestaltete individuelle Neurorehabilitation zu ermöglichen.

Ihre Herausgeber der neuroreha
Martin Lotze, Jan Mehrholz und Klaus Starrost