Manfred Wildner
Die Bedeutung dieses Dreiklangs für die menschliche Gesundheit, individuell und auf
Bevölkerungsebene, ist nicht zufällig. Dass Qualität und Verfügbarkeit von Wasser
und Boden Grundbedingungen für menschliche Gesellschaften sind ist eine Erfahrung,
welche die Menschheitsgeschichte begleitet hat: der reale Kollaps ganzer Zivilisationen
wurde auch wissenschaftlich mit der Misswirtschaft von Wasser und Boden in Beziehung
gesetzt [3]. Weitere Beispiele menschengemachter Öko-Katastrophen sind das Abgraben von Wasser
im Kleinen wie auch im heutigen großen Stil gewaltiger Staudämme, z. B. an Nil und
Mekong, oder subtiler die Unverkäuflichkeit von Ledererzeugnissen aus dem fernen Osten
als Folge der über Bodenbelastungen in die tierische Nahrungskette eingetragenen Schadstoffe.
Dass nicht jede „Brunnenvergiftung“ auch faktisch zutraf, ist ein weiteres leidvolles
Kapitel im Umgang mit Umweltängsten: Furcht hat man, die Angst hat einen.
Wasser und Boden sind dem Menschen mehr oder minder unmittelbar zugänglich. Die Luft
ist der auch ganz konkret nur schwer zu fassende Teil unserer natürlichen Umwelt.
Sind es hier nicht vor allem die Umweltängste, die uns umtreiben? Ruß und Abgase waren
zu Beginn der Industrialisierung noch gut sichtbar. Diese hergebrachten Gefahren scheinen
heute durch Filteranlagen, neue Energiequellen, veränderte Produktionstechniken und
Arbeitsschutzmaßnahmen zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt gering, wobei
sie teilweise auch auf andere Risikoträger (Stichwort Kernkraft) verlagert wurden.
Doch was ist „gering“ – haben wir es bei dieser Risikoeinschätzung nicht mit einer
im Kern normativen Bewertung der Relevanz zu tun? Die Quantifizierung von Gefährdungen,
Schaden und Nutzen mag noch wissenschaftlich-objektivierbar nachzuvollziehen sein,
die Bewertung als Risiko ist bereits ein normativer Vorgang, der sich in den zu treffenden
Maßnahmen als vielschichtiger fachlich-politischer Prozess fortsetzt. War im London
des beginnenden 20. Jahrhunderts noch der sich anhäufende Pferdemist die drängendste
verkehrsbezogene Herausforderung, sind wir am Beginn des 21. Jahrhunderts mit den
Folgen von Verbrennungsmotoren konfrontiert. In der Analyse des Soziologen Ulrich
Beck hat sich eine moderne Risikogesellschaft herausgebildet: „die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft [werden] überlagert
durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung
wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen“ [4, S. 25].
Wissen schafft paradoxerweise zugleich Gewissheiten und Unsicherheiten. In Anerkennung
dieser Doppelgesichtigkeit können durch wissenschaftliche Studien Evidenzen in verschiedenen
Wissenschaftszweigen erzeugt werden. Diese können in einer übergreifenden Abwägung
ihren ersten Niederschlag in Empfehlungen zu Richtwerten finden, wie sie z. B. von
der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagen werden. Für eine Festlegung von verbindlichen
Grenzwerten z. B. als Richtlinie der Europäischen Union ist jedoch das nochmalige,
auch politische Überdenken von Schadstoffen und Schadstoffgemischen, Gesundheitseffekten
und verwundbaren Bevölkerungsgruppen, Unsicherheiten der Evidenz und gebotener Vorsorge,
realistischen Möglichkeiten der Vorsorge und Akzeptabilität von Restrisiken vonnöten
[5].
An dieser Stelle sei eine entschiedene Position für die selbst stille Materie „Luft“
ergriffen, mit einer Analogie zwischen unserem planetaren Ökosystem und dem menschlichen
Organismus. Der verletzlichste Teil unserer Körperoberfläche ist die im Körper ver-
und geborgene Lunge: 300 Millionen Lungenbläschen, welche auf einer Oberfläche von
etwa 100 qm den lebensnotwendigen Gasaustausch mit der uns umgebenden Innen- und Außenluft
ermöglichen. In ähnlicher Funktion kann auch unsere Atmosphäre betrachtet werden:
als das Atmungsorgan unseres Planeten, einem verletzlichen Vermächtnis der Pflanzenwelt
an die nachfolgenden Lebensformen, welches wie Wasser und Boden einer guten „Stewardship“
[6] bedarf. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind ein Viertel
der menschlichen Krankheitslast umweltbedingt [7]. Namhafte Wissenschaftsorganisationen sprechen von einer „planetaren Gesundheit“
in einem inzwischen vom Menschen gestalteten neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän [8].
„Stewardship“ ist dabei ein anspruchsvoller Begriff, der seinen Ursprung in der jüdisch-christlichen
Schöpfungsgeschichte hat: den Auftrag an den Menschen, die Schöpfung zu hüten und
zu bewahren [9]. Er umfasst einen systemischen und strategischen Governance-Ansatz, welcher Gesundheit
in allen Politikfeldern thematisiert („Health in all policies“) und die kluge Balancierung
verschiedener Einflussnahmen und Anforderungen erstrebt. Globales Denken – „think globally, act locally“ – ist hier ebenso gefragt wie ein bewusstes „One Health“-Konzept, welches die menschliche
Gesundheit zusammen mit der Gesundheit von Tieren und dem umgebenden Ökosystem denkt.
Um solche „gute Stewardship“ konkret zu machen: In der Diskussion um Luftschadstoffe
greift eine Fokussierung auf einzelne Schadstoffe wie NOx mit Abgrenzung zu anderen
Schadstoffen wie z. B. Feinstaub zu kurz [10]. Gleichermaßen kann die Regulierung einzelner Schadstoffe bei derart komplexen Problemlagen
schnell zu „schrägen“ Folgeeffekten führen. Negative Folgen sind z. B. paradoxe Vermeidungsstrategien
mit gesundheitlich kontraproduktiven Effekten wie einer Verkehrsverlagerung in Wohngebiete.
Notwendig sind angemessen komplexe Methoden sowohl in die Risikoanalyse wie auch bei
den Bewältigungsstrategien [11]. Ein Beispiel dafür sind Gesundheitsfolgeabschätzungen (Health Impact Asessments,
HIA) mit strukturierten Bewertungen auch der Abhilfestrategien [12]. Solche integrativen Bewertungen sind nicht der Individualmedizin und auch nicht
der Epidemiologie alleine zuzuordnen, sondern gehören in den transdisziplinären Bereich
Öffentlicher Gesundheit/Public Health. Sie verlangen eine entsprechende Forschungs-
und Beratungsinfrastruktur, u. a. in Form von Schools of Public Health zur Evidenzfindung,
Evidenzvermittlung, Beratung und Lehre, als Teil einer guten Stewardship gerade bei
komplexen Zusammenhängen [13].
Auch die Berichte in diesem Heft wollen wieder Beiträge für solche gute Stewardship
liefern. Sie befassen sich mit Arbeitsbedingungen und psychischer Gesundheit bei Ärztinnen
und Ärzten, Fehlern und Schwächen in der Berichterstattung über epidemiologische Studien,
einem epidemischem Vitamin D-Mangel bei weiblichen Inhaftierten, Substanzmissbrauch
im Einzugsbereich des Giftnotrufes Erfurt 2002–2016, Stadtteildeprivation und Lebensmittelumwelt,
dem Gesundheitsbeirat in München, der Zukunft der regionalen Versorgung in Deutschland,
den Präferenzen junger Zahnärztinnen und Zahnärzte und den Amputationen der unteren
Extremität. Last but not least auch mit einer methodischen Diskussion zur Berechnung
vorzeitiger Todesfälle durch Umwelteinflüsse als Leserzuschrift und Replik der Autoren.
Die hippokratischen Schriften stellen in ihrem Nachdenken über Wasser, Boden und Luft
die Jahreszeiten, die Winde und das Klima an die erste Stelle. Für eine darüber hinaus
reichende Weisung sind wir allerdings auf unsere Jetztzeit angewiesen und auf die
uns zur Verfügung stehenden, in der Menschheitsgeschichte einmaligen Erkenntnisquellen
und Handlungsmöglichkeiten. Es geht dabei nicht so sehr um Messwerte und Grenzwerte,
sondern um den vernünftigen Umgang mit ihnen, um vorsorgende und zugleich realitäts-
und praxisnahe Abwägungen und auch um demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse.
Ulrich Beck betrachtet dieses Nachdenken über die Folgeprobleme der technisch-ökonomischen
Entwicklung als „Reflexiv“-Werden der Modernisierung [4]. Hans Jonas hatte schon früher mit seinem „Prinzip Verantwortung“ eine Ethik für
die technologische Zivilisation versucht: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden“ [14]. Vernünftig ist beides und nicht nur „Wasser, Boden, Luft“ werden uns reflexiv-umsichtiges
Handeln danken – auch unsere Kinder, Enkel und Urenkel.