neuroreha 2020; 12(03): 97
DOI: 10.1055/a-1193-7884
Editorial

Mit allen Sinnen

Jan Mehrholz
,
Martin Lotze
,
Klaus Starrost

Erst wenn einer oder mehrere Sinne ausfallen, bemerken wir, wie schwierig es ist, sich mit der Umgebung auszutauschen und die Umwelt durch Bewegung zu gestalten. Unsere Sinne greifen hierbei ineinander – im Normalzustand geschieht dies oft ganz unbewusst. Genau diese Integration von Sinneseindrücken und Bewegung haben wir im Verlauf unserer sensomotorischen Entwicklung lange und ausdauernd geübt. Schließlich sind wir so optimiert, dass wir den Alltag adäquat bewältigen oder sogar in einigen Bereichen Höchstleistungen erbringen können. Üben macht oft Freude, jedes Gelingen ist ein Erfolg: Das sehen wir bei unseren Kindern. Wenn uns jedoch etwas bereits Selbstverständliches genommen wird – etwa durch eine Gehirnschädigung –, reagieren wir oft mit weniger Motivation und Bereitschaft, die Defizite zu überwinden.

Jedes Sinnessystem hat Besonderheiten in der Testung und Erfassung von Defiziten, im Aufbau des Sinnessystems und in der Verarbeitung. Am Ende fischt sich das Gehirn die wichtigsten Umgebungssignale heraus, um den Austausch mit der Umgebung zu optimieren. Diese Mechanismen zu verstehen, hilft uns, einem Patienten neue Strategien mitzugeben, wenn Teile eines Sinnessystems ausgefallen sind.

Martin Lotze und Marie Ladda stellen in ihrem Schwerpunktartikel am Beispiel der Funktion der oberen Extremität dar, wie diese Systeme miteinander interagieren und wie man die Funktionen verstehen kann. Georg Kerkhoff beschreibt innovative Therapiestrategien für Patienten mit Gesichtsfeldausfall (Neglect) nach Schlaganfall. Im Anschluss stellt Ingo Keller aus der Praxis Assessmentverfahren für den Neglect vor. Dörte Zietz und Leif Johannsen beschreiben zudem die Zusammenhänge zwischen Defiziten der sensomotorischen Integration und der Pusher-Symptomatik.

Wie kann Diskriminationstraining wirken und wie führt man es durch? Dies erklären Jan Mehrholz und Kollegen ganz praktisch.

Manches an dem, was bei Ausfällen auf den Patienten zukommt, können wir uns erst vorstellen, wenn uns die Patienten ihre Sichtweise schildern. Im Patienteninterview, das Ingo Keller führte, spricht ein Betroffener über seinen Neglect nach Schlaganfall. Er lässt uns daran teilhaben, wie es ist, wenn man nicht weiß, von welcher Seite man angesprochen wird, oder wenn man nur eine Stimme hört, ohne zu wissen, wer mit einem spricht.

Das Thema Sinne ist groß, und dieses Heft kann leider nur einen kleinen Überblick bieten. Bei der Auswahl der Autoren fiel uns auf, wie dominant das visuelle Sinnessystem für uns Menschen ist – auch hinsichtlich der Forscher und Therapeuten, die sich mit dieser Domäne besonders beschäftigen. Zum Gehör und der Somatosensorik gibt es ungleich weniger Spezialisten, und damit kommen in der Rehabilitation wichtige Bereiche, wie etwa die Sonifikation, oft zu kurz.

Nicht zu kurz kommen sollten derzeit aber die Herausforderungen, die die Coronavirus-Pandemie hervorgebracht hat. Wir haben daher ein Interview mit dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR), Thomas Platz, geführt und mit ihm über die derzeitige Lage der Neurorehabilitation in der Covid-19-Pandemie gesprochen.

Wir hoffen, dass Ihnen dieses Heft die Sinne für Ihr Interesse an der Neurorehabilitation schärfen wird!

Ihre Herausgeber der neuroreha
Martin Lotze, Jan Mehrholz und Klaus Starrost



Publication History

Article published online:
08 September 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York