Hebamme 2020; 33(06): 31-38
DOI: 10.1055/a-1284-3263
CNE Schwerpunkt
Theorie-Praxis-Transfer

Theorie-Praxis-Relationierung mit dem Ansatz der Schlüssel-situationen. Oder: Wie wär’s mit einem Tango Professional, Madame?

Eva Tov
 

Im vorliegenden Artikel setzt die Autorin Theorie und Praxis miteinander ins Verhältnis. Sie stellt dafür das Reflexionsmodell Schlüsselsituationen vor, das auf bedeutsamen Situationen der Sozialen Arbeit beruht. Theoretische Grundlage des Modells bildet der Ansatz des situierten und erfahrungsbasierten Lernens, den sie hier anhand von Beispielen der Hebammenarbeit erläutert.


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Hintergrund

Theorie-Praxis wird gerne als gegensätzliches Begriffspaar gesehen, was es seinem Wesen nach auch ist, da Theorie und Praxis unterschiedlichen Logiken und Gesetzmäßigkeiten folgen. Während Theorien wissenschaftliches Wissen produzieren, das vom Druck, momentan handeln zu müssen, entlastet und auf Erkenntnis ausgerichtet ist, steht die Praxis für professionelles Wissen, das oft implizit abgespeichert ist, unter Handlungsdruck zur Verfügung stehen muss und auf Angemessenheit und Wirkung ausgerichtet ist [5]. Dieser Sachverhalt verdeutlicht, dass die Übertragung eines Phänomens aus der einen Sphäre in die andere nicht so ohne Weiteres möglich ist.

Eine Theorie kann nie gänzlich ein bestimmtes menschliches Phänomen erklären, denn „the case is not in the book“ – wie Donald A. Schön [4] das so prägnant ausdrückt. Dennoch gibt es Aspekte, die mehreren oder vielen gemeinsam sind, sodass auch die Individualität ihre Grenzen hat. Deshalb schlage ich gemeinsam mit Lave & Wenger [3] vor, die beiden als Dualitäten, nicht als Opponenten im Sinne von Gegnern zu verstehen. Um im oben genannten Bild zu bleiben, braucht es beide Tanzenden für einen harmonischen und zuweilen auch leidenschaftlichen Tanz.

Gibt es nur Theorien, kommen wir nicht ins Handeln und gibt es nur Handeln, bleiben wir im besten Falle intuitiv, im schlimmsten Fall bauchgesteuert oder gar unprofessionell. Professionalität heißt in unserem Verständnis, das eine dynamisch auf das andere beziehen zu können [7], in der Lage zu sein, zwischen dem Konkreten, das sich als einmalig präsentiert, und dem Abstrakten, Allgemeinen zu wechseln. [Abb. 1] verdeutlicht, dass dieses Wechseln anhand von sogenannten Grenzobjekten geschieht [8]. In unserem Fall sind das Schlüsselsituationen.

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Abb. 1 Theorie-Praxis-Relationierung durch Grenzüberschreitungen zwischen Communities of Practice (CoPs) (Quelle: Stämpfli A, Kunz R, Tov E. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit als Scharnier zwischen Theorie, Wissenschaft und Praxis. In: Unterkofler U, Oestereicher E, Hrs. Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern. Wissensentwicklung und -verwendung als Herausforderung. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress Ltd.; 2014; modifiziert nach Wenger E. Communities of practice. Learning, meaning and identity. Cambridge: Cambridge University Press; 1998; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

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Das Reflexionsmodell Schlüsselsituationen

Wir wissen, dass es unzählige Male von Wiederholungen und Korrekturen und immer wiederkehrenden Übungen braucht, bis die Bewegungen und Haltungen beim Tanzen in den eigenen Körper einprogrammiert sind, quasi wie von selbst passieren, während ein Anfänger wie ein Tölpel durch die Gegend stakst, obwohl er genaue Anweisungen erhalten hat. Und Ähnliches gilt für Injektionen oder das Legen von Kathetern aus dem medizinischen Bereich und ein Anamnese- oder ein Aufnahmegespräch mit einem Drogenabhängigen zu führen aus dem Kontext der Sozialen Arbeit.

Fragt eine Anfängerin die Professionelle, was sie genau tut und vor allem, wie sie es tut, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht genau in der Lage ist, dies zu artikulieren [1] bzw. dies zu explizieren, wie Kunz [2] es nennt. Während es also für die professionelle Person eine Herausforderung darstellt, ihr Wissen zu explizieren, stellt es für den Novizen eine Hürde dar, das viele (Theorie-)wissen zu internalisieren, also zu einer Art eigener Körperlichkeit zu machen, sodass das Wissen Teil der eigenen Persönlichkeit wird.

Gerade Studierende und Menschen in Ausbildung fühlen sich sehr allein gelassen mit dieser Anforderung, die sie als sehr hoch empfinden. Das Reflexionsmodell Schlüsselsituation hilft, diese Hürde zu nehmen und die Passung zwischen verschiedenen Wissensbeständen und dem Handeln in einer bestimmten spezifischen Situation herzustellen. Je mehr dies geübt wird, desto professioneller wird die Person.

Das nächste Kapitel erklärt, was eine Schlüsselsituation ist und in welchem Verhältnis sie zu unserer immer wieder als einmalig und besonders erlebten Realität steht.


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Was eine Schlüsselsituation ist

Wir haben uns in unserem Buch bewusst für einen situativen Ansatz der Kasuistik (Fallarbeit) aus dem Bereich der Sozialen Arbeit entschieden und legen dem Begriff folgende Definition zugrunde:

„Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit sind jene Situationen des professionellen Handelns, die durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit als typisch und im professionellen Geschehen wiederkehrend beschrieben werden. Schlüsselsituationen zeichnen sich einerseits durch generalisierbare und verallgemeinerbare Merkmale aus, die für eine gelingende Professionalität als bedeutsam erachtet werden, andererseits werden die erlebten Situationen in ihrer spezifischen Ausprägung beschrieben. Die Anzahl solcher Situationen wie die Situationen selbst passen sich im Laufe der Zeit den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen an. Situationen werden aus der Perspektive der Fachkraft als zeitlich nicht unterbrochener Handlungsfluss erlebt und als symbolisch strukturierter Sinnzusammenhang erfahren“ (Tov et al. [ 7 ] )

Das Zitat macht deutlich, dass es sich um typische, also wiederkehrende Situationen handelt, dass es gewisse verallgemeinerbare Merkmale gibt, aber auch spezifische, einmalige Anteile. Auch hier bildet sich der „Tanz der Theorie-Praxis-Relationierung“ ab.

Situationen dieser Art sind zeitlich-räumlich nicht unterbrochen, sondern stellen eine zusammenhängende Interaktionssequenz zwischen einer professionellen Person und einem oder mehreren Gegenübern dar. Die Professionelle steht im Mittelpunkt. Ihr Fokus, ihr Verstehen, ihre Kompetenz sollen erweitert werden. Diese Akteurorientierung stellt vermutlich den größten Unterschied zu den klassischen Ansätzen, die mit Fällen arbeiten, dar. Bei den Schlüsselsituationen geht es um die Herausforderung, die die professionelle Person in einer ganz bestimmten Situation in einem spezifischen Kontext mit bspw. einer Klientin oder einem Patienten zu gestalten hat.


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Besonderheiten der Arbeit mit Schlüsselsituationen

Um den Begriff und das Modell etwas zu veranschaulichen, folgt ein kurzes Beispiel für eine Situationsbeschreibung (Schritt 2 des Reflexionsmodells), das einige Besonderheiten der Arbeit mit Schlüsselsituationen illustriert.

PRAXIS-BEISPIEL

Situationsbeschreibung

Frau M. ist in der 32. SSW und kommt zur Kontrolluntersuchung in die private Praxis ihrer Hebamme. Nach der Begrüßung fragt die Hebamme Frau M. nach deren Befinden. Diese antwortet ihr, dass eigentlich alles in Ordnung sei. Den anderen beiden Kindern gehe es gut und ihr Mann unterstütze sie. Beschwerden habe sie keine, außer dass sie in letzter Zeit sehr müde sei und am liebsten die ganze Zeit schlafen würde. Außerdem verspüre sie öfters ein Ziehen, wenn sie sich aufrege und dann werde ihr Bauch ganz hart.

Die Hebamme beobachtet, dass Frau M. sie nicht direkt anschaut und ihr Gesicht verschlossen wirkt. Sie schlägt vor, sie zu untersuchen, um zu sehen, ob von der Schwangerschaft her alles in Ordnung ist. Bei der Untersuchung stellt sie fest, dass Frau M. verkrampft ist, und trotz mehrmaliger Ermutigung, sich zu entspannen, gelingt ihr dies nur mäßig. Die Hebamme beendet die Untersuchung, die keine Auffälligkeiten gezeigt hat. Als die Hebamme dies Frau M. lächelnd mitteilt und meint, dass es jetzt ja schon bald „in den Endspurt“ ginge und sie ganz beruhigt sein könne, zumal ja auch die beiden anderen Schwangerschaften und Geburten ohne Komplikationen verlaufen seien, bricht Frau M. in Tränen aus. Die Hebamme fragt etwas erschrocken, ob Frau M. sonst Probleme habe, über die sie gerne sprechen möchte, was Frau M. aber kopfschüttelnd verneint und dabei murmelt: „Nein, nein, es geht schon wieder!“. Hastig steht sie von ihrem Stuhl auf und verabschiedet sich von der Hebamme, die etwas beunruhigt und ratlos zurückbleibt.

  • Was ist hier die professionelle Herausforderung?

  • Welches Wissen braucht die Hebamme, um dieser Herausforderung professionell zu begegnen?

  • Woran kann sie erkennen, dass dies gelungen ist?

All diese Fragen können anhand des Reflexionsmodells Schlüsselsituationen fundiert beantwortet werden. Beispielhaft und exemplarisch soll im Folgenden ein Einblick in einige Aspekte gegeben werden.


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Die 8 Schritte des Reflexionsmodells

[Abb. 2] illustriert alle acht Schritte des Modells. Teilweise sind diese auf der Ebene des Spezifischen der Situation angesiedelt, so wie sie erlebt wurde und beschrieben ist (Schritt 2, 3, 7 und 8; bis zu einem gewissen Maß auch Schritt 5) und drei Schritte liegen auf einer allgemeinen, vom konkreten Einzelfall losgelösten abstrakten Ebene (Schritt 1, 4 und 6; teilweise auch Schritt 5). In der Bearbeitung wechselt man dynamisch die Ebenen und „tanzt“ so zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen abstrakter Theorie und konkreter Praxis.

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Abb. 2 Relationierung von Allgemeinem und Besonderem beim Wechselspiel von generalisierbaren und spezifischen Aspekten des Reflexionsmodells Schlüsselsituationen (Quelle: Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Communities of Practice. 2. überarb. Aufl. hep Verlag; 2016; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Während es sich beim Tanzen in der Regel um ein Paar handelt, das sich gemeinsam zur Musik bewegt, basiert das Reflexionsmodell auf der Arbeit in einer Community of Practice (CoP). Diese Konzeption einer spezifischen Form von Arbeitsgruppe wurde von Lave & Wenger [3], Wenger [8] entwickelt und dient dem Wissensmanagement und dem Schaffen von innovativen Neuerungen in Organisationen.


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Praktische Umsetzung des Reflektionsmodells

Wir haben diese Konzeption übernommen und bearbeiten die Schlüsselsituationen jeweils in Gruppen von 3–4 Mitgliedern [7]. Wichtig ist, dass diese ein geteiltes Interesse an der Aufgabe haben und gewillt sind, sich auf den Prozess einzulassen. Im Kern geht es bei diesem Sich-Einlassen darum, konkrete Bedeutungen auszuhandeln. Wie verstehen die Mitglieder der CoP, was hier stattgefunden hat? Nicht im Sinne einer Interpretation, sondern in dem eines phänomenologischen Verstehens. Erst wenn dies verhandelt und geklärt wurde und alle ein geteiltes Verständnis haben, kann der Titel gesetzt werden (Schritt 1). Dieser bestimmt den Fokus der weiteren Bearbeitung.

Es macht einen Unterschied, ob ich die in obigem Praxis-Beispiel geschilderte Situation „Umgang mit widersprüchlichen Wahrnehmungen“ nenne oder „Routineuntersuchung im letzten Schwangerschaftsdrittel“. Bei der ersten Variante steht die Wahrnehmung und vermutlich der Bereich der Kommunikation im Vordergrund. Beim zweiten Titel liegt der Fokus auf dem medizinisch-gynäkologischen Aspekt der Untersuchung. Vermutlich wird es zwischen den beiden eine gewisse Schnittmenge geben, aber der definierte Gegenstandsbereich ist einmal eher psychologischer und ein anderes Mal eher medizinischer Natur. Diese Tatsache wird die Wahl meiner Wissensquellen, ebenso wie die Kriterien meiner Qualitätsansprüche beeinflussen.

Um den passenden Titel zu finden, braucht es oft mehr als das Erzählen einer spezifischen Situation. Wir stellen immer wieder fest, dass das erlebnismäßige Eintauchen in die Situation erst klarmacht, worum es eigentlich gegangen ist. Dies geschieht in einem Rollenspiel mit verteilten Rollen, wie z. B. : Person 1 übernimmt die Rolle von Frau M., Person 2 die der Hebamme und Person 3 die Beobachterrolle. Die Sequenzen der Situation werden durchgespielt.

Direkt im Anschluss geht es in den Schritt 3 des Modells, der „Reflection in Action“ heißt. Nach Schön [4] verbirgt sich darin implizites Wissen, das uns, während wir handeln in der Regel nicht bewusst ist, das aber dennoch unser Handeln leitet. Dieses Wissen lässt sich durch die Rekonstruktion der „Reflection in Action“ explizieren, sodass es dem Bewusstsein wieder zugänglich wird. Während bei der professionellen Person neben den Gefühlen, die in der Situation empfunden werden, auch deren Gedanken, Hypothesen und Handlungspläne von Interesse sind, wird bei der Klientin, in unserem Fall Frau M., nur die Emotion festgehalten. Dies geschieht durch die empathische Einfühlung in die jeweilige Rolle.

Auch das Material aus der Beobachtungsperspektive kann in der Auswertungsrunde der CoP helfen, Gefühle noch besser schärfen oder sich zusätzlich an Dinge erinnern zu können. Diese Informationen werden in der Situationsbeschreibung festgehalten. Dies könnte nun so aussehen:

PRAXIS-BEISPIEL

Reflection in Action

Situation: Titel

z. B. „Umgang mit widersprüchlichen Wahrnehmungen“ oder „Routineuntersuchung im letzten Schwangerschaftsdrittel“

Kontext

Frau M. ist in der 32. SSW und kommt zur Kontrolluntersuchung in die private Praxis ihrer Hebamme.

1. Sequenz: Klärung der Befindlichkeit

Nach der Begrüßung fragt die Hebamme Frau M. nach deren Befinden. Diese antwortet ihr, dass eigentlich alles in Ordnung sei. Den anderen beiden Kindern gehe es gut und ihr Mann unterstütze sie. Beschwerden habe sie keine, außer dass sie in letzter Zeit sehr müde sei und am liebsten die ganze Zeit schlafen würde. Außerdem verspüre sie öfters ein Ziehen, wenn sie sich aufrege und dann werde ihr Bauch ganz hart.

2. Sequenz: Übergang zur Untersuchung

Die Hebamme beobachtet, dass Frau M. sie nicht direkt anschaut und dass ihr Gesicht verschlossen wirkt.

Kognition Hebamme: Auffälligkeiten sind keine zu erwarten. Die Hebamme ist sich sicher, Frau M. beruhigen zu können.

Emotion Hebamme: Fühlt sich sicher angesichts der Routinehaftigkeit der Situation. Empfindet Freude angesichts des erwarteten positiven Befundes.

Emotion Frau M.: Wollte, dass alles schon vorbei wäre! Die Untersuchung und die Geburt und überhaupt alles. Fühlt sich total überfordert.

Die Hebamme schlägt vor, sie zu untersuchen, um zu sehen, ob von der Schwangerschaft her alles in Ordnung ist.

Kognition Hebamme: Erklärt ihr den Ablauf, damit sie orientiert ist über das, was kommt und sich mental auf die Untersuchung einstellen kann.

Emotion Hebamme: Zuversichtlich, dass die Untersuchung reibungslos ablaufen wird.

Emotion Frau M.: Ist angespannt, nervös; möchte eigentlich irgendwo anders sein.

Bei der Untersuchung stellt sie fest, dass Frau M. verkrampft ist und trotz mehrmaliger Ermutigung, sich zu entspannen, gelingt ihr dies nur mäßig. Die Hebamme beendet die Untersuchung, die keine Auffälligkeiten gezeigt hat.

Kognition Hebamme: Sieht ihre Erwartung bestätigt, dass alles in Ordnung ist. Denkt, dass dies Frau M. bestimmt beruhigen wird. Sie scheint ja echt beunruhigt zu sein, und das, obwohl sie schon Kinder hat und da ja alles gut gegangen ist …

Emotion Hebamme: Ist etwas verwirrt, weil sie die Reaktion von Stress, die sie wahrnimmt, nicht einordnen kann; tröstet sich damit, dass diese aber gleich besser werden wird.

Emotion Frau M.: Ist ungeduldig und angespannt, da sie es hasst, berührt zu werden. Möchte nur in Ruhe gelassen werden.

3. Sequenz: Mitteilen des Befundes

Als die Hebamme dies Frau M. lächelnd mitteilt und meint, dass es jetzt ja schon bald „in den Endspurt“ ging und sie ganz beruhigt sein könne, zumal ja auch die beiden anderen Schwangerschaften und Geburten ohne Komplikationen verlaufen seien, bricht Frau M. in Tränen aus.

4. Sequenz: Gesprächsangebot und Abschied bzw. „Flucht“

Die Hebamme fragt etwas erschrocken, ob Frau M. sonst Probleme habe, über die sie gerne sprechen möchte, was Frau M. aber kopfschüttelnd verneint und dabei murmelt: „Nein, nein, es geht schon wieder!“ Hastig steht sie von ihrem Stuhl auf und verabschiedet sich von der Hebamme, die etwas beunruhigt und ratlos zurückbleibt.

Diese rekonstruierte „Reflection in Action“ hilft uns nun, zu einem erweiterten, tieferen Verständnis der Situation zu kommen, von dem aus wir uns auf die Suche nach passenden Wissensbeständen machen können (Ressourcenfindung, Schritt 5). Hierzu gibt es verschiedene Techniken. Eine davon ist, Fragen an die Situation zu stellen. Eine Frage könnte z. B. sein: Was bedeutet es, wenn verbal gesagt wird, dass alles in Ordnung ist, aber nonverbal ausgedrückt wird, dass etwas nicht stimmt?

Oder: Wie kann ich am besten meine Eindrücke formulieren? Wie kann ich empathisch sein? Oder: Warum ist Frau M. plötzlich in Tränen ausgebrochen? Warum hat sie quasi fluchtartig den Raum verlassen? Was ist Stress?

Diese Fragen bzw. der Versuch ihrer Beantwortung führen zu theoretischem Wissen über verbale, nonverbale Kommunikation, zu Gesprächstechniken, zur Stresstheorie, aber auch zu Wertewissen im Sinne von „Welche Haltung versuche ich einzunehmen?“ Auch Erfahrungswissen, also Wissen, das aus Erinnerungen an früher gemachte ähnliche Erfahrungen besteht, ist wertvoll. Genauso wie Wissen über geeignete Methoden und Techniken. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. [Tab. 1] zeigt die diversen Wissensressourcen.

Tab. 1

Ressourcen zur Situationsgestaltung (Quelle: Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Leitfaden Reflexionsmodell Schlüsselsituationen. Im Internet: https://schluesselsituationen.net/ansatz/; Stand: 2017)

Erklärungswissen

Warum handeln die Personen in der Situation so?

Interventionswissen

Wie kann man als professionelle Fachperson handeln?

Z.B. Methoden, Verfahren, Planungshilfen

Erfahrungswissen

Woran erinnert man sich, was kennt man aus ähnlichen Situationen?

Z.B. Eigene Erfahrungen, wie auch Erfahrungen von Mitarbeitenden

Organisations- und Kontextwissen

Welche Rahmenbedingungen beeinflussen das eigene Handeln?

Z.B. Auftrag der Organisation, sozialpolitische Zusammenhänge, rechtliche Grundlagen

Fähigkeiten

Was muss man als professionelle Fachperson können?

Z.B. Empathisch sein, wahrnehmen, kommunizieren, kooperieren, Prozesse gestalten, (sich selbst) reflektieren

Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen

Womit kann ich handeln?

Z.B. Materielle, zeitliche Möglichkeiten, infrastrukturelle Gegebenheiten, organisationale Setzungen

Wertewissen

Woraufhin richte ich mein Handeln aus?

Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die man als handelnde Fachperson berücksichtigen will?

Z.B. Haltung, Berufskodex, Menschenbild

Im zweiten Teil des Ressourcenschritts (Schritt 5) geht es nun darum, die ausgewählten Wissensressourcen, die wichtig erscheinen, um die Situation erfolgreich zu bewältigen, in ihren Kernelementen darzustellen und diese anschließend auf die konkrete Situation zu beziehen. In der Kommunikationstheorie von Watzlawick steht beispielsweise, dass es einen Beziehungs- und einen Inhaltsaspekt gibt. Oft wird der Inhaltsaspekt verbal vermittelt und der Beziehungsaspekt nonverbal. In unserem Beispiel beteuert Frau M., dass alles in Ordnung sei (Inhalt), während sie nonverbal (durch einen verschlossenen Gesichtsausdruck) vermittelt, dass sie etwas Unangenehmes zurückhält.

In Schritt 6 geht es anschließend darum, Qualitätsmerkmale zu bestimmen. Das heißt, dass die CoP Aussagen formuliert, die in der Situation eingelöst werden sollten. Diese ergeben sich nach der Bearbeitung des vorangehenden Ressourcenschrittes fast von selbst. Das Wertewissen ist hier oft ein guter Ratgeber.

Qualitätsstandards könnten z. B. sein:

  • Die Kommunikation mit der Klientin geschieht auf empathische Art und Weise.

  • Das aktive Ansprechen von Wahrnehmungen wird bewusst eingesetzt, um der Klientin die Möglichkeit zu geben, sich ihrer eigenen Person bzw. Befindlichkeit bewusster zu werden.

  • Untersuchungsergebnisse werden transparent und einfühlsam mitgeteilt.

  • Ein Untersuchungskontakt dient immer auch dem Beziehungsaufbau bzw. der Vertrauensbildung

Im Schritt 7 erfolgt nun der systematische Blick zurück auf die Situation mit der Frage, inwieweit die definierten Standards konkret eingelöst wurden. Das Ergebnis dieser Reflexion der Situation mittels Qualitätsstandards wird schriftlich dokumentiert. Ebenso wie Schritt 8, in dem die Handlungsalternativen gesammelt werden. Handlungsalternativen sind andere Optionen des Lösens der Herausforderung. Sie müssen nicht zwangsläufig besser sein, es genügt, wenn sie eine Erweiterung des Handlungsrepertoires bieten.Praktische Anwendungsmöglichkeiten: Theorie-Praxis-Relationierung durch Reflexion im Diskurs


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Nutzen und Anwendung des Reflexionsmodells

Das Wesen des Reflexionsmodells ist es, durch die gemeinsame Reflexion und den Diskurs mit Gleichgesinnten, durchaus auch in einem interdisziplinären Setting, die eigene Professionalität weiterzuentwickeln. Dadurch, dass eine konkrete Situation im Zentrum steht, eignet sich das Modell sehr gut im Lehrkontext z. B. während die Studierenden im Praktikum sind, oder im Kontext einer Organisation in Form des Intervisionsmodells.

Es macht wenig Sinn, den ganzen Reflexionsprozess alleine zu durchlaufen. Die Bedeutung von Wissen und Handeln in einer konkreten Situation kann viel besser im Dialog mit anderen erarbeitet werden. Das vorliegende Modell geht davon aus, dass alles Handeln situiert ist. Aus dem Ansatz des „Situated Learning“ von Lave & Wenger [3] hat Wenger [8] seine soziale Theorie des Lernens entwickelt. Sie stellt den sozialen Kontext für das Lernen in Communities of Practice in den Vordergrund. CoPs haben eine gemeinsame Aufgabe, handeln gemeinsam und verfügen über ein gemeinsames Repertoire im Sinne von Methoden, Vorgehensweisen. Die Teilhabe an CoPs ist ein konstitutiver Bestandteil der menschlichen Existenz. Partizipieren zu wollen ist ein grundlegender Motor menschlichen Handelns. Durch das Partizipieren in CoPs entwickelt und verändert sich der Mensch. Gleichzeitig prägt dieser aber auch die CoP und reproduziert und innoviert diese. Der Wille dazuzugehören bedingt die Motivation, sich mit den Strukturen und darin impliziten Regeln und Wissensbeständen auseinanderzusetzen. Darin liegt das Lern- und Bildungspotenzial.

Durch das Partizipieren werden Lernprozesse ausgelöst. Durch das Handeln wird die Welt erfahren und durch das Handeln sind wir bemüht, uns in unserer Involviertheit als sinnvoll zu erfahren. In der Bearbeitung der gemeinsamen Aufgabe produzieren wir Sinn, indem wir die Welt und uns darin deuten. Dieser Prozess ist ein aktiver Prozess, der „Negotiation of Meaning“, also das, was Aushandeln von Bedeutung genannt wird. Sinn, genauso wie Wissen, ist nicht in uns und auch nicht draußen in der Welt zu finden, sondern er entsteht jeweils durch die dynamische Auseinandersetzung des In-der-Welt-seins. Wenger nennt die Dualität von Wissen und Handeln „experience of meaning“.

[Abb. 3] illustriert den Prozess des gemeinsamen situationsbezogenen Diskurses über die Bedeutung von Wissen für die jeweils spezifische Praxis.

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Abb. 3 Arbeit mit Schlüsselsituationen: Professionelle Identität durch Aushandeln von Wissen (Quelle: Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Communities of Practice. 2. überarb. Aufl. hep Verlag; 2016; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

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Fazit

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig es vor allem für Studierende ist, immer mehr in professionelle Communities of Practice hineinzuwachsen. Die Hochschule kann Strukturen bzw. Orte schaffen, in denen solche CoPs, die sich mit bedeutungsvollen Themen und deren situativer Verankerung beschäftigen, leben. Im aktiven Aushandeln, wie ein bestimmtes Erleben verstanden werden kann, welches Wissen in einer spezifischen Situation, warum relevant ist und wie dieses ein bestimmtes Phänomen erklären kann, entsteht eine Atmosphäre, in der die Mitglieder der CoP ganz einer Sache gewidmet sind. In genau dieser Selbstvergessenheit entsteht Sinn und ein tiefes Gefühl von Befriedigung. Weil in diesem Prozess die ganze Person involviert ist, bleibt Lernen kein technisches Phänomen, sondern verändert im Laufe der Zeit die Identität ihrer Mitglieder.


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Autorinnen / Autoren

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Prof. Dr. Eva Tov studierte und promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i.Br. im Fach Psychologie. Von 1995 bis 2011 war sie an den Vorgängerinstitutionen der Hochschule für Soziale Arbeit (HSA) der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) als Dozentin und in diversen Leitungsfunktionen tätig. Von 2006 bis 2011 war sie Beauftragte für Qualitätsmanagement an der Hochschule für Soziale Arbeit. Ihre Schwerpunkte in der Forschung und Lehre sind Kompetenz-, Qualitäts- und Organisationsentwicklung, Evaluations-, Forschungs- und Projektleitungsmethoden sowie Krise, Konflikt, sexualisierte Gewalt und Resilienz.

  • Literatur

  • 1 Dreyfus HL, Dreyfus SE. Künstliche Intelligenz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; 1987
  • 2 Kunz R. Wissen und Handeln in Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit: Empirische und theoretische Grundlegung eines neuen kasuistischen Ansatzes. Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences; 2015
  • 3 Lave J, Wenger E. Situated learning: Legitimate peripheral participation. New York: Cambridge University Press; 1991
  • 4 Schön DA. The Reflective Practitioner. How professionals think in action. London: Temple Smith; 1983
  • 5 Spiegel H von. Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. 3. Aufl. München:: Reinhardt; 2008
  • 6 Stämpfli A, Kunz R, Tov E. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit als Scharnier zwischen Theorie, Wissenschaft und Praxis. In: Unterkofler U, Oestereicher E. Hrs. Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern. Wissensentwicklung und -verwendung als Herausforderung. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress Ltd.; 2014;
  • 7 Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Communities of Practice. 2. überarb. Aufl. hep Verlag; 2016
  • 8 Wenger E. Communities of practice. Learning, meaning and identity. Cambridge: Cambridge University Press; 1998

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Eva Tov
Hebelstrasse 94
4056 Basel
Schweiz

Publication History

Article published online:
13 December 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Dreyfus HL, Dreyfus SE. Künstliche Intelligenz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; 1987
  • 2 Kunz R. Wissen und Handeln in Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit: Empirische und theoretische Grundlegung eines neuen kasuistischen Ansatzes. Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences; 2015
  • 3 Lave J, Wenger E. Situated learning: Legitimate peripheral participation. New York: Cambridge University Press; 1991
  • 4 Schön DA. The Reflective Practitioner. How professionals think in action. London: Temple Smith; 1983
  • 5 Spiegel H von. Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. 3. Aufl. München:: Reinhardt; 2008
  • 6 Stämpfli A, Kunz R, Tov E. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit als Scharnier zwischen Theorie, Wissenschaft und Praxis. In: Unterkofler U, Oestereicher E. Hrs. Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern. Wissensentwicklung und -verwendung als Herausforderung. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress Ltd.; 2014;
  • 7 Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Communities of Practice. 2. überarb. Aufl. hep Verlag; 2016
  • 8 Wenger E. Communities of practice. Learning, meaning and identity. Cambridge: Cambridge University Press; 1998

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Abb. 1 Theorie-Praxis-Relationierung durch Grenzüberschreitungen zwischen Communities of Practice (CoPs) (Quelle: Stämpfli A, Kunz R, Tov E. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit als Scharnier zwischen Theorie, Wissenschaft und Praxis. In: Unterkofler U, Oestereicher E, Hrs. Theorie-Praxis-Bezüge in professionellen Feldern. Wissensentwicklung und -verwendung als Herausforderung. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress Ltd.; 2014; modifiziert nach Wenger E. Communities of practice. Learning, meaning and identity. Cambridge: Cambridge University Press; 1998; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
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Abb. 2 Relationierung von Allgemeinem und Besonderem beim Wechselspiel von generalisierbaren und spezifischen Aspekten des Reflexionsmodells Schlüsselsituationen (Quelle: Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Communities of Practice. 2. überarb. Aufl. hep Verlag; 2016; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
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Abb. 3 Arbeit mit Schlüsselsituationen: Professionelle Identität durch Aushandeln von Wissen (Quelle: Tov E, Kunz R, Stämpfli A. Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Communities of Practice. 2. überarb. Aufl. hep Verlag; 2016; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)