Gesundheitswesen 2021; 83(03): 156-158
DOI: 10.1055/a-1372-6382
Übersichtsarbeit

Laudatio für Prof. Karl Lauterbach Sc.D. anlässlich der Verleihung der Salomon Neumann Medaille der DGSMP

Laudation to Prof. Karl Lauterbach Sc.D. on the Occasion of the Award of the Salomon Neumann Medal sponsored by the DGSMP
Rolf Rosenbrock
1   Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V. , Berlin
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Der Beitrag enthält die Laudatio anlässlich der Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille 2020 der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) an Prof. Karl Lauterbach.


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Abstract

The contribution contains the laudation on behalf of the award of the Salomon-Neumann-Medal 2020 of the German Society for Social Medicine and Prevention to Prof. Karl Lauterbach


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Jedes Mal, wenn ich Karl Wilhelm Lauterbach zuhöre, fühle ich mich ein Bisschen heimisch. Das liegt nicht daran, dass ich mit Allem einverstanden bin, was er so sagt, sondern daran, dass wir beide in der Stadt Düren im Rheinland aufgewachsen sind, da spricht man so, Lauterbachs sound ist authentisch. Karl Lauterbach und ich sind uns in Düren nie begegnet – er ist ja 18 Jahre jünger als ich, aber: einer meiner Deutschlehrer war später sein Schulleiter am Wirteltorgymnasium. Düren ist eine Industriestadt mit reicheren und ärmeren Menschen, Karl Lauterbach kommt aus einer Arbeiterfamilie, vielleicht auch dies eine Quelle seines Engagements gegen sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen, die ja mit ökonomischer Ungleichheit vielfältig verkoppelt ist. Viele Jungen in einer solchen Stadt spielen Fußball. Für Karl Lauterbach war Fußball zeitweise wichtiger als die Schule. Vielleicht hat er dabei gelernt, dass man sich mit Geschicklichkeit und Ausdauer auch gegen größere und stärkere Gegner durchsetzen kann, wenn man trainiert und gewinnen will. Und dass man sich auch von Klassenkeile im Kohlenkeller nicht klein machen darf. Wenn es so war, war das ein guter Weg zur Entwicklung der wichtigsten psychosozialen Gesundheitsressourcen, deren starke Ausprägung seinen Lebensweg und seine Karriere ermöglichte und begleitete – Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Verankerung in hilfreichen sozialen Netzwerken, Sinn erleben. Ich weiß nicht, wie es war. Aber nach dem Geburtsjahrgang 1963 und der Herkunft aus einer Arbeiterfamilie könnte es gut sein, dass sein Studium ab 1982 eine der vielen Früchte der sozialliberalen Bildungspolitik war – damals verringerte sich die soziale Spreizung zumindest im Hinblick auf Bildung, heute wächst sie wieder. Die Investition hat sich gelohnt, Karl Lauterbach absolvierte eine akademische Musterkarriere. Er studierte Medizin an der RWTH Aachen und an der Universität von San Antonio im US-Bundesstaat Texas. Es folgte ein Masterstudium der Gesundheitsökonomie (Health Policy and Management) und Epidemiologie an der Harvard School of Public Health der Harvard University, dort wurde er 1995 zum Scientiae Doctor (Sc.D.) promoviert, u. a. betreut vom Ökonomie-Nobelpreisträger Armatya Sen. Zurück in Deutschland gründete er im Jahr 1998 das Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) in der Universität zu Köln und ist seither als Professor dessen Direktor, seit seiner Wahl in den Deutschen Bundestag im Jahr 2005 von dieser Funktion beurlaubt. Er war in diesen frühen Jahren eine Art shooting star der Gesundheitsökonomie in Deutschland, jung, dynamisch, geliebt, gefürchtet, gehasst, ohne ordinäre neoliberale Denkverbote und mit Fliege: Ausrichtung der medizinischen Versorgung an wissenschaftlicher Evidenz, also evidence based medicine statt eminence based medicine, Orientierung der Versorgung durch veränderte Strukturen und materielle Anreize, solide Finanzierung durch eine solidarische Bürgerversicherung – das – grob - war sein Programm. Er hätte auf dieser Schiene bleiben können, die wissenschaftliche Produktivität seines Instituts war hoch, die Produkte hoch anerkannt. Zahlreiche Bücher und Aufsätze aus einem breiten Themenspektrum - mit Schwerpunkt in Sachen Krankenhaus, Vergütung und DRG - zeugen davon, darunter mehrere Lehrbücher.

Indes: Karl Lauterbach wollte mehr und er wollte Anderes. Seinen Weg in die Politik konnte ich etwas aus der Nähe beobachten, als wir beider von 1999 bis 2005 im siebenköpfigen Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit) saßen, u. a. an dem bis heute Richtung weisenden Gutachten des SVR zu Unter-, Über- und Fehlversorgung in der Krankenversorgung (2002). Karl Lauterbach ist ein präziser Diskussionspartner von überragender Intelligenz und mit einem manchmal staubtrockenen Humor. Auch im SVR führte er das Banner der evidence based medicine – die Cochrane Datenbank stets online in den Sitzungen. Aus meiner Sicht führte das manchmal zum methodischen Dogmatismus. Aus seiner Sicht sah es sicherlich anders aus. Wir hatten – letztlich nie wirklich beendete – Kontroversen über den Status und die Reichweite von Aussagen der ebM, über den Status und die Reichweite von Befunden aus qualitativen Studien, über die Rolle und Folgen ökonomischer Anreizsysteme, insbesondere des Wettbewerbs – aber es war stets ein inhaltlich angenehmes Arbeiten. Es wäre wohl noch vertrauter geworden, hätte da nicht immer öfter ein Fernsehteam vor dem Sitzungsraum des SVR seine Ausrüstung aufgebaut, um in einer Sitzungspause rasch ein Interview mit Lauterbach aufzunehmen. Karl Lauterbach bereitete während seiner Zeit im SVR ersichtlich und erlebbar seinen Weg in die Politik vor. Er lief sich warm und wurde auch warm mit der Rolle. Er beriet Ulla Schmidt, wurde in die Rürup-Kommission berufen und etablierte sich in den Medien. Er lernte schnell, wie man Befunde und Forschungslagen in politische Botschaften übersetzt, wie man also wissenschaftliche Expertise und Reputation in der Politik nutzen kann. Seit 2005 arbeitet Karl Lauterbach als Mitglied des Deutschen Bundestages, mit dem Direktmandat im eher Arbeiter-geprägten Wahlkreis Leverkusen-Köln IV, das Direktmandat hat er seither noch alle dreimal wiedergewonnen. Im Bundestag natürlich lange Jahre Sprecher der Arbeitsgruppe Gesundheit der Fraktion und in zahllosen gesundheitspolitischen Gremien, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, tätig auch in Sachen Petitionen, Bildung, Forschung, Recht und Verbraucherschutz. Das ergibt – dazu der Wahlkreis – eine dauernd sehr dichte und fordernde Agenda, nichts für Kurzstreckenläufer. 2019 kandidierte er zusammen mit Nina Scheer für den Parteivorsitz. In den Regionalkonferenzen war er der einzige Kandidat, der – wie nur ganz selten in der Politik – die Differenz von durchschnittlich 10 Jahren Lebenserwartung zwischen arm und reich offen aus- und als gesellschaftspolitisches Problem ansprach, das tat gut.

Karl Lauterbach hat den sehr selbstbestimmten und von ihm beherrschten Berufsweg als Professor und Institutsleiter zugunsten eines ziemlich fremdbestimmten, sehr anstrengenden und – aktuell mal wieder – von Hass und Drohungen beschädigten Lebens als Politiker und öffentliche Person verlassen. Ich glaube, einen solchen Bequemlichkeitsverlust nimmt man nur dauerhaft und verschleißarm hin, wenn man neben vielem anderen ein festes inneres Anliegen hat. Bei Karl Lauterbach vermute ich als dieses Anliegen das Bedürfnis, daran mitzuwirken, das von ihm als wissenschaftlich richtig Erkannte in Gesetze und Verordnungen zu gießen und damit verbindlich zu machen. Dass es ihm also darum geht, die Stimmkraft der Gesundheitswissenschaften im Arkanum der Politik zu steigern, auf dass das Gut Gesundheit bei politischen Entscheidungen ein höheres Gewicht erhalte.

Karl Lauterbach hat für sich entschieden, diesem Bedürfnis durch den Wechsel ins Parlament und die damit verbundenen Rollen zu entsprechen. Für einen ausgewiesenen Experten bedeutet das eine Rolle nicht ohne Spannungsfelder, insbesondere dann, wenn es darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse in den politischen Diskurs einzubringen.

Wissenschaft und Politik ticken bekanntlich ganz unterschiedlich: Politik will von der Wissenschaft eindeutige Ergebnisse, und zwar möglichst solche, deren Konsequenzen mit den Grundlinien der eigenen politischen Programmatik zusammenpassen. In der Politik werden Ergebnisse nicht nach den Regeln des herrschaftsfreien Diskurses erzielt.

Den genau aber sucht die Wissenschaft, das Leben mit offenen Prozessen und mit Ambiguitäten – das muss der Wissenschaftler können und wollen, das darf und kann der Politiker nicht gut finden, er braucht die Lösung, möglichst jetzt.

Daraus ergibt sich für den in die Politik ausgewanderten Wissenschaftler eine beständige Gratwanderung, auf der man leicht abstürzen kann. Integrität bei der Bewältigung dieser Herausforderung bemisst sich daran, dass man die Wissenschaft dabei weder missbraucht noch verrät.

Nach meiner Wahrnehmung hat Karl Lauterbach diese schwierige Gratwanderung nahezu fehlerfrei bewältigt.

Das ist nicht nur eine große Leistung, sondern auch manchmal unbequem, so auch jetzt bei der Corona Pandemie. Lauterbach vertritt hier – in der Doppelrolle als Experte und Politiker – eine klare Public Health Perspektive: die Eintrittswahrscheinlichkeit von Neuinfektionen so weit wie möglich zu senken. Nun ist es beim Sars-CoV-2 leider so, dass wir über die Potenziale der unterschiedlichen Transmissionswege, über die Risikoladung unterschiedlicher Risikosituationen, über die Wirksamkeit unterschiedlicher Präventionsstrategie usw. immer noch Vieles nicht wissen. Das gibt einerseits Raum für – optimistische oder pessimistische – Spekulationen und führt andererseits leider auch dazu, dass die Botschaften der individuellen Verhaltensprävention wenig spezifisch, oft nicht widerspruchsfrei sind und sich manchmal ändern. Karl Lauterbach hat hier von Anfang an und vor vielen anderen aus seiner Disziplin bei eher pessimistischer (aber nicht panischer) Sichtweise eine klare Position der Risiko-Minimierung bezogen, also eine etwas radikalisierte Form von health in all policies mit sehr starken Durchgriffsrechten gefordert und sich dabei auf dazu vorliegende aktuelle Forschungen bezogen. Alarmistisch war das nicht: Die Realität hat seinen eher pessimistischen Prognosen weitgehend Recht gegeben. Er hätte sicherlich lieber Unrecht gehabt.

Man muss nicht mit jeden einzelnen Vorschlag zur Corona-Politik von Karl Lauterbach einverstanden sein, man kann seine Fixierung auf Maßnahmen des Staates als zu eng sehen und die Nicht-Einbeziehung moderner Formen der Verhaltensbeeinflussung (New Public Health) in seine Überlegungen und Vorschläge kritisieren - man sollte aber anerkennen, dass hier ein Wissenschaftler auf Basis aktueller Forschungen seine tiefe und begründete Sorge um das Gemeinwohl äußert und ihm angemessen erscheinende Vorschläge zur Bewältigung entwickelt und vorträgt. In meiner Sicht ist dies eine sehr verdienstvolle Realisierung von Public Health: the art and science of preventing disease, prolonging life and promoting health through the organized efforts of society.

Wir wünschen uns alle, dass wir in 3 Jahren oder so v. a. über die Bewältigung und Gestaltung der materiellen und sozialen Folgen der Pandemie reden (das ist genug Stoff) und nicht mehr so viel über Inzidenzen und Organisationsprobleme beim Impfen. Und ich wünsche Karl Lauterbach, dass er auch diese und die noch kommenden Herausforderungen an seine politische und fachliche Integrität erfolgreich meistert. Heute gratuliere ich ihm zur in meiner Sicht hoch verdienten Auszeichnung mit der Salomon Neumann Medaille der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention.

Der Autor

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, von 1988 bis 2012 Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), apl. Professor an der Charité, Berlin School of Public Health, seit 2012 ehrenamtlicher Vorsitzender der Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Korrespondenzadresse

Prof. Rolf Rosenbrock
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V.
Oranienburger Straße 13/14
10178 Berlin
Deutschland   

Publication History

Article published online:
12 March 2021

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