Schlüsselwörter
Netzhautdystrophie - Retinitis pigmentosa - Zapfen-Stäbchen-Dystrophie - Diagnose
- Bildgebung - genetische Testung
Erbliche Netzhauterkrankungen sind bei Kindern und Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter
eine häufige Ursache für eine schwere Sehbehinderung oder Erblindung. Ursächlich sind
Mutationen in Genen, welche für die Struktur, Funktion oder den Metabolismus vor allem
der äußeren Netzhautschichten eine wesentliche Rolle spielen. Eine frühzeitige und
präzise Diagnose ermöglicht nicht nur eventuelle therapeutische Maßnahmen und die
Versorgung mit Hilfsmitteln zu initiieren, sondern auch eine frühe Auseinandersetzung
mit möglichen sozialen und psychischen Krankheitsauswirkungen sowie eine Berücksichtigung
in der Lebensplanung. Hierdurch können negative Konsequenzen auch in Bezug auf die
Ausbildung oder den Beruf minimiert werden.
Aufgrund einer großen Heterogenität ist die Diagnosestellung einer erblichen Netzhauterkrankung
oftmals komplex [1], [2], [3], [4], [5], [6]. Die Art und das Ausmaß der Symptome, Einschränkungen der Sehfunktion sowie erste
klinische Untersuchungen können – zumindest orientierend – relativ einfach und in
der Breite bestimmt werden. Die Identifizierung der zugrunde liegenden pathophysiologischen
Ursache hängt jedoch von speziellen Untersuchungsverfahren, einer genetischen Diagnostik
sowie der Erfahrung des Klinikers mit seltenen und erblichen Netzhauterkrankungen
ab.
Viele Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen durchlaufen eine diagnostische
Odyssee, bis sie eine präzise Diagnose und eine umfängliche Beratung erhalten. Daher
ist es entscheidend, den (Anfangs-)Verdacht einer erblichen Netzhautdystrophie zu
stellen und im Anschluss eine weiterführende, ggf. multidisziplinäre Untersuchung
in einem Zentrum anzustreben. Doch selbst umfänglich charakterisierte und diagnostizierte
Patienten stellen sich teilweise in mehreren Zentren vor, da sie bspw. das Gefühl
haben, therapeutische Möglichkeiten zu verpassen. Deshalb sind neben der Diagnosestellung
eine umfassende Patientenberatung, Verlaufsuntersuchungen in größeren Abständen, sowie
ein Kontakt zu Patientenorganisationen anzustreben.
Kernelemente der Charakterisierung von erblichen Netzhauterkrankungen umfassen:
-
eine detaillierte Anamnese bezüglich der Sehfunktion
-
eine umfassende Allgemeinanamnese, um evtl. Komorbiditäten und/oder Systemerkrankungen
zu erkennen
-
eine ausführliche Familienanamnese
-
die klinische Untersuchung
-
die Bestimmung der Sehfunktion (ggf. elektrophysiologische Untersuchungen)
-
eine multimodale retinale Bildgebung
-
eine molekulargenetische Diagnostik
Die gewonnene Information ermöglicht meistens eine präzise Diagnose und kann Grundlage
für eine detaillierte Patienten- und Familienberatung sein. Für Patienten können hierbei
u. a. folgende Punkte relevant sein:
-
Einstufung und Erklärung aktueller Einschränkungen der Sehfunktion (z. B. hinsichtlich
aktiver Verkehrsteilnahme, Arbeitsplatzgestaltung)
-
prognostische Aussagen bezüglich eines zukünftigen Sehverlusts
-
Information bezüglich neuer Behandlungsansätze und klinischer Studien
-
Abgrenzung zu nicht genetischen Erkrankungen
-
Abklärung evtl. syndromaler bzw. systemischer Erkrankungsmanifestationen
-
Aussagen zur Wiederholungswahrscheinlichkeit/Vererblichkeit
-
Hinweise auf Beratung und Unterstützung durch Selbsthilfeorganisationen und erkrankungsspezifische
Patientengruppen
-
Hinweise auf Register, wie das Patientenregister der „Pro Retina“ (www.pro-retina.de/patientenregister)
Anamnese bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung
Anamnese bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung
In der klinischen Routine können vielfältige Symptome und Beschwerden auf eine erbliche
Netzhauterkrankung hindeuten, insbesondere, wenn diese nicht durch eine andere Erkrankung
oder Anomalie erklärt sind. Beispiele sind Sehprobleme im Dunkeln, eine verzögerte
Adaptation an unterschiedliche Helligkeiten, Gesichtsfeldeinschränkungen oder eine
vermehrte Blendung. Auch wenn ein junges Alter bei ersten Symptomen und ein Fortschreiten
der Sehbeschwerden typisch sind, schließen weder ein fortgeschrittenes Alter noch
ein stationärer Befund eine erbliche Netzhauterkrankung aus. Eine detaillierte Anamnese
kann den Verdacht einer erblichen Netzhauterkrankung erhärten und den Umfang weiterer
Untersuchungen steuern. Zeitpunkt und Art der (Erst-)Symptome können darüber hinaus
hinweisend für die Krankheitsklassifizierung sein, insbesondere wenn fortgeschrittene
degenerative Veränderungen eine morphologiebasierte Zuordnung nicht sicher zulassen.
Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen gewöhnen sich oftmals an (manche) Krankheitseinschränkungen
und entwickeln spezifische Coping-Strategien. Der Informationsgewinn einer Anamnese
ist dann von gezieltem Nachfragen abhängig. Insbesondere ist dies der Fall bei Patienten
mit funktionellen Einschränkungen, die seit der Geburt oder frühester Kindheit vorliegen.
So können Nachtsehprobleme oder eine vermehrte Blendung subjektiv als Normalzustand
angenommen werden, da Patienten Strategien entwickelt haben, mit diesen Einschränkungen
ohne Leidensdruck umzugehen. Spezifische Nachfragen, oftmals wiederholt und in unterschiedlichen
Formulierungen, können auch solche Sehfunktionsänderungen in Erfahrung bringen. So
können Sehprobleme in Dunkelheit vorliegen, wenn sich ein Patient in unbekannter Umgebung
unsicher fühlt, während er in bekanntem Umfeld gut zurechtkommt. Eine vermehrte Blendung
mag vorliegen, wenn ein Patient das Sehen in Räumen angenehmer empfindet als draußen
und/oder häufiger als andere eine Sonnen- bzw. getönte Brille trägt. Letztere
tragen manche Patienten auch, um durch Adaptation einen verbesserten Seheindruck (z. B.
der Kontrastwahrnehmung oder Sehschärfe) zu erlangen.
Eine wichtige Rolle spielt ebenfalls die Allgemeinanamnese. So können retinale Veränderungen
mit syndromalen Erkrankungen assoziiert sein (z. B. Usher- oder Bardet-Biedl-Syndrom)
und auch Manifestation einer genetischen Systemerkrankung mit Involvierung unterschiedlicher
Organsysteme sein. Beispiele für solche Systemerkrankungen sind Pseudoxanthoma elasticum
(PXE) mit u. a. einem erhöhten kardiovaskulären Risiko, die primäre Hyperoxalurie
Typ 1 mit u. a. Niereneinschränkungen, mitochondriale Erkrankungen wie das Kearns-Sayre-Syndrom,
oder die McArdle-Erkrankung mit Muskelproblemen [7], [8], [9], [10], [11]. Auch eine genaue Medikamentenanamnese ist essenziell, mit der u. a. eine Retinopathie
durch Hydroxychloroquin oder Pentosan-Polysulfat abzugrenzen ist [12], [13], [14], [15], [16], [17], [18]. Therapien mit immunmodulatorischen Substanzen, sei es zur Tumortherapie (Melanom,
Basalzellkarzinom), zur Therapie rheumatologischer oder ophthalmologischer Erkrankungen,
können neben unmittelbaren Medikamentennebenwirkungen Hinweise auf möglicherweise
relevante Systemerkrankungen (z. B. Colitis ulcerosa und dadurch bedingter Vitaminmangel)
geben. Daneben sollten diätetische und Lebensstilfaktoren eruiert werden: Es gibt
bspw. Hinweise für mögliche negative Effekte auf den Erkrankungsverlauf, wenn Patienten
mit Mutationen im ABCA4-Gen hochdosiertes Vitamin A einnehmen oder Patienten mit Retinitis pigmentosa rauchen
[19], [20].
Die Anamnese bezüglich familiärer (Augen-)Erkrankungen kann ebenfalls Hinweise auf
eine zugrunde liegende Erkrankung liefern. Erbliche Netzhauterkrankungen können autosomal-dominant,
autosomal-rezessiv, X-chromosomal und mitochondrial vererbt werden. Bei der Erstellung
eines Stammbaums sollte in jedem Fall versucht werden, 3 Generationen und Verwandte
2. Grades zu dokumentieren, da gerade X-chromosomale Vererbungsmuster oder dominant
vererbte Erkrankungen mit reduzierter Penetranz (nicht jeder Träger der Mutation erkrankt)
oft nur dann erkannt werden können. Auch wenn keine weiteren Familienmitglieder betroffen
sind, sollte ein Familienstammbaum gezeichnet werden. Dieser kann eine Konsanguinität
dokumentieren, die oft mit autosomal-rezessiven Erbgängen assoziiert ist, und eine
Untersuchung von Familienmitgliedern leiten. Auch hier lohnen sich detaillierte Nachfragen
und die Dokumentation anamnestischer Details: Wenn bspw. keine Verwandtschaft der
Eltern bekannt ist, mag
eine Konsanguinität nicht ausgeschlossen werden, wenn die Eltern aus demselben
oder benachbarten Dörfern stammen oder sich auf einer Familienfeier kennen gelernt
haben. Ebenfalls ist es wichtig, das Alter von verstorbenen Familienmitgliedern zu
dokumentieren: Ist ein Elternteil in einem Alter verstorben, in dem die Erkrankung
möglicherweise noch nicht symptomatisch war, kann dieser Elternteil nicht als sicher
gesund gewertet werden (insbesondere bei spät beginnender Symptomatik wichtig). Des
Weiteren ist eine möglichst vollständige Erfassung der Erkrankungen von Familienangehörigen
wichtig. So kann ein Diabetes mellitus der Mutter und eine Schwerhörigkeit von deren
Schwester zu einer mitochondrialen Retinopathie passen, auch wenn jeder der Betroffenen
unterschiedliche Organmanifestationen einer mitochondrialen Erkrankung entwickelt.
Ebenso können zunächst zusammenhanglos erscheinende Augenerkrankungen Hinweise auf
die genetische Ursache liefern: So können unterschiedliche
Familienmitglieder mit Mutation im sog. KIF11-Gen unterschiedliche Netzhautveränderungen aufweisen (Familial Exudative Vitreoretinopathy,
Zapfen-Stäbchen-Dystrophie oder angeborene chorioretinale Atrophien) [21], [22]. Fragen bezüglich der ethnischen Herkunft können darüber hinaus bei der Beurteilung
von regionalen Inzidenzunterschieden hilfreich sein.
Untersuchung der Sehfunktion bei erblichen Netzhautdystrophien
Untersuchung der Sehfunktion bei erblichen Netzhautdystrophien
Die Bestimmung der Refraktion sowie der bestkorrigierten Sehschärfe sind sowohl in
der Frühdiagnostik als auch bei Verlaufsuntersuchungen ein wichtiges diagnostisches
Element und können Baustein differenzialdiagnostischer Überlegungen sein. Während
bei Erwachsenen zumeist eine große Verlässlichkeit bezüglich der Visus- und Refraktionswerte
vorliegt, wobei die Sehschärfenbestimmung (zeit-)aufwendig sein kann und mit der Morphologie
in Beziehung gesetzt werden sollte, ist bei Kindern eine verlässliche Visus- und Refraktionsbestimmung
erst mit Erreichen des 3. Lebensjahres gegeben. Zuvor sollte die Refraktion in Zykloplegie
bestimmt werden. Etabliert hat sich bei Kindern die Bestimmung des Nahvisus als Reihenvisus,
wie mit LEA-Symbolen oder Landoldt-Ringen (C-Test). Wichtig sind ebenfalls eine Abgrenzung
bzw. der Ausschluss einer Amblyopie. Neben der Sehschärfe können auch weitere Symptome,
wie ein näher zu charakterisierender Nystagmus, indirekt Rückschlüsse auf die
Sehfunktion ermöglichen. Ein reduzierter Visus ist bei Kindern jedoch nicht nur
im Spektrum von erblichen Netzhauterkrankungen zu sehen. Vielmehr ist differenzialdiagnostisch
bei Kleinkindern neben einer verzögerten visuellen Reifung auch an zentrale Sehstörungen
oder eine Hypoplasie des Sehnervs (optic nerve hypoplasia) zu denken [23], [24]. Bei jungen Patienten mit leichten Seheinschränkungen und subtilen Veränderungen
in der retinalen Bildgebung können Untersuchungen des Farbsehens ebenfalls hilfreich
sein, um bspw. erbliche Netzhauterkrankungen von einer Sehnervenentzündung abzugrenzen.
Auch die bei der Visusbestimmung erhobenen Refraktionswerte können in differenzialdiagnostische
Überlegungen einbezogen werden, da Refraktionsanomalien bei bestimmten Netzhautdystrophien
gehäuft vorkommen. Beispielsweise findet sich bei Patienten mit Mutationen im Bestrophin-Gen
oft eine Hyperopie, während Patienten mit Retinitis pigmentosa oder kongenitaler stationärer
Nachtblindheit oft eine Myopie aufweisen.
Die Gesichtsfelduntersuchung ermöglicht Aussagen hinsichtlich peripherer, wie auch
zentraler Gesichtsfelddefekte und unterstützt die Diagnosestellung und Einordnung
von erblichen Netzhauterkrankungen. Insbesondere bei fortgeschrittenen Funktionsstörungen
liefert die Goldmann-Perimetrie oftmals mehr Informationen als die statische Computerperimetrie,
da hiermit Gesichtsfeldrestinseln besser dargestellt werden können [25]. Neben der Diagnose sowie der Verlaufskontrolle hat die Goldmann-Perimetrie eine
große Relevanz für Versicherungs-, Haftungs- und sozialversicherungsrechtliche Fragestellungen
einschließlich Beurteilungen zur Minderung der Erwerbsfähigkeit, zur Fahrtauglichkeit,
zu Gefährdungen am Arbeitsplatz oder auch in Bezug auf Blinden- oder Sehbehindertengeld
[25], [26].
Auch wenn die Elektrophysiologie in der Diagnostik von erblichen Netzhauterkrankungen
früher oft wegweisend war, hat sich ihr Stellenwert durch Entwicklungen in der retinalen
Bildgebung und der molekulargenetischen Diagnostik deutlich reduziert. Elektrophysiologische
Untersuchungen können ggf. hilfreich sein bei der Interpretation unklarer und neu
identifizierter molekulargenetischer Varianten oder bei der Differenzierung von imitierenden
Netzhauterkrankungen (Mimicking Diseases, siehe unten). Die Elektroretinografie (ERG)
hat weiterhin einen gewissen Wert in der Abgrenzung panretinaler Erkrankungen von
Makuladystrophien, für die Diagnostik einer kongenitalen stationären Nachtblindheit
(CSNB), der Achromatopsie, eines Enhanced-S-Cone-Syndroms, sowie bei charakteristischen,
genspezifischen Mustern, wie bei Varianten im KCNV2- oder NR2E3-Gen. Die Bedeutung des Elektrookulogramms (EOG) liegt vor allem in der Differenzialdiagnostik
vitelliformer Makulaläsionen.
Jedoch konnte gezeigt werden, dass selbst bei der Diagnose eines Morbus Best,
bei dem charakteristischerweise ein reduzierter oder fehlender Hellanstieg vorkommt,
EOG-Ableitungen nicht zwangsläufig klar pathologisch ausfallen müssen [27]. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Durchführung eines EOGs bei einem stark
reduzierten oder erloschenen ERG keinen Mehrwert generiert.
Netzhautbildgebung bei erblichen Netzhautdystrophien
Netzhautbildgebung bei erblichen Netzhautdystrophien
Die retinale Bildgebung ermöglicht eine detaillierte Darstellung von Netzhautpathologien
einschließlich Veränderungen, die sich einer funduskopischen Untersuchung entziehen.
Neben der konventionellen Farbfundusfotografie, die funduskopische Befunde dokumentiert,
sind vor allem die hochauflösende optische Kohärenztomografie (OCT) und die Fundusautofluoreszenz
(FAF), die mittels kurzwelligen Lichts Fluorophore des Augenhintergrundes darstellen
kann, mit ihren oftmals charakteristischen Befunden etabliert ([Abb. 1]) [3], [4], [5], [6]. Mittels FAF- und OCT-Bildgebung lassen sich auch Veränderungen im Verlauf nachvollziehen
und messen. Dies ist auch für klinische Studien relevant, da sich die zentrale Sehschärfe
innerhalb eines Studienzeitrahmens oftmals nicht signifikant ändert, eine Erkrankungsprogression
sich aber möglicherweise in der
Bildgebung nachvollziehen lässt.
Abb. 1 Repräsentative Aufnahmen von Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen mittels
Weitwinkelbildgebung, Fundusautofluoreszenz (FAF) und optischer Kohärenztomografie
(OCT), von links nach rechts. Reihe 1 und 2: ABCA4-assoziierte Retinopathie (Morbus Stargardt) mit Flecken erhöhter und erniedrigter
Autofluoreszenz sowie einer zentralen Atrophie. Reihe 3: Retinitis pigmentosa (RP)
sine pigmento, bei der sich in der FAF (Ring erhöhter Autofluoreszenz) und der OCT
(zentrale Photorezeptorbande erhalten bei angrenzender Verdünnung und Atrophie der
äußeren Netzhaut) charakteristische Befunde einer RP zeigen. Reihe 4: „klassische“
Retinitis pigmentosa. Reihe 5: autosomal-rezessive Bestrophinopathie mit sog. perlschnurartigen
Flecken erhöhter FAF sowie einer serösen subretinalen Abhebung in der OCT-Bildgebung.
Die OCT-Bildgebung erstellt „quasi-histologische“ Schnittbilder der Netzhaut. Neben
einer schnellen Durchführbarkeit liegt ihre Stärke in der Erstellung von detaillierten
Verlaufsuntersuchungen. Bei Netzhautdystrophien ist vor allem die Begutachtung der
Integrität des retinalen Pigmentepithels (RPE) und der Photorezeptorschichten (z. B.
Ellipsoidzone, äußere Körnerschicht) von Bedeutung. So weisen Patienten mit einer
RP zumeist initial eine periphere Verdünnung und Atrophie der äußeren Netzhaut auf,
die auf einer primären oder vorwiegenden Stäbchendegeneration beruht [28], [29]. Im Gegensatz zeigen Patienten mit Zapfen-Stäbchen-Dystrophien (ZSD) mit primärer
Degeneration im Makulabereich vor allem zentrale atrophische Veränderungen der äußeren
Retina ([Abb. 1]). Ferner lassen sich diese beiden Krankheitsentitäten mithilfe von OCT-Untersuchungen
gegenüber stationären Erkrankungen wie der
CSNB oder der Achromatopsie abgrenzen, die charakteristischerweise nur geringe
oder keine Veränderungen in der OCT-Bildgebung aufweisen [30], [31], [32]. Mithilfe der OCT lassen sich ebenfalls dezente, in der Fluoresceinangiografie nahezu
unauffällige Makulaödeme darstellen, die bei RP-Patienten häufig auftreten. Die Stärke
der OCT-Bildgebung kommt vor allem zum Tragen, wenn sie mit weiteren Bildgebungsmodalitäten,
wie der Blau- oder Nahinfrarot-FAF kombiniert wird.
Bei der FAF wird die Verteilung von Fluorophoren des Augenhintergrundes dargestellt,
meist unter Verwendung von kurzwelligem Anregungslicht im Blau- oder Grünbereich.
Hierbei können wertvolle Hinweise für die Diagnose und die Ausbreitung einer Erkrankung
gewonnen werden und es lassen sich häufig indirekt Rückschlüsse auf die Netzhautfunktion
ziehen [33], [34], [35], [36]. Exemplarisch wird dies bei der RP deutlich: Am Übergang zwischen zentral weitgehend
intakter und peripher degenerierter Netzhaut findet sich typischerweise ein konzentrischer
Ring erhöhter Autofluoreszenz, für den funduskopisch kein sichtbares Korrelat vorliegt
[37], [38], [39]. Auch wenn der genaue Ursprung dieses Phänomens unvollständig verstanden ist, konnte
mittels OCT-Untersuchungen gezeigt werden, dass der
Ring dem Verlust der ellipsoiden Bande und einer starken Verdünnung oder gar Verlust
der Photorezeptorschicht entspricht. Passend hierzu zeigte sich eine Korrelation des
Durchmessers des Ringes mit der Größe des erhaltenen Gesichtsfeldes [40]. Daher ist dieser Ring erhöhter Autofluoreszenz nicht nur diagnostisch wertvoll,
sondern gibt ebenfalls Auskunft über das Ausmaß der bereits bestehenden retinalen
Funktionseinschränkung [38], [41]. Ringe erhöhter Autofluoreszenz können auch bei anderen Erkrankungen im Randbereich
degenerativer Netzhaut gefunden werden, was die Notwendigkeit einer multimodalen Bildgebung
verdeutlicht. Weitere charakteristische FAF-Befunde schließen Flecken erhöhter Autofluoreszenz,
z. B. bei Patienten mit ABCA4-assoziierter Retinopathie (Morbus Stargardt), oder eine vitelliforme Läsion mit erhöhter
Autofluoreszenz bei Patienten mit einem autosomal-dominanten
Morbus Best oder bei IMPG2-Mutationen ein [42]. Ebenfalls kommt der FAF in frühen Erkrankungsstadien von Netzhautdystrophien eine
besondere Bedeutung zu. So können bereits charakteristische Veränderungen sichtbar
sein, obwohl funduskopisch noch keine offensichtlichen Erkrankungsmanifestationen
zu sehen sind und Patienten keine, unspezifische oder nur geringe Symptome wahrnehmen.
Ferner können auch bei Mutationsträgerinnen X-chromosomal vererbter Erkrankungen (z. B.
RPGR-assoziierte RP oder Choroideremie) charakteristische Veränderungen in der FAF-Bildgebung
vorliegen ([Abb. 2]), die eine recht verlässliche Diagnosestellung vor einer genetischen Testung ermöglichen
[43], [44], [45], [46], [47].
Abb. 2 Fundusfarbaufnahme (links), Fundusautofluoreszenz (Mitte) und optische Kohärenztomografie
(rechts) von Mutationsträgerinnen X-chromosomal vererbter Erkrankungen. In der oberen
Zeile ist eine Trägerin für eine RPGR-assoziierte Retinitis pigmentosa und in der unteren eine Mutationsträgerin für eine
Chorioideremie dargestellt.
Die Nahinfrarot-Fundusautofluoreszenz (NIR-AF) ist eine zur konventionellen FAF alternative
Bildgebungsmodalität, bei der langwelligeres Licht (787 nm) zur Anregung der Fluoreszenz
verwendet wird [48]. Auch wenn das NIR-AF-Signal weniger intensiv und diese Bildgebungsmodalität in
der klinischen Routine seltener verwendet wird, gibt es im Vergleich zur konventionellen
FAF zahlreiche Vorteile: So sind die Aufnahmen aufgrund einer geringeren Blendung
für Patienten angenehmer, die Bildgebung ist weniger durch Linsentrübungen beeinflusst,
die Interpretation der zentralen Netzhaut ist nicht durch Makulapigment erschwert,
wodurch auch geringe zentrale Veränderungen analysiert werden können, und aufgrund
der niedrigeren Energie bestehen keine Bedenken bezüglich retinaler Lichttoxizität.
Bei vielen Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen zeigen sich, bei guter Bildqualität,
ähnliche Veränderungen in diesen beiden Bildgebungsmodalitäten, auch wenn in
der genauen Analyse durchaus qualitative Unterschiede beobachtet werden können
([Abb. 3]) [36], [49], [50], [51], [52]. Ein weiterer Wert der NIR-AF kann in der Differenzialdiagnostik zu nicht-hereditären
Netzhautveränderungen liegen [26], [53], [54].
Abb. 3 Exemplarische Aufnahmen mittels Blaulicht-Fundusautofluoreszenz (links) und Nahinfrarot-Fundusautofluoreszenz
(rechts). Bei guter Bildqualität zeigen sich oftmals ähnliche Veränderungen in diesen
Bildgebungsmodalitäten, auch wenn in der genauen Analyse qualitative Unterschiede
beobachtet werden können. Von oben nach unten sind ein sehgesunder Proband sowie Patienten
mit einer Retinitis pigmentosa, ABCA4-assoziierter Retinopathie (Morbus Stargardt), Makuladystrophie sowie einer Chorioideremie
dargestellt.
Neben diesen etablierten Methoden der retinalen Bildgebung gibt es neue Entwicklungen
wie die quantitative Autofluoreszenz [55], [56], die indirekt ein Maß für den Lipofuszingehalt des RPEs liefert, die sog. adaptiven
Optiken, die eine Darstellung der Netzhaut auf Zellniveau ermöglichen [57], [58], oder auch die OCT-Angiografie, die eine nicht invasive Darstellung der Gefäße des
Augenhintergrundes erlaubt [59], [60], [61]. Der Stellenwert und die Anwendbarkeit dieser Methoden müssen sich allerdings noch
erweisen. Klar ist hingegen, dass die Angiografie bei erblichen Netzhauterkrankungen
kaum noch Relevanz hat und lediglich bei speziellen Fragestellungen Anwendung findet,
wie bei Verdacht auf eine choroidale Neovaskularisation oder auf retinale vaskuläre
Veränderungen mit
Exsudation.
Einteilung und Terminologie erblicher Netzhauterkrankungen
Einteilung und Terminologie erblicher Netzhauterkrankungen
Die Terminologie erblicher Netzhauterkrankungen ist nicht einheitlich. Folglich kann
ein Patient von unterschiedlichen Augenärzten scheinbar verschiedene Diagnosen erhalten
– ein entsprechender Hinweis kann einem eventuellen Vertrauensverlust vorbeugen.
Basierend auf der Anamnese erfolgt klinisch oftmals zunächst eine Einteilung anhand
des Krankheitsverlaufs. Erbliche Netzhauterkrankungen verlaufen vorwiegend progredient,
wie dies bei Zapfen-Stäbchen-Dystrophien oder bei der Retinitis pigmentosa der Fall
ist, jedoch sind auch (weitgehend) stationäre Befunde, wie bei der kongenitalen stationären
Nachtblindheit oder der Achromatopsie möglich.
Folglich kann eine Einteilung basierend auf den primär beteiligten retinalen Zelltypen
erfolgen. Historisch berief man sich vor allem auf die Ergebnisse der Ganzfeld-Elektroretinografie:
Klassisch kennzeichnet sich eine Makuladystrophie durch normale photopische und skotopische
Antworten bei einem reduzierten Muster-ERG, und eine Zapfendystrophie durch reduzierte
photopische Antworten. Bei der ZSD sind die photopischen Ableitungen stärker als die
skotopischen reduziert, was sich bei der Stäbchen-Zapfen-Dystrophie (Retinitis pigmentosa)
umgekehrt verhält. Diese elektrophysiologisch determinierte Terminologie wird in der
klinischen Routine jedoch auch ohne entsprechende Testung häufig verwendet, wobei
„intuitiv“, aber formal inkorrekt und gelegentlich auch nicht adäquat, von den morphologischen
Befunden auf den elektrophysiologischen Phänotyp rückgeschlossen wird.
Für zahlreiche erbliche Netzhauterkrankungen haben sich Eigennamen etabliert, bei
denen bspw. Erstbeschreiber Beobachtungen oder eine Konstellation von Symptomen und
Befunden zu einer Erkrankung zusammengefasst haben. Auch wenn dies bei Erkrankungen
mit klaren Phänotyp-Genotyp-Korrelationen, wie beim Morbus Best, der Choroideremie
oder der Bietti-Kristall-Dystrophie, passend sein kann, so ist dies bei Erkrankungen
mit einer großen genetischen und/oder phänotypischen Heterogenität oftmals nicht präzise.
Die Verwendung von Eigennamen kann sowohl morphologisch-funktionelle Ungenauigkeiten
mit sich bringen als auch molekulargenetisch unpräzise sein. Beispielsweise wird der
„Morbus Stargardt“ (befundabhängig) gelegentlich auch als Stargardt-Erkrankung Typ
1 (STGD1), Fundus flavimaculatus, Makuladystrophie, Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, Zapfendystrophie
oder ABCA4-assoziierte Netzhautdystrophie bezeichnet. Trotz dieses babylonischen Wirrwarrs,
wobei die einzelnen Bezeichnungen unterschiedliche Assoziationen hervorrufen können,
wird beim „Morbus Stargardt“ zumeist an die autosomal-rezessive, durch Mutationen
im ABCA4-Gen verursachte Netzhauterkrankung (STGD1) gedacht. Historisch wurden 3 weitere Erkrankungen
mit ähnlichem retinalen Phänotyp ebenfalls als Stargardt-Erkrankung (STGD2-4) benannt.
Im Verlauf stellte sich heraus, dass sowohl STGD2 als auch STGD3 durch Mutationen
im ELOVL4-Gen verursacht werden (und deshalb STGD2 nicht mehr verwendet wird) und STGD4
durch Mutationen im PROM1-Gen. Des Weiteren wurde die Nummerierung nicht fortgesetzt, um bspw. Patienten mit
ähnlichen retinalen Befunden zu bezeichnen, wie dies auch bei Patienten mit bestimmten
Mutationen im PRPH2-Gen der Fall ist. Nun führen autosomal-dominante Mutationen in ELOVL4, PROM1 und PRPH2 zwar zu einem retinalen Phänotyp, der dem von „echten“ Morbus-Stargardt-Patienten
sehr ähneln kann – jedoch handelt es sich klinisch, genetisch sowie pathophysiologisch
um unterschiedliche Erkrankungen [62]. Darüber hinaus bedingen autosomal-rezessive Mutationen in ELOVL4 und PROM1 auch andere Pathologien: Bei ELOVL4-Mutationen beinhaltet dies die spinozerebelläre Ataxie 34 sowie Ichthyose, spastische
Tetraplegie und mentale Retardierung [63], [64], autosomal-rezessive PROM1-Mutationen können einen RP-Phänotyp bedingen [65], [66], [67], [68], [69]. Dahingegen können bestimmte Mutationen im PRPH2-Gen auch zu einer „Central Areolar Choroidal Dystrophy“ (CACD) oder RP führen [70], [71], [72].
Die Nosologie erblicher Netzhauterkrankungen wird also dadurch erschwert, dass Mutationen
in ein und demselben Gen 2 oder mehrere Formen von Netzhauterkrankungen verursachen
können (phänotypische Heterogenität) [73]. Ebenfalls können Mutationen in unterschiedlichen Genen einen ähnlichen Phänotyp
verursachen (genotypische Heterogenität), und es gibt möglicherweise weitere (bisher
weitgehend unbekannte) genetische und/oder Umweltfaktoren, die einen Einfluss auf
die Erkrankungsmanifestation haben können [19], [74], [75], [76], [77].
Die Verwendung von Eigennamen kann ferner eine Abtrennung zwischen syndromalen und
nicht syndromalen Erkrankungen erschweren. Beispielsweise sind USH2A-Mutationen mit Formen des Usher-Syndroms assoziiert, bei dem Patienten klassischerweise
eine RP sowie eine milde bis schwere Hörstörung aufweisen [78]. Mit zunehmender molekulargenetischer Diagnostik wurde jedoch klar, dass viele RP-Patienten
mit USH2A-Mutationen keine Hörstörungen zeigen und bei diesen Patienten somit keine syndromale
Erkrankung vorliegt [2], [79], [80]. Wenn diese Patienten, basierend auf der Molekulargenetik, als Patienten mit Usher-Syndrom
bezeichnet werden, impliziert dies eine Schwerhörigkeit, die allerdings nicht vorliegt.
Ebenfalls können Mutationen in Bardet-Biedl-Syndrom-assoziierten Genen auch in Patienten
mit einer nicht-syndromalen RP [81], [82], oder Mutationen in CEP290, die klassisch mit einem Senior-Løken-, Joubert- oder Meckel-Gruber-Syndrom assoziiert
sind, in nicht-syndromalen Patienten mit einer Leberʼschen kongenitalen Amaurose (LCA)
oder RP gefunden werden [2], [83], [84], [85], [86]. Differenzialdiagnostisch sind ebenfalls monogene Systemerkrankungen mit einer Netzhautbeteiligung
zu bedenken. So kann der Übergang von „klasssischen“ Netzhautdystrophien zu Systemerkrankungen
mit einem retinalen Phänotyp fließend sein, wie dies bei PXE oder mitochondrialen
Erkrankungen der Fall ist [10], [87], [88], [89], [90], [91], [92].
Solange keine Konsensusterminologie vorliegt, können erbliche Netzhauterkrankungen
pragmatisch nach dem Grundsatz „so präzise wie möglich, so vage wie nötig“ bezeichnet
werden. Dies kann im Verlauf und mit zunehmender Diagnosesicherheit modifiziert werden:
So kann zunächst unspezifisch eine „Netzhautdystrophie“ diagnostiziert werden, die
nach elektrophysiologischer und molekulargenetischer Abklärung spezifiziert wird (z. B.
„ABCA4-assoziierte Makuladystrophie“). Wenn die Möglichkeit einer stationären (z. B. CSNB)
oder imitierenden Erkrankung besteht, sollte dies früh differenzialdiagnostisch erwähnt
werden. Häufig lohnt es sich, Patienten eine evtl. gewollte Ungenauigkeit der Diagnose
zu erläutern, um Verunsicherung vorzubeugen. Die Diagnosesicherheit hängt natürlich
auch von der Erfahrung des Diagnostikers ab; so kann bei typischen Befundkonstellationen
und entsprechender Expertise häufig schon bei Erstkontakt ein klares Bild entstehen.
Grundsätzlich ist eine zuvor
gestellte Diagnose immer wieder neu zu hinterfragen und sollte im Kontext von
ergänzenden Angaben oder aktuellen Befunde bestätigt oder verworfen werden.
Es gibt auch Möglichkeiten, retinale Veränderungen bei monogenen Systemerkrankungen
sprachlich in korrekten Bezug zu setzen. Beispiele für eine solche Terminologie wären
„PXE-assoziierte Retinopathie“ oder „mitochondriale Retinopathie“. Gelegentlich kann
auch hier die zusätzliche Nennung des mutationstragenden Gens oder des Subtyps einer
Erkrankung sinnvoll sein, insbesondere wenn (gen-)spezifische Therapien in Entwicklung
oder verfügbar sind.
Abgrenzungen von imitierenden Netzhauterkrankungen
Abgrenzungen von imitierenden Netzhauterkrankungen
Es gibt eine Vielzahl an Erkrankungen, die eine Netzhautdystrophie imitieren können
(„mimicking diseases“). Diese umfassen postentzündliche Netzhautveränderungen (z. B.
Röteln-Retinopathie, post-uveitische Zustände), Medikamentennebenwirkungen (z. B.
Hydroxychloroquin-, Deferoxamin- oder Pentosan-Retinopathie) oder auch das Spektrum
der Autoimmunretinopathien. Vitelliforme Makulaläsionen können auch außerhalb von
Netzhautdystrophien beobachtet werden, wie gelegentlich im Rahmen einer altersabhängigen
Makuladegeneration, bei chronischer vitreomakulärer Traktion oder im Rahmen einer
Chorioretinopathia centralis serosa (um nur einige zu nennen; [Abb. 4]). Das Erkennen einer imitierenden Netzhauterkrankung ist von hoher Relevanz für
betroffene Patienten. So zeigt eine Röteln-Retinopathie keine wesentliche Progression,
bei Medikamentennebenwirkungen sollte – sofern möglich – das ursächliche Therapeutikum
abgesetzt werden, und bei Autoimmunprozessen
kann eine Tumorsuche erfolgen oder ggf. eine Immunsuppression erwogen werden.
Vitelliforme Läsionen benötigen keine weitere Abklärung, wenn eine offensichtliche
Ursache vorliegt.
Abb. 4 Netzhauterkrankungen, die erbliche Netzhauterkrankungen imitieren können („mimicking
diseases“). Von oben nach unten sind exemplarisch Patienten mit einer Deferoxamin-,
Röteln-, Hydroxychloroquin-Retinopathie, einer vitelliformen Makulaläsion sowie einer
Autoimmunretinopathie mittels Fundusfotografie (links), Blaulicht-Fundusautofluoreszenz
(Mitte) sowie optischer Kohärenztomografie (rechts) dargestellt.
Die korrekte Diagnose kann auch relevant für die Familienberatung sein, da üblicherweise
kein hohes Wiederholungsrisiko wie bei genetischen Erkrankungen besteht. Wesentliche
Bedeutung für die Diagnose einer imitierenden Netzhauterkrankung ist eine detaillierte
Anamnese und das Erkennen charakteristischer morphologischer Veränderungen. Insbesondere
postentzündliche und autoimmunbedingte Retinopathien zeigen häufiger eine geringere
Symmetrie im Vergleich zu genetisch bedingten Erkrankungen, wobei gerade in Frühstadien
von Netzhautdystrophien auch oftmals eine Asymmetrie beobachtet wird. Ein negatives
Ergebnis einer molekulargenetischen Testung kann die Diagnose einer imitierenden Netzhauterkrankung
unterstützen, aber nicht bestätigen, da auch bei monogenen Erkrankungen die ursächliche
genetische Veränderung nicht immer gefunden wird [1], [2], [93], [94], [95], [96], [97].
Genetische Diagnostik
Ein zentraler Pfeiler in der Diagnostik von hereditären Netzhautdystrophien ist die
molekulargenetische Untersuchung [1], [2], [96], [97], [98], [99], [100], [101], [102], [103], [104], [105]. Die Identifizierung der genetischen Erkrankungsursache kann nicht nur Aussagen
über den potenziellen Krankheitsverlauf oder die Vererblichkeit liefern, sondern ist
auch vor dem Hintergrund (potenziell zukünftiger) krankheitsspezifischer gentherapeutischer
Optionen, diätetischer Maßnahmen (z. B. phytansäurearme Diät bei Morbus Refsum) und
Pharmakotherapien (z. B. deuteriertes Vitamin A [106] oder Inhibitoren des Sehzyklus
bei ABCA4-Mutationen/Morbus Stargardt) essenziell. So ist nach der Zulassung der ersten Gentherapie
(voretigene neparvovec) für Patienten mit Leberʼscher kongenitaler Amaurose durch
Mutationen im RPE65-Gen die Etablierung weiterer Gentherapien in den klinischen Alltag wahrscheinlich
[107]. Beispielsweise befinden sich aktuell gentherapeutische Ansätze zur Choroideremie
oder zur X-chromosomalen RP (RPGR-Mutationen) in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Entwicklung [108], [109], [110], [111]. Bei fortgeschrittenen erblichen Netzhauterkrankungen kann eine molekulargenetische
Diagnostik hilfreich sein, da die klinischen Befunde in diesen Krankheitsstadien trotz
umfassender Anamnese, Bildgebung sowie funktionellen Untersuchungen mit mehreren Differenzialdiagnosen
vereinbar sein können.
Des Weiteren kann die Molekulargenetik zur Korrektur der klinischen Verdachtsdiagnose
führen, unerwartete Diagnosen nahelegen und weitere Abklärungen (u. a. Hörfunktions-,
Nierenfunktions-, Fettstoffwechselstörungen, Kardiomyopathie, Diabetes) leiten, falls
die Netzhauterkrankung die Diagnose einer syndromalen Erkrankung nahelegt. Diese Patienten
weisen i. d. R. neben der Netzhautdystrophie zusätzliche, oftmals diskrete extraokuläre
Symptome auf. Generell ist bei der Interpretation der klinisch-ophthalmologischen
und molekulargenetischen Befunde eine multidisziplinäre Zusammenarbeit von Humangenetikern,
Augenärzten und eventuell weiteren Disziplinen wichtig. Dies schließt eine phänotypische
Reevaluation nach Identifizierung der (potenziell) ursächlichen molekulargenetischen
Veränderung ein. Nach der interdisziplinären Interpretation der humangenetischen Befunde
sollte allen Patienten und deren Familien eine umfassende humangenetische Beratung
angeboten werden. Wird von
Familienmitgliedern ohne Symptome oder Erkrankungszeichen eine sog. prädiktive
Diagnostik erwogen, muss im Vorfeld eine Beratung durch Humangenetiker oder hierfür
speziell qualifizierte Fachärzte erfolgen.
Auch wenn die Detektion der molekulargenetischen Ursache von erblichen Netzhauterkrankungen
zugänglicher geworden ist, kann die klinische Diagnose nicht bei allen Patienten molekulargenetisch
gestützt werden. Ein negativer Befund, d. h., dass bei einer umfassenden molekulargenetischen
Diagnostik keine den klinischen Befund „erklärende(n)“ Mutation(en) gefunden wurde,
schließt eine erbliche Netzhautdystrophie nicht aus – in diesen Fällen bleibt die
klinische Diagnose weiterhin bestehen. Auch der Nachweis von Mutationen kann nicht
ausschließen, dass Veränderungen in anderen Genen den Phänotyp verursachen.
Zusammenfassung
Erbliche Netzhauterkrankungen können zu starken Beeinträchtigungen führen – im alltäglichen
Leben, physisch wie auch emotional. Sowohl für Patienten als auch für ihre Familien
ist eine präzise und umfassende Diagnose entscheidend, um sich auf lebenslange Auswirkungen
der Erkrankung sowie auf einen potenziell fortschreitenden Sehkraftverlust vorzubereiten.
Hierbei ist oftmals ein multidisziplinärer Teamansatz essenziell, der Augenärzte,
Humangenetiker sowie eventuell weitere medizinische Fachbereiche einbezieht.