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DOI: 10.1055/a-1719-5233
Leserbrief zu: Horre T. Ziel: Motorradfahren trotz axialer Spondyloarthritis – ein Fallbeispiel. MSK 2021; 25: 175–181

In dem Fallbeispiel beschreibt Thomas Horre seine Behandlung eines 48-jährigen Patienten mit ankylosierender Spondylitis (AS), die er bezüglich Schmerzreduktion und Motivation erfolgreich durchführt [1]. Explizit erwähnt der Autor die „stark eingeschränkte Beweglichkeit“ des Patienten, die er mit passiven Mobilisationen angeht, welche „nur in Verbindung mit einer kontinuierlich durchgeführten Automobilisation“ effektiv sein könnten. Nach dem 5. Termin ist er „optimistisch, dass wenigstens eine Progression aufgehalten bzw. verlangsamt werden kann.“ Die im Fallbericht gezeigten Mobilisationen sind p.-a.-Schübe auf die Brustwirbelsäule (BWS) im Sitz (daheim auch von der Partnerin durchzuführen) und ein a.-p.-Schub auf das Sternum in Rückenlage für die obere BWS sowie dynamisch rotatorische Bewegungen im Liegen und Sitzen. Letztere soll der Patient auch zu Hause durchführen. Diese Maßnahmen mögen den Schmerz lindern, sind aber für die Bewegungseinschränkung nicht ausreichend.
Physiotherapie trägt bei Patient*innen mit AS primär zur Schmerzlinderung bei (neben den Medikamenten) und erhält bzw. fördert dadurch die Bewegungsfähigkeit. Ihr zweites wesentliches Ziel sollte es sein, die durch die Erkrankung bedingte Versteifung in möglichst aufrechter Haltung geschehen zu lassen.
Ein Erreichen des ersten Ziels zeigen verschiedene Studien nach 2–3 Monaten Behandlungsdauer [2], [3], [4], [5] wie auch das Fallbeispiel von T. Horre [1]. Ein solch relativ rascher Gewinn an Beweglichkeit lässt sich mit der Schmerzlinderung und mit der physikalischen Reaktion auf die dehnende Mobilisation (Creep und Entspannung) erklären. Um das zweite Ziel zu erreichen, ist nicht nur die Bewegungseinschränkung durch die schmerzhaften, entzündlichen Prozesse mit wiederholten Bewegungen anzugehen. Zusätzlich muss die durch die Immobilisation bzw. den Nichtgebrauch des vollen Bewegungsausmaßes entstandene Bewegungseinschränkung (Kontraktur) behandelt werden, auf die auch der Vertiefungsartikel der Ausgabe der MSK [6] hinweist. Dafür sind die beschriebenen Mobilisationen leider unwirksam. Seit langem ist bekannt, dass eine wenige Minuten dauernde p.-a. Mobilisation der Lendenwirbelsäule zwar den Schmerz reduziert, aber kaum bis nicht die Steifigkeit verändert [7], [8], [9]. Dies gilt auch für die Mobilisation der Brustwirbelsäule, sowohl mit Techniken nach Maitland [10] als auch mit Techniken nach Kaltenborn-Evjenth [11]. Ein Cochrane-Review zur Dehnung als Behandlung und Prävention von Kontrakturen zeigte anhand von 49 RCTs die klinisch nicht relevante Wirksamkeit der manuellen Dehnung [12], [13].
Statt kurzzeitiger Dehnung muss verkürztes periartikuläres Gewebe stimuliert werden, länger zu wachsen [14], [15]. Dabei ist der Gewinn an Bewegungsausmaß direkt proportional zu der Zeit, die das Gelenk am Bewegungsende gehalten wird [16]. In den Studien wurde die täglich stundenlange Behandlungsdauer mit Schienen erreicht (Review in [17], [18], [19]). In der physiotherapeutischen Literatur zu Gelenkmobilisation wie auch zur AS hat dieses wirksame Prinzip bisher kaum Verbreitung gefunden, obwohl es schon vor vielen Jahren publiziert wurde. Auch auf der Internetseite des Selbsthilfevereins Morbus Bechterew fehlen entsprechende Hinweise [20]. Daher gibt es zwar noch keine Studien, die eine Anwendung dieses Behandlungsprinzips bei der AS überprüft haben, jedoch genügend Studien für seine Wirksamkeit bei Gelenkkontrakturen (Review in [17], [18], [19])!
Therapeut*innen sollten in ihrem Clinical Reasoning die beiden Hauptursachen der abnehmenden Beweglichkeit bei AS separat betrachten: den Entzündungsschmerz und die Immobilisation bzw. den Nichtgebrauch, denn sie erfordern unterschiedliche Behandlungsstrategien. Die Kontraktur aufgrund der Immobilisation bzw. des Nichtgebrauchs benötigt ein tägliches, intensives und langdauerndes Halten am Bewegungsende, um ein Längenwachstum des verkürzten Gewebes zu stimulieren. Dafür spricht die wissenschaftliche Evidenz wie auch die Erfahrung der nordischen Manuellen Therapie. In letzterer haben beispielsweise Patient*innen mit AS den allgemein bekannten großen Mobilisationskeil entwickelt, um ihre BWS selbst mobilisieren zu können – eine wesentlich intensivere Technik als die von T. Horre beschriebenen. Für den langfristigen Erhalt der Lebensqualität des Patienten mit AS aus dem Fallbeispiel ist neben der Behandlung des Entzündungsschmerzes eine solche wirksame Therapie der Kontraktur wesentlich.
Dies gilt auch für die Thoraxbeweglichkeit, deren Bedeutung T. Horre für seinen Patienten bewusst ist, da er in seiner Schlussbemerkung schreibt: „Durch die oft deutliche thorakale Kyphose können auch pulmonale Dysfunktionen auftreten.“ Der Patient beklagt zudem eingangs, dass „kleinere, körperliche Tätigkeiten … sehr schnell zu Kurzatmigkeit“ führen. Doch die im Einführungsartikel der Ausgabe beschriebene Umfangmessung der Thoraxexkursion [21], die auch in den o. g. Studien benutzt wurde [2], [3], [4], [5], hat der Autor ebenso wenig angewandt wie gezielte Maßnahmen zu deren Erhalt bzw. Verbesserung. Leider haben wir Leser und Leserinnen nur von den ersten 5 Behandlungen erfahren. Vielleicht käme ja noch eine Ergänzung im oben genannten Sinne während der Folgetermine. Doch diese hätte T. Horre dem Patienten dann gleich zu Beginn oder doch zumindest den Leserinnen und Lesern am Ende des Artikels mitteilen sollen. Hilfreich für den Patienten wäre außerdem noch der Hinweis auf die Selbsthilfegruppen gewesen.
Zusammenfassend können die Bewegungseinschränkungen aufgrund von Schmerz und entzündlichen Prozessen bei Patient*innen mit AS auf vielfältige Weise angegangen werden, wie beispielsweise auch in der von T. Horre beschriebenen. Für die Bewegungseinschränkung als Immobilisations- bzw. Nichtgebrauchsfolge (Kontraktur) muss zusätzlich ein tägliches, intensives Halten der Gelenke am Bewegungsende ohne Schmerz erfolgen, sowohl für die Wirbelsäule als auch für den Thorax. Das klingt mühsam, ist jedoch recht einfach umzusetzen.
Jochen Schomacher, PhD
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
14. Februar 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Horre T. Ziel: Motorradfahren trotz axialer Spondylarthritis – ein Fallbeispiel. MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2021; 25: 175-181
- 2 Ince G, Sarpel T, Durgun B. et al. Effects of a multimodal exercise program for people with ankylosing spondylitis. Phys Ther 2006; 86: 924-935
- 3 Mengshoel AM, Robinson HS. Clinical significance of specific spinal mobilization for patients with ankylosing spondylitis evaluated by quantitative assessments and patient interviews. Disabil Rehabil 2008; 30: 355-364
- 4 Widberg K, Karimi H, Hafström I. Self- and manual mobilization improves spine mobility in men with ankylosing spondylitis--a randomized study. Clin Rehabil 2009; 23: 599-608
- 5 Gyurcsik ZN, András A, Bodnár N. et al. Improvement in pain intensity, spine stiffness, and mobility during a controlled individualized physiotherapy program in ankylosing spondylitis. Rheumatol Int 2012; 32: 3931-3936
- 6 Schmitt V, Max R, Dornacher I. Axiale Spondylarthritis – ein Fallbeispiel aus ärztlicher Sicht. MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2021; 25: 169-175
- 7 Petty NJ. The effect of posteroanterior mobilisation on sagittal mobility of the lumbar spine. Man Ther 1995; 1: 25-29
- 8 Goodsell M, Lee M, Latimer J. Short-term effects of lumbar posteroanterior mobilization in individuals with low-back pain. J Manipulative Physiol Ther 2000; 23: 332-342
- 9 Caling B, Lee M. Effect of direction of applied mobilization force on the posteroanterior response in the lumbar spine. J Manipulative Physiol Ther 2001; 24: 71-78
- 10 Kessler TJ, Brunner F, Künzer S. et al. Auswirkungen einer manuellen Mobilisation nach Maitland auf die Brustwirbelsäule. Rehabilitation 2005; 44: 361-366
- 11 Schomacher J. Mobilisation der Brustwirbelsäule, Vergleichende Studie zur Wirkung der translatorischen und rotatorischen Mobilisation der BWS im OMT Kaltenborn-Evjenth-Konzept® . Manuelle Therapie 1997; 1: 3-9
- 12 Harvey LA, Katalinic OM, Herbert RD. et al. Stretch for the treatment and prevention of contractures. Cochrane Database Syst Rev 2017; 1: CD007455
- 13 Harvey LA, Katalinic OM, Herbert RD. et al. Stretch for the treatment and prevention of contracture: an abridged republication of a Cochrane Systematic Review. J Physiother 2017; 63: 67-75
- 14 Brand PW. Mechanical factors in joint stiffness and tissue growth. J Hand Ther 1995; 8: 91-96
- 15 Flowers KR. A proposed decision hierarchy for splinting the stiff joint, with an emphasis on force application parameter. J Hand Ther 2002; 15: 158-162
- 16 Flowers KR, LaStayo P. Effect of total end range of time on improving passive range of motion. J Hand Ther 1994; 7: 150-157
- 17 Schomacher J. Gelenkkontrakturen, Teil 1: Ursachen und mangelnde Wirksamkeit der manuellen Mobilisation. pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten 2020; 72: 37-41
- 18 Schomacher J. Gelenkkontrakturen, Teil 2: Funktionsweise und Möglichkeiten der Behandlung. pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten 2020; 72: 30-34
- 19 Schomacher J. Lagerungstherapie bei bindegewebigen Gelenkkontrakturen am Beispiel der Frozen Shoulder. manuelletherapie 2020; 24: 79-86
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20
DVMB.
Das Netzwerk zur Selbsthilfe. Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew e. V. Bundesverband. Im Internet: https://www.bechterew.de/startseite/ (Stand: 12.10.2021)
- 21 Schmitt V, Max R, Dornacher I. Axiale Spondylarthritis – der „rheumatische Rückenschmerz“. MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2021; 25: 161-169