CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2023; 85(07): 667-672
DOI: 10.1055/a-1926-6942
Originalarbeit

Palliativversorgung und hospizliche Begleitung in der stationären Pflege zwischen theoretischem Konzept und Praxisalltag

Palliative and Hospice Care in Nursing Homes: Discrepancies Between Theoretical Framework and Everyday Practice
Anna Bußmann
1   Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH, Essen, Germany
,
Natalie Pomorin
1   Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH, Essen, Germany
2   Gesundheit & Soziales, FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige Gesellschaft mbH, Düsseldorf, Germany
› Author Affiliations
Förderung Das Modellprojekt „Hospizliche Begleitung und palliative Versorgung in der stationären Pflege“ wird von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt der Veröffentlichung liegt bei den Autor*innen.
 

Zusammenfassung

Ziel Trotz gesetzlicher Rahmenbedingungen befindet sich die palliative Versorgung und hospizliche Begleitung in Pflegeeinrichtungen auf unterschiedlichem Niveau. Zwar verfügen die meisten Einrichtungen inzwischen über Palliative Care-Konzepte, die Integration in den Praxisalltag erfolgt jedoch kaum. Ziel ist es, Versorgungsunterschiede im Praxisalltag darzustellen und zu ermitteln, wodurch Abweichungen zu theoretisch angelegten Konzepten in der Praxis bedingt sind.

Methodik Im Rahmen des Modellprojekts „Hospizliche Begleitung und palliative Versorgung in der stationären Pflege“ werden Struktur- und Prozessanalysen in zwei stationären Piloteinrichtungen im städtischen und ländlichen Raum in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Zusätzlich werden drei Einrichtungen eines erweiterten Trägerkreises sowie ein fachkundiger Expertenbeirat mit eingebunden, um (träger-) spezifische Merkmale geringzuhalten und Erkenntnisse zu erweitern.

Ergebnisse Obwohl der Anteil palliativer Bewohner*innen ebenso wie ihr Durchschnittsalter vergleichbar ist, bestehen zwischen den Einrichtungen deutliche Unterschiede hinsichtlich der palliativen Verweildauer (213,2 Tage vs. 88,6 Tage) sowie der Sterberate palliativer Bewohner*innen an der Gesamtzahl verstorbener Bewohner*innen (26% vs. 63,6%). Die Prozessabläufe weichen trotz ähnlicher Konzepte und Verfahrensanweisungen enorm voneinander ab. Dies hat zur Folge, dass die Palliativversorgung in Einrichtung X zumindest formell zu einem früheren Zeitpunkt einsetzt, zu dem bereits Vorbereitungen in Bezug auf die Lebensendphase stattfinden. Die Identifikation palliativer Versorgungssituationen basiert in beiden Einrichtungen, ebenso wie Kommunikationsstrukturen, organisatorische Abläufe und der Einbezug von Kooperationspartnern, ohne feste Strukturen auf der subjektiven Handhabung von Mitarbeitenden.

Schlussfolgerung Es stellt sich als komplexe und herausfordernde Aufgabe für die Pflegeeinrichtungen heraus, unter den Rahmenbedingungen ein einheitliches und dennoch der Individualität des Menschen angepasstes Konzept in der Praxis umzusetzen. Neben der Integration von praxistauglichen Leitfäden und Assessments, definierten Verantwortungsbereichen sowie Organisations- und Koordinationshilfen bedarf es ferner der Entwicklung geeigneter Finanzierungskonzepte auf gesundheitspolitischer Ebene, um theoretisch angelegte Palliative Care-Bedingungen in die Praxis überführen zu können.


#

Abstract

Objectives Despite the existence of a legislative framework, palliative care and hospice support in nursing homes vary widely. Although most nursing homes have palliative care concepts by now, they are rarely integrated into everyday practice. This study aims to examine differences in palliative and hospice care and to determine the causes of discrepancies between theoretical framework and everyday practice.

Methods Based on a pilot project, in depth structural and process analyses of two nursing homes in urban and rural areas in North Rhine-Westphalia were conducted. In addition, three nursing homes of an extended group of providers as well as an expert advisory board was included to minimize (provider-) specific characteristics and to expand findings.

Results Although the proportion of palliative residents and their average age was comparable, analyses revealed significant differences between the nursing homes regarding the palliative length of stay (213.2 days vs. 88.6 days) as well as the mortality rate of palliative residents among all death cases (26% vs. 63.6%). Furthermore, internal processes within the nursing homes differed vastly despite similar concepts and procedural instructions. As a result, palliative care formally started at an earlier stage in nursing home X. Besides that, the identification of palliative care situations, as well as communication, organizational processes and the inclusion of cooperation partners, took place without fixed structures and was based on the subjective handling of staff members in both facilities.

Conclusions It turns out to be challenging for nursing homes to implement theoretical framework into everyday practice. To facilitate this process, aside from practicable assessments, defined responsibilities and organizational support, financing concepts at health policy level need to be established.


#

Einleitung

Im Zuge der demografischen Entwicklung gewinnt die Versorgung von schwerstkranken und sterbenden Menschen in Pflegeeinrichtungen zunehmend an Bedeutung. Laut einer bevölkerungsbasierten Querschnittserhebung aus dem Jahr 2021 stellen Pflegeeinrichtungen den zweithäufigsten Sterbeort in Deutschland dar [1]. Bereits jede*r Fünfte verstirbt in einer Pflegeeinrichtung, der Anteil ist dabei im zeitlichen Verlauf steigend [1]. Pflegeheimbewohner*innen sind somit eine wichtige Zielgruppe für eine bedarfsgerechte palliative Versorgung und hospizliche Begleitung am Lebensende [2].

In den letzten Jahren haben sich die Strukturen für die Palliativversorgung in Deutschland aufgrund gesetzlicher Vorgaben weiterentwickelt. Mit dem Hospiz- und Palliativgesetz aus dem Jahr 2015 gilt die allgemeine Palliativversorgung als Bestandteil der gesetzlichen Regelversorgung im stationären Pflegesektor. In § 28 SGB XI Abs. 4 heißt es nun explizit „Pflege schließt Sterbebegleitung mit ein.“ Während die Palliativversorgung und Sterbebegleitung fortan als selbstverständlicher Teil der Pflegeleistungen gilt, wird der zusätzliche Versorgungs- und Betreuungsaufwand in der letzten Lebensphase finanziell nicht abgebildet. Durch die Einführung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) nach § 132 g SGB V besteht zwar ein Anspruch aus der gesetzlichen Krankenversicherung für Bewohner*innen mit besonders aufwendiger Palliativversorgung, bislang fehlt jedoch die Refinanzierung der allgemeinen Palliativversorgung in der stationären Pflege [3]. Die Versorgung von schwerstkranken und sterbenden Menschen ist zwar immer schon eine zentrale Aufgabe stationärer Pflegeeinrichtungen gewesen, unter den veränderten Rahmenbedingungen liegt der Schwerpunkt der fachlich-politischen Diskussion nun aber bei den Bedingungen eines würdigen Sterbens [3].

Ein Ansatz, der besonders die Lebensqualität und die individuelle Begleitung von sterbenden Menschen in den Fokus stellt, ist der Palliative Care-Ansatz [3]. Mittlerweile hat Palliative Care in Deutschland zwar in die meisten Konzepte von Pflegeeinrichtungen Einzug erhalten, die konkrete Integration in den Arbeitsalltag gelingt jedoch kaum. Studien zufolge befindet sich die hospizlich-palliative Versorgung in den Einrichtungen auf unterschiedlichem Niveau, wodurch die Verlässlichkeit adäquater Versorgung von Bewohner*innen mit palliativ-hospizlichem Bedarf anzuzweifeln ist [3].

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich Versorgungsunterschiede in den Pflegeeinrichtungen darstellen und wodurch Abweichungen zu theoretisch angelegten Konzepten in der Praxis bedingt sind.


#

Methodik

Im Rahmen des dreijährigen Modellprojekts „Hospizliche Begleitung und palliative Versorgung in der stationären Pflege – HoBepViP“ wird die Situation im Praxisalltag stationärer Pflegeeinrichtungen untersucht, um Problemfelder im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis zu identifizieren.

Auf Grundlage einer Struktur- und Prozessanalyse werden die strukturellen Gegebenheiten sowie die Handhabungsweise der hospizlich-palliativen Versorgung im Praxisalltag zweier stationärer Piloteinrichtungen eines Einrichtungsträgers im städtischen und ländlichen Raum in Nordrhein-Westfalen untersucht. Um Erkenntnisse zu erweitern und (träger-) spezifische Merkmale geringzuhalten werden zusätzlich drei Einrichtungen eines erweiterten Trägerkreises sowie ein fachkundiger Expertenbeirat mit eingebunden.

Die qualitative und quantitative Datenerhebung erfolgt mithilfe eines Fragebogens sowie einer Checkliste. Die Inhalte beziehen sich dabei auf die Struktur von Personal und Bewohner*innen, die Identifizierung von Palliativsituationen, Vorgaben und Angebote im Umgang mit Palliativbewohner*innen, Kooperationsbeziehungen, Kommunikation und Qualitätsmanagement. Die Strukturdaten beruhen auf einrichtungsinternen Statistiken und berücksichtigen die Jahre 2010 bis 2019. Für die Prozessanalyse wird der Praxisalltag der Palliativversorgung in den Piloteinrichtungen wissenschaftlich begleitet. Diese Erhebungsform zielt darauf ab, die tatsächlich stattfindenden Abläufe und menschlichen Verhaltensweisen zu ermitteln [4]. Die Beobachtung erfolgt offen, ohne Involvierung in das Geschehen.

Die ermittelten Struktur- und Prozessdaten werden anschließend ausgewertet und mithilfe von Prozessmodellen dargestellt. Diese ermöglichen eine abstrahierte Abbildung der chronologisch-sachlogischen Abfolge von Funktionen und Tätigkeiten und vereinfachen die Identifizierung von Problemfeldern und Optimierungspotenzialen.


#

Ergebnisse

Beide Piloteinrichtungen (X und Y) (Eckdaten vgl. [Tab. 1]) verfügen über ein Palliative Care-Konzept sowie Verfahrensanweisungen zur Sterbebegleitung und beschäftigen qualifizierte Palliative Care-Pflegefachkräfte. Letztere machen in der städtischen Einrichtung X einen Anteil von 9,7% und in der ländlichen Einrichtung Y einen Anteil von 15,8% bemessen an allen Pflegefachkräften aus. In Einrichtung Y wird außerdem sichergestellt, dass jeder Wohnbereich über mindestens eine Palliative Care-Pflegefachkraft verfügt. Die Gesundheitliche Versorgungsplanung am Lebensende (GVP) wird Bewohner*innen der Einrichtung X bereits regelmäßig angeboten. Die Einrichtung Y befindet sich derzeit in der GVP-Implementierungsphase. Beide Einrichtungen verfügen über einen palliativen Qualitätszirkel, dessen Treffen in Einrichtung X monatlich und in Einrichtung Y quartalsweise vorgesehen sind. Eine Zusammenarbeit mit ambulanten Hospizdiensten besteht in beiden Einrichtungen. Einrichtung Y verfügt zudem über einen Kooperationsvertrag mit einem palliativmedizinischen Konsiliardienst (PKD). Hierdurch wird in Einrichtung Y gelegentlich die SAPV hinzugezogen, in Einrichtung X erfolgt der Einbezug von SAPV kaum. Seelsorgeangebote sind in beiden Einrichtungen rein konfessioneller Art.

Tab. 1 Strukturdaten der Projekteinrichtungen X und Y im Vergleich.

Projekteinrichtung X

Projekteinrichtung Y

Palliativversorgung

Palliative Care Konzept

ja

ja

Verfahrensanweisungen zur Sterbebegleitung

ja

ja

Anteil Palliative Care-Pflegefachkräftea

9,7%

15,8%

Min. eine Palliative Care-Pflegefachkraft je Wohnbereich

nein

ja

Gesundheitliche Versorgungsplanung am Lebensende

ja

Implementierungsphase

Palliativ-Qualitätszirkel

ja

ja

Kooperation PKD

nein

ja

Kooperation ambulanter Hospizdienst

ja

ja

Einbezug von SAPV

kaum

gelegentlich

Bewohner*innen gesamt

Anzahl Bewohner*innen pro Jahr

133,3

106,1

Durchschnittsalter

87,1 Jahre

85,8 Jahre

Verweildauer

255,7 Tage

255,0 Tage

Sterberate pro Jahr

30,5%

28,9%

Bewohner*innen palliativ

Anteil Palliativbewohner*innenb

18%

18%

Durchschnittsalter

87,0 Jahre

86,6 Jahre

Verweildauer

213,2 Tage

88,6 Tage

Sterberate pro Jahr am Anteil aller Sterbefällec

26%

63,6%

aBemessen am Anteil aller Pflegefachkräfte; bBemessen an der Anzahl aller Bewohner*innen; cBezogen auf die jeweilige Einrichtung

Die Struktur der Bewohner*innen weicht in beiden Häusern insgesamt nur wenig voneinander ab (vgl. [Tab. 1]). Das durchschnittliche Alter aller Bewohner*innen ist mit rund 87 Jahren in Einrichtung X und knapp 86 Jahren in Einrichtung Y ähnlich, ebenso wie die durchschnittliche Verweildauer mit 255 und 256 Tagen. Auch der Anteil palliativer Bewohner*innen sowie ihr Durchschnittsalter stimmt in beiden Einrichtungen mit 18% sowie rund 87 Jahren überein. Da Einrichtung X über mehr Wohnplätze verfügt, werden hier pro Jahr mit durchschnittlich 133,3 Bewohner*innen mehr Menschen versorgt als in Einrichtung Y mit rund 106,1 Bewohner*innen.

Obwohl die durchschnittliche Verweildauer aller Bewohner*innen in beiden Einrichtungen ähnlich ist, unterscheidet sie sich bei palliativen Bewohner*innen deutlich (vgl. [Tab. 1]). In Projekteinrichtung X liegt die dokumentierte Verweildauer in der Palliativphase bei durchschnittlich 213,2 Tagen, während sie in Projekteinrichtung Y 88,6 Tage beträgt. Auch der Anteil verstorbener Bewohner*innen mit Palliativstatus weicht in den beiden Häusern deutlich voneinander ab und liegt in Einrichtung X bei 26% und in Einrichtung Y bei 63,6% bemessen am Anteil aller Sterbefälle (vgl. [Tab. 1]).

Obgleich sich das Palliative Care-Konzept und die Verfahrensanweisungen zur Sterbebegleitung beider Häuser inhaltlich stark ähneln, gibt es in der Praxis deutliche Unterschiede in den Prozessfolgen. In Einrichtung X (vgl. [Abb. 1]) wird die Palliativphase nach Einschätzung der versorgenden Pflegekraft identifiziert. Je nach Grundausbildung und Erfahrungswerten können Einschätzung und Zeitpunkt daher variieren. Nach Identifizierung der Palliativphase erfolgen bereits Vorbereitungen auf die Lebensendphase: Es wird ein GVP-Gespräch angeboten und bereits geführte GVP-Gespräche werden hinsichtlich ihrer Aktualität geprüft, sodass Wünsche und Bedürfnisse der Bewohner*innen in Bezug auf ihre letzte Lebensphase bekannt sind und berücksichtigt werden können. Falls noch nicht vorhanden wird zusätzlich beim Hausarzt/-ärztin die Ausstellung des Essener Palliativausweises angefragt. Dieser dient dazu, Patient*innenwünsche in Bezug auf die letzte Lebensphase insbesondere in Notfallsituationen zu berücksichtigen. Die Versorgung wird bedürfnisgerecht fortgeführt und nach Bedarf angepasst, bis der Eintritt der Lebensendphase festgestellt wird. Die palliativmedizinische Versorgung wird in Einrichtung X frühzeitig und größtenteils durch Allgemein- und Palliativmediziner*innen sichergestellt. In der Lebensendphase werden nach ärztlicher Verordnung pflegerische Maßnahmen reduziert, die nicht zum Wohlbefinden des Bewohners/der Bewohnerin beitragen und je nach Bedarf symptomlindernde Medikation eingesetzt. Bei Veränderungen des Zustands werden Maßnahmen und Medikation entsprechend angepasst. Gleichzeitig werden An- und Zugehörige von der zuständigen Pflegefachkraft oder Wohnbereichsleitung über die Lebensendphase informiert, Gespräche angeboten und die Möglichkeit zum Abschiednehmen gegeben.

Zoom Image
Abb. 1 Palliativer Versorgungsprozess in Projekteinrichtung X.

Anders als in Einrichtung X, in der die Palliativversorgung bereits früher im Versorgungsverlauf beginnt, setzt die Palliativversorgung in Einrichtung Y mit Erkennen der Lebensendphase ein (vgl. [Abb. 2]). Auch hier erfolgt die Identifizierung nach fachlicher Einschätzung der versorgenden Pflegekraft und variiert je nach Erfahrung und Grundausbildung. Nach Feststellung der Lebensendphase werden An- und Zugehörige kontaktiert, über die Situation aufgeklärt und Gespräche angeboten. Anschließend erfolgen Vorbereitungen auf eine Versorgungsumstellung. Hierzu wird, neben Allgemein- und Palliativmediziner*innen und anders als in Einrichtung X, vornehmlich ein örtlich ansässiger palliativmedizinischer Konsiliardienst (PKD) einbezogen, um die palliativmedizinische Versorgung zu gewährleisten. Die Kontaktaufnahme erfolgt nach Ausstellung einer entsprechenden Verordnung durch den Hausarzt/-ärztin, die palliative Leistungen zunächst für acht Wochen vorsieht. Nach Einschätzung des PKD vor Ort werden auch hier pflegerische Maßnahmen unterlassen, die nicht mehr zum Wohlbefinden des Bewohners/der Bewohnerin beitragen und palliative Medikation verordnet. Die palliative Versorgungssituation wird im Verlauf nicht nur bei Bedarf verändert, sondern nach Ablauf der Verordnung palliativmedizinischer Leistungen gemeinsam mit dem PKD evaluiert. Bei weiterem palliativen Versorgungsbedarf kann die Verordnung verlängert werden; gleichzeitig kann die Versorgung durch den PKD auch pausieren, sofern sich der Zustand entsprechend verbessert.

Zoom Image
Abb. 2 Palliativer Versorgungsprozess in Projekteinrichtung Y.

In beiden Einrichtungen erfolgt die Kommunikation mit An- und Zugehörigen oder der gesetzlichen Vertretung ohne definierte Vorgaben und regelmäßiger Frequenz. Sie findet bei Gelegenheit oder bei Veränderungen in Bezug auf den/der Bewohner*in statt. Auch die Bedarfsermittlung zusätzlicher (Gesprächs-) Angebote und der Einbezug weiterer Kooperationspartner, wie dem ambulanten Hospizdienst und einer seelsorgerischen Betreuung, erfolgen unsystematisch und ohne klare Organisation.

Zusätzlich besteht in beiden Einrichtungen die Schwierigkeit den einsetzenden Palliativstatus verlässlich zu identifizieren. Wie weiter oben beschrieben, beruht die Einschätzung vornehmlich auf subjektivem Ermessen der jeweiligen Pflegekraft, was je nach vorhandenen Erfahrungen Inkonsistenzen und Unsicherheiten begünstigt. Assessments oder Screenings als Orientierungshilfe zur Identifizierung der Palliativsituation werden nicht hinzugezogen. Bei Problemkonstellationen oder Unsicherheiten sind jedoch in beiden Pflegeeinrichtungen Fallbesprechungen und Bewohnerkonferenzen zur gemeinsamen Konsensfindung vorgesehen.


#

Diskussion

Die Erkenntnisse der Analysen zeigen, dass sowohl zwischen den Piloteinrichtungen als auch innerhalb der einzelnen Pflegeeinrichtungen des erweiterten Projektkreises – folglich unabhängig von Trägerschaft und Standort – deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung palliativer Versorgung und hospizlicher Begleitung bestehen. Viele Vorgänge sind zwar theoretisch definiert, basieren in der Praxis jedoch auf der subjektiven Handhabung von Mitarbeitenden und deren Erfahrungswissen.

Besonders deutlich sind die Unterschiede hinsichtlich der Verweildauer palliativer Bewohner*innen mit durchschnittlich 213,2 Tage in Einrichtung X und 88,6 Tage in Einrichtung Y (vgl. [Tab. 1]). Mit Blick auf die Prozessfolge lässt sich vermuten, dass Bewohner*innen der Einrichtung X im Vergleich zur Einrichtung Y durch eine frühzeitigere formale Einstufung in die Palliativphase länger als „palliativ“ gelten (vgl. [Abb. 1] und [Abb. 2]). Das GVP-Gespräch sowie der Einbezug des Essener Palliativausweises, dessen Ausstellung in einer besonders frühen palliativmedizinischen Phase erfolgt, könnten potenzielle Gründe für den formal früheren „Startzeitpunkt“ sein (vgl. [Abb. 1] und [Abb. 2]).

Auffällig sind auch die Abweichungen der Sterberaten palliativer Bewohner*innen am Anteil aller Sterbefälle. Hier sind es 26% in Einrichtung X und 63,6% in Einrichtung Y, während die Gesamtsterberate in beiden Häusern mit rund 30% vergleichbar ist (vgl. [Tab. 1]). Als potenzielle Erklärungsgründe könnten die grundsätzlich unsystematische Fallerfassung und der fehlende Einsatz geeigneter Screeninginstrumente angeführt werden. Letzteres belegt auch eine NRW-weite IST-Stand-Erhebung zur Hospizkultur und Palliativversorgung in Pflegeeinrichtungen. Nur rund 20% der 430 Befragten gaben an, dass in ihrer Pflegeeinrichtung konkrete Assessmentinstrumente eingesetzt werden [5]. Über ein Viertel (26,3%; n=411) der Befragten gaben an, dass überhaupt keine speziellen Verfahren zur Identifizierung von Bewohner*innen mit palliativem Versorgungsbedarf in ihren Einrichtungen entwickelt wurden [5]. Eine künftige Anwendung von praxistauglichen Handlungshilfen könnte dazu beitragen, dass palliativer Versorgungsbedarf frühzeitiger und zuverlässiger identifiziert wird und gleichzeitig Mitarbeitende entlastet, die dadurch keine Entscheidungen auf Grundlage ihrer eigenen (ggf. noch geringen) Erfahrungswerte treffen müssen.

Dass die Sterberate palliativer Bewohner*innen am Anteil aller Sterbefälle – bei gleichzeitig niedrigerer Verweildauer – in Einrichtung Y deutlich höher als in Einrichtung X ausfällt, könnte zudem mit höherer palliativer Fachlichkeit verbunden sein. Einrichtung Y weist mit einem Anteil von 15,8% Palliative Care-Pflegefachkräften mehr fachweitergebildete Mitarbeitende aus als Einrichtung X mit 9,7%. Die ergänzend hinzugezogene Fachexpertise des PKD, als palliativ-spezialisierten Kooperationspartner, könnte darüber hinaus dazu beitragen, dass in Einrichtung Y im Vergleich zu Einrichtung X grundsätzlich mehr palliative Bewohner*innen als solche erkannt werden und folglich auch zum Zeitpunkt des Todes einen Palliativstatus aufweisen.

Vermehrte Fort- und Weiterbildungsangebote zum Thema Palliativversorgung können dazu beitragen, das Fachwissen der Mitarbeitenden zu steigern. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Palliativversorgung für die Grundausbildung von Pflegekräften zwar empfohlen und in den meisten Rahmenlehrplänen berücksichtigt wird, Inhalt und Umfang jedoch nicht verpflichtend geregelt sind [6], scheint die Vermittlung palliativ-spezifischer Fachkenntnisse umso wichtiger. Über eine entsprechende Fachweiterbildung verfügt derzeit lediglich jede fünfte Pflegefachkraft [7].

Auch im Hinblick anderer palliativer Strukturen lässt sich eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis feststellen. Zwar gibt es formell in beiden Einrichtungen jeweils einen palliativen Qualitätszirkel, die Treffen sind jedoch unregelmäßig und in geringerer Frequenz als vorgesehen. Zusätzlich existieren zwar Kooperationsverträge in den Einrichtungen, im Praxisalltag erfolgen jedoch keine systemisch angelegten und regelmäßigen Bedarfsermittlungen zum Einbezug der Kooperationspartnern in die hospizlich-palliative Versorgung. Insgesamt bedarf es festgelegter Verantwortungsbereiche sowie einer in den Praxisalltag überführten Organisation und Koordination palliativer Versorgungsabläufe, um eine verlässlichere Versorgung von Bewohner*innen in der letzten Lebensphase sicherzustellen.

In den untersuchten Piloteinrichtungen werden 18% der Bewohner*innen palliativ versorgt. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin geht davon aus, dass bis zu 90% der Menschen am Lebensende einen palliativen Versorgungsbedarf haben [8]. International wird der Bedarf auf 56% bis 83% geschätzt [9]. Eine Routinedatenauswertung zur Inanspruchnahme und regionaler Verteilung palliativer Leistungen ergab, dass im Bundesdurchschnitt weniger als ein Drittel (32,7%; n=95.962) der Versicherten palliative Leistungen in den letzten sechs Lebensmonaten erhielten [10]. Angesichts der geschätzten Bedarfswerte bestünde laut Ditscheid et al. 2020 eine deutliche palliative Unterversorgung, was sich anhand der vorliegenden Projektergebnisse ebenfalls vermuten lässt. Auch die subjektive Einschätzung von Pflegeeinrichtungen stimmt damit überein. In einer Studie gaben über die Hälfte (56%; n=430) der befragten Pflegeeinrichtungen an, dass lediglich 30% oder weniger der Bewohner*innen mit palliativem Versorgungsbedarf auch tatsächlich hospizlich-palliative Versorgungsangebote erhalten [11]. Angesichts des bekannten Pflegenotstands sowie der fehlenden Refinanzierung des zusätzlichen Versorgungsaufwands im Rahmen der allgemeinen Palliativversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen, sind limitierte personelle Ressourcen als mögliche Ursache aufzuführen, dass Palliativversorgung im Praxisalltag nicht in dem Umfang umsetzbar ist, wie es der tatsächliche Versorgungsbedarf verlangt. Die als durchgängig zu niedrig beschriebene Personalausstattung führt bereits jetzt dazu, dass Pflegekräfte ihr Arbeitspensum kaum bewältigen können. In einer Studie von Fuchs-Frohnhofen et al. 2019 sind mehr als ein Drittel der befragten Pflegekräfte der Meinung für zu viele Bewohner zuständig zu sein [12] und 42% der Altenpflegekräfte geben in einer Befragung zu Arbeitsbedingungen in der Pflege an, oft oder sehr häufig Abstriche bei der Qualität ihrer Arbeit zu machen, um ihr Arbeitspensum bewältigen zu können [13].

Es besteht somit weiterhin Handlungsbedarf, um die Lücke zwischen theoretischen Rahmenbedingungen und Praxisalltag in der hospizlich-palliativen Versorgung stationärer Pflegeeinrichtungen zu schließen. Neben der Integration von praxistauglichen Leitfäden, der Vermittlung von palliativ-spezifischem Fachwissen, definierten Verantwortungsbereichen und Organisations- und Koordinationshilfen bedarf es ferner der Entwicklung geeigneter Finanzierungskonzepte auf gesundheitspolitischer Ebene [3]. Denn um geeignete Strukturen in den Praxisalltag zu überführen, fehlt bislang die Refinanzierung des zusätzlichen palliativ-hospizlichen Versorgungsaufwands in Pflegeeinrichtungen [3].


#

Limitationen

Mithilfe der verwendeten Forschungsmethodik waren tiefergehende Analysen in Bezug auf hospizlich-palliative Versorgungsprozesse und -strukturen im Praxisalltag sowie der Abgleich von Theorie und Praxis möglich. Gleichzeitig können aufgrund des Stichprobenumfangs Einschränkungen bezüglich der internen und externen Validität bestehen. So stehen die Ergebnisse möglicherweise nicht vollständig repräsentativ für die Gesamtheit stationärer Pflegeeinrichtungen. Das impliziert auch, dass sich Versorgungsstrukturen und -prozesse in anderen Einrichtungen womöglich anderweitig darstellen.


#
#

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Anna Bußmann
Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH
Bredeneyer Str. 2b
45133 Essen
Germany   

Publication History

Article published online:
11 October 2022

© 2022. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Abb. 1 Palliativer Versorgungsprozess in Projekteinrichtung X.
Zoom Image
Abb. 2 Palliativer Versorgungsprozess in Projekteinrichtung Y.