Gesundheitswesen 2022; 84(11): 988-990
DOI: 10.1055/a-1928-9599
Editorial

Theorie für die Praxis

Manfred Wildner

Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind“ ist ein pointierter Ausspruch, der gemeinhin Immanuel Kant zugesprochen wird. Ein Beleg dafür findet sich in seinen Schriften nicht. Allerdings hat Kant einen Aufsatz zum Thema „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ verfasst, der in die Richtung dieses Ausspruchs argumentiert [1]. Er führt darin aus: „Es kann also niemand sich für praktisch bewandert in einer Wissenschaft ausgeben und doch die Theorie verachten, ohne sich bloß zu geben, dass er in seinem Fache ein Ignorant sei: Indem er hofft, durch Herumtappen in Versuchen und Erfahrungen […] und ohne sich ein Ganzes […] über sein Geschäft gedacht zu haben, weiter kommen zu können, als ihn die Theorie zu bringen vermag“ [ebd., S. 3]. Wenn auch der Königsberger Philosoph im Weiteren seinen Schwerpunkt auf Moral, Politik und das kosmopolitische Große und Ganze legt, gilt seine Beobachtung sicherlich zeitlos und in weiten Bereichen des praktischen Lebens. Mit weniger Worten hat es der deutsch-amerikanische Sozialpsychologe Kurt Lewin noch einmal auf den Punkt gebracht: „there is nothing so practical as a good theory“ – es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie [2].

Der Bezug zum Gesundheitswesen? Deutlicher als die Pandemie der Jahre 2020 bis 2023 kann sowohl der Mangel an Theorie wie auch der praktische Nutzen von Theorie kaum zutage treten. Beginnend mit einer „theoretischen Leerstelle“ zu den multiplen gesellschaftlichen Perspektiven einer Pandemie als sowohl bio-medizinisches als auch soziales Phänomen auf Bevölkerungsebene, lagen viele der ersten Kommunikations- und Infektionsschutzmaßnahmen weltweit doch recht nahe an einer Art kantischem „Herumtappen in Versuchen und Erfahrungen“ ohne angemessene theoretische Systematik. Diese waren zwar aus einzelnen fachdisziplinären Perspektiven heraus plausibel und konsistent mit dem dortigen Wissensstand, jedoch oftmals ohne methodisch systematisch erarbeitetes empirisches Fundament für die mehrfachen und gemeinsam zu betrachtenden Perspektiven einer Sorge um die öffentliche Gesundheit auf Bevölkerungsebene (engl. Public Health). Deutlich waren im weiteren Verlauf dann wiederum auch die Erfolge einer theoretisch fundierteren Herangehensweise: Vieles wurde gelernt, beginnend mit einer multiperspektivischen Verlaufsbeobachtung und gemeinsamen Risikobewertung der sich ergänzenden Dimensionen von Infektionsdynamik, Krankheitsschwere und Belastung des medizinischen Versorgungssystems über eigenverantwortliches Handeln in den diversen Settings und Wirtschaftssektoren bis hin zur Erfolgsgeschichte der Entwicklung neuer Impfstoffe von überragender Wirksamkeit und deren weitgehend paritätischer Verteilung zumindest in den Ländern der Europäischen Union. Nicht der Impfstoff schützt, sondern (erst) die Impfung: Die Einsicht in den hohen Wert einer theoretischen Fundierung des Handelns beinhaltet auch eine explizite Befassung mit den Theorien von Implementation, Management und öffentlicher Verwaltung – einschließlich partizipativer Ansätze. Die fehlende weltweite Solidarität und die teilweise auch politisch beförderte Abkapselung einzelner Staaten ist ein noch einmal gesondert zu betrachtendes, beklagenswertes Kapitel, ebenso die begleitende faktenblinde „Infodemie“.

Gleichzeitig bestehen weiterhin große Herausforderungen für die Menschheit als Ganzes wie auch für die politischen Verantwortungs- und Entscheidungsträger in Bund und Ländern. Diese wurden im Frühjahr 2022 treffend und zeitnah in einer Denkschrift der Akademien der Wissenschaften der G7-Staaten benannt. Aufbauend auf einer ersten Denkschrift zur Vorbereitung auf pandemische Lagen (Pandemic Readiness) mit den Zielen der frühen Erkennung und Überwachung von Krankheitsausbrüchen sowie der schnellen und zuverlässigen Krisenreaktionen für eine entschiedene und koordinierte Antwort auf Gesundheitsgefahren wurden in einer weiteren Denkschrift auch die tiefergehenden systemischen Ursachen solcher Gesundheitskrisen aus einer One Health-Perspektive angesprochen [3] [4]: Klimaschutz, Pandemievorsorge und die Zusammenhänge von menschlicher Gesundheit, Gesundheit der Tiere und der systemischen Aspekte unserer planetaren wie auch regionalen Ökosysteme („One Health“) sind zusammen zu denken. Es geht mithin um die zu Grunde liegenden Prinzipien, um das oben zitierte „ein Ganzes […] über sein Geschäft gedacht zu haben“. Seitens der Nationalen Akademien der Wissenschaften Leopoldina wurde hierzu auch eine ergänzende erste Stellungnahme verfasst, welche die Notwendigkeit eines One Health-Ansatzes für die Bewältigung von Zoonosen und antimikrobiellen Resistenzen thematisiert [5]. Zu wünschen ist, dass dieser Aufruf rascheres Gehör findet als die diese Entwicklung vorbereitende Denkschrift der deutschen Wissenschaftsakademien zu einer Stärkung von Public Health in Deutschland aus dem Jahr 2015, einer in vielen Aspekten eng verwandten und für die wissenschaftliche Befassung mit One Health grundlegenden Thematik [6] [7].

Ebenso wie die Universitäten und Wissenschaftsministerien sind die für die praktische Arbeit zuständigen Ressorts der Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutzministerien und weitere aufgerufen, den Worten Taten folgen zu lassen: durch ordentliche und außerordentliche Professuren an allen deutschen Universitäten im Bereich von Öffentlichem Gesundheitswesen, Public Health und One Health, durch Brückenprofessuren mit den Institutionen der Praxis im Dienst der öffentlichen Gesundheit, durch die Theorie und Praxis verbindende Graduiertenprogramme zur Förderung von Promotionen in diesem Bereichen wie auch durch ergänzende Postgraduiertenprogramme zur fachlichen Vertiefung und Vernetzung bis hin zu Habilitationsvorhaben: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Die Kosten? Sicherlich substantiell, aber vernachlässigbar gegenüber dem andernfalls abzuschreibenden gesellschaftlichen Vermögen in Milliarden- und Billionenhöhe, wie durch die Corona-Pandemie der Jahre 2020 bis 2022 anschaulich belegt. Der Bund-Länder Pakt für den ÖGD (2020) hat hierfür im Übrigen bereits eine erste finanzielle Basis bereitgestellt – diese sollte in der Umsetzung auch eine systematische Stärkung der Theorie und nicht nur eine ebenfalls notwendige zahlenmäßige Stärkung der Praxis umfassen: Praxis ohne Theorie ist blind. Einen Anteil von bis zu 5% der Mittel aus diesem Pakt für die genannten Theorie-orientierten Strukturen und Programme vorzusehen wäre vermutlich eine angemessene und nachhaltig zukunftsweisende Investition. Dieses nicht zu tun käme einem desaströsen „Gehen Sie zurück auf das Anfangsfeld“ in einem Strategiespiel gleich. Die im vorliegenden Text vorgenommene Fokussierung auf den Bereich des Öffentlichen Gesundheitswesens und von One Health ist dabei exemplarisch zu verstehen – das Mühen um Prinzipien und theoretische Grundlagen gilt für alle Bereiche des Gesundheitswesens, in seinen allgemeinen Prinzipien und Strukturen und in den speziellen Fragestellungen der medizinischen Fachgebiete und auch der nicht-medizinischen Versorgungs- und Präventionsangebote.

Auch diese Ausgabe unserer Zeitschrift ist diesem breiteren wissenschaftlichen Ansatz im Dienst an der Praxis des Gesundheitswesens verbunden. Die Beiträge befassen sich mit der Konzeption von Frequently Asked Questions zum Umgang mit multiresistenten Erregern an der Schnittstelle von Veterinär- und Humanmedizin, Health in All Policies in der kommunalen Gesundheitsberichterstattung im Öffentlichen Gesundheitsdienst, der öffentlich-rechtlichen Unterbringung und der Feststellung der Fahreignung, der Entwicklung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei Kindern während der coronabedingten Einschränkungen im Frühjahr/Sommer 2020, einem interdisziplinären Curriculum zu Prävention und Gesundheitsförderung in den Studiengängen Humanmedizin und Erziehungswissenschaft, partizipativen Disseminierungsstrategien der Nationalen Bewegungsempfehlungen in Deutschland, dem Effekt eines einwöchigen Gesundheitsprogramms auf die psychische Gesundheit von pflegenden Eltern, der Gesundheitsförderung für Lehrkräfte im Setting Schule, der Gesundheitskompetenz von Angehörigen ärztlicher und nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe sowie der Gesundheitskompetenz von Menschen mit und ohne Behinderung und chronischer Erkrankung in Deutschland, der Wirksamkeit und ethischen Bewertung von Nudging-Interventionen zur Förderung des Selbstmanagements bei Diabetes Mellitus Typ 2 sowie der Entwicklung der Ergebnisse des zweiten und dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung. Ergänzt werden diese Arbeiten durch ein Memorandum des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung zu Versorgungsforschung im letzten Lebensjahr.

Um am Ende den Anfang noch einmal aufzugreifen: Im Jahr 1898 stellte der Logiker Charles Peirce im Rahmen einer öffentlichen Vorlesungsreihe an der amerikanischen Harvard-Universität fest: „Die deutschen Universitäten sind das Licht der ganzen Welt“ [8]. Er bezog sich hierbei in der Sache auf die deutschen Universitäten Humboldtscher Prägung, welche gegenüber den auf die effiziente Lehre fokussierten und hier durchaus erfolgreichen amerikanischen Universitäten an einem inneren „Drang zum Lernen“ ansetzten, einem sich seiner „erbärmlichen Unwissenheit zutiefst bewusst“ werden, wie Peirce weiterschreibt. Aus der „universitas magistrorum und scolarium“, der Gemeinschaft der Lehrer und Schüler des 13. Jahrhunderts, war im Denken Humboldts eine „universitas litterarum“ geworden, eine universale Gesamtheit der Wissenschaften. Bildung des Menschen im Sinne des für die damaligen deutschen Universitäten Gestalt gebenden Ideals Wilhelm von Humboldts wollte den Menschen für die Welt als Ganzes mit ihren universalen Fragen begeistern: gelingt dies, so „sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann mit sich zu verbinden“ [9]. Ob sich das auch in den Themen des 21. Jahrhunderts verwirklichen lässt? Das öffentliche Gesundheitswesen, der Klimawandel oder auch One Health eignen sich als Gegenstände des universitären theoretischen „Ergreifens von Welt“ in der subjektiven Einschätzung des Autors in besonderem Maß: Die Welt wartet sehnlich auf so theoretisch gebildete Menschen, gerade auch in ihren praktischen Vollzügen.



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Article published online:
17 November 2022

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