Schlüsselwörter Antibiotikatherapie - Entscheidungsunterstützungssysteme - Implementierung - künstliche
Intelligenz
Key words Antibiotic therapy - decision support systems - implementation - artificial intelligence
Einleitung
Der rationale Einsatz von Antibiotika gehört neben der
Infektionsprävention zu der wichtigsten Maßnahme, um die Entwicklung
und Verbreitung von Antibiotikaresistenzen einzudämmen [1 ]. Begünstigt wird die Entstehung von
Resistenzen vor allem durch eine inadäquate Verordnungspraxis von
Antibiotika durch Mediziner[1 ]
[1 ]
[2 ].
In der stationären Versorgung werden ärztliche Entscheidungen
häufig nicht nur unter medizinischen Gesichtspunkten getroffen, sondern auch
unter vielfältigen organisationalen Prozessen [3 ]. Zur Unterstützung einer
Entscheidungssituation werden zunehmend entscheidungsorientierte Systeme sogenannte
Decision Support Systems (DSS)- respektive
Entscheidungsunterstützungssysteme (EUS)- eingesetzt [4 ]. Diese sind Softwaresysteme, die die
Entscheidungsfindung erleichtern, indem sie Daten aufbereiten und den Nutzern
strukturiert zur Verfügung stellen und somit die klinische Entscheidung
vorbereiten [5 ]. Untersuchungen zeigen
vielfach, dass EUS Vorteile hinsichtlich der Behandlungsqualität und
Kostendämpfung sowie einer potenziellen Reduktion von Medikationsfehlern
bieten [6 ]
[7 ]. Hinter der allgemeinen Definition verbirgt sich eine sehr heterogene
Gruppe von Anwendungen. Insbesondere nicht-regelbasierte Algorithmen, die
häufig unter dem Begriff „Künstliche Intelligenz“
(KI) subsumiert werden und zumeist Anwendungen „Maschinellen
Lernens“ (ML) bezeichnen, sind für die zukünftige
medizinische Praxis bedeutend [8 ]. Die
Besonderheiten solcher Anwendungen besteht darin, dass sie weitgehend automatisiert
allgemeine Lernverfahren nutzen, um aus den ihnen dargebotenen (Trainings-)Daten
statistische Regelmäßigkeiten zu identifizieren und daraus wiederum
prädiktive Wahrscheinlichkeitsaussagen für das Auftreten von
Phänomenen zu erzeugen [9 ]. Im
Gegensatz zu herkömmlichen Expertensystemen, bei denen Algorithmen die ihnen
zugeführten Daten regelbasiert, d. h. anhand von deterministischen
Wenn-Dann-Regeln auf die immer gleiche und damit komplexe, aber vorhersehbare Art
und Weise, berechnen, können nicht-regelbasierte Algorithmen sich allein auf
Basis der ihnen zugeführten Daten „eigenständig“
(weiter-)entwickeln [10 ]. Potenziell
problematisch an solchen Anwendungen ist, dass ihre Entscheidungsstruktur nicht oder
nur teilweise und unter großem Aufwand von Menschen verstanden und bewertet
werden kann [11 ]
[12 ].
Für eine erfolgreiche und nachhaltige Implementierung im Krankenhaus, gilt
es, KI-basierte EUS in der Entwicklung, Einführung und Nutzung an den
Bedürfnissen und Bedarfen der Nutzer auszurichten und die Akzeptanz
ebendieser durch Partizipation, einen bedarfsgerechten Informations- und
Kompetenztransfer sowie klinischer Evidenzbasierung zu fördern [6 ]
[13 ].
Davon ausgehend war das Ziel der vorliegenden Arbeit zu untersuchen, welche Faktoren
den Prozess der Implementierung von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage im
Krankenhaus determinieren. Folgende Fragestellungen waren handlungsleitend:
Welche organisationalen Bedingungen und Kontextvariablen determinieren den
Prozess der Implementierung von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage
im Krankenhaus?
Welche personellen und strukturellen Bedingungen müssen in der
stationären Akutversorgung vorhanden sein, um den
Innovationstransfer und die Implementierung von KI-basierten EUS zur
Antibiotikavorhersage zu fördern?
Trotz diverser Ansätze zur Erklärung der Implementierung von
KI-basierten EUS wurde der Organisationskontext sowie die Schnittstelle Technologie,
Organisation und Nutzer bislang unzureichend berücksichtigt [14 ]
[15 ].
Daher wurde in dieser Arbeit das Human-Organization-Technology (HOT)-fit-Model von
Yusof et al. [16 ] als theoretisches Rahmenwerk
gewählt.
Dieses Modell wurde für die Umsetzung und Evaluation von Innovationen in
Organisationen, insbesondere in Krankenhäusern, entwickelt und validiert
[17 ]
[18 ]. Es bildet die drei Domänen Mensch, Organisation und
Technologie mit verschiedenen Subdomänen ab und rückt somit die
Passung sowie die verschiedenen Beziehungen und Einflüsse zwischen den drei
Bereichen in den Vordergrund. Ferner steht die Passung der drei Domänen in
einem engen Zusammenhang mit den sogenannten „net benefits“, die die
positiven und negativen Auswirkungen der Technologienutzung umfassen. Auf dieser
Grundlage sollen nicht nur die statischen Nutzer- und Systemattribute, sondern auch
dynamische organisationale Prozesse herausgearbeitet werden, die den
Adoptionsprozess und Implementierung beeinflussen können.
Methodik
Erhebungsmethode
Als geeignete Erhebungsmethode wurden leitfadengestützte
problemzentrierte Einzelinterviews gewählt, um so die individuellen
Handlungen und subjektiven Wahrnehmungen zu erfassen sowie neue Erkenntnisse in
Bezug auf die Implementierung von KI-basierten EUS zu explizieren [19 ]. Zur theoretischen Orientierung wurden
deduktiv Elemente aus dem HOT-fit-Modell von Yusof et al. [16 ] als konstituierend-strukturierende
Elemente in den Leitfaden integriert.
Selektion und Rekrutierung
Im Rahmen der Untersuchung wurde ärztliches Personal befragt, das in der
stationären Versorgung tätig ist und grundlegende Kenntnisse
über die Verordnung von Antibiotika sowie die Abläufe im
Krankenhaus hat. Als mögliche Zielgruppen wurden dabei die operative
Ebene der Leistungserbringer, wie Ober-, Fach- und Assistenzärzte
verschiedener Fachrichtungen, die Leitungsebene der Leistungserbringer, wie die
ärztliche Direktion oder Chefärzte sowie die Krankenhaushygiene
in Betracht gezogen. Die Rekrutierung erfolgte über drei kooperierende
Kliniken.
Datenerhebung
Die Grundlage für die Interviews bildete ein teilstandardisierter
Leitfaden. Dieser wurde nach der SPSS-Methode nach Helfferich [20 ] erstellt. Der Leitfaden umfasste drei
inhaltliche Komplexe. Zu Beginn erfolgte ein allgemeiner Einstieg in das
Themenfeld, um notwendige Begrifflichkeiten zu klären. Der zweite
Komplex rekurrierte auf den Dimensionen des HOT-fit-Modells und beinhaltete
insgesamt 12 Hauptfragen sowie zusätzliche untergeordnete
Fragestellungen zum Einsatz von KI-basierten EUS im Kontext der
Antibiotikatherapie. Der dritte Komplex diente exmanenten und immanenten
Nachfragen und einer offenen Ausstiegsfrage, um zusätzliche Aspekte zu
erörtern, welche im Rahmen des Interviews nicht thematisiert wurden. Um
die Verständlichkeit des Leitfadens zu überprüfen und
Probleme bei der Beantwortung des Fragebogens zu identifizieren [21 ], wurden vier kognitive Pre-Tests mit
Leistungserbringern aus der stationären Versorgung
durchgeführt.
Ferner wurde der Leitfaden durch eine auf die Forschungsfragen abgestimmte
quantitative Datenerhebung ergänzt, wobei u. a.
soziodemographische Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht) und die
interaktionsbezogene Technikaffinität [22 ] erhoben wurden. Die durchschnittlich 30-minütigen
Einzelinterviews wurden von Juni 2021 bis Dezember 2021
durchgeführt.
Datenauswertung
Die wissenschaftliche Transkription erfolgte durch ein professionelles
Transkriptionsbüro [23 ].
Stichprobenartige Qualitätsüberprüfungen zeigten keine
Einschränkungen in der Genauigkeit der Transkription. Die
Datenauswertung erfolgte anhand der strukturierenden Inhaltsanalyse nach
Kuckartz [24 ]. Dabei wurden Oberkategorien
entlang des HOT-fit-Modells genutzt ([Tab.
1 ]) und das gesamte Datenmaterial sequentiell durchgearbeitet.
Tab. 1 Kategorienbeschreibung der qualitativen
Auswertung
Kategorien
Determinante
Beschreibung
Nutzerbezogene Faktoren
Systemnutzung
In dieser Kategorie wird der Grad der Technologienutzung
dargestellt. Zusätzlich werden Einstellung, Haltung,
Wissen, Akzeptanz und Erwartung des Individuums sowie die
Vorstellung hinsichtlich des Systems skizziert.
Zufriedenheit
Diese Kategorie beschreibt eine Gesamtbeurteilung des
Einsatzes von EUS und welcher Nutzen durch den Einsatz
erwartet wird.
Organisationsbezogene Faktoren
Umgebung
In dieser Kategorie werden Aspekte der organisatorischen
Umgebung, wie die politischen und gesetzlichen
Rahmenbedingungen als auch Finanzierungsaspekte und die
externe Kommunikation dargelegt.
Struktur
Die Kategorie beschreibt Aspekte der Organisationseinheit.
Organisationskultur/-werte,
Unterstützungsmöglichkeiten durch das
Management, Führungseigenschaften,
Hierarchiestrukturen, interne Kommunikation und der
technische Support wird fokussiert.
Technologiebezogene Faktoren
Systemqualität
In dieser Kategorie werden die gewünschten
Eigenschaften der Technologie beschrieben. Es werden Aspekte
der Systemleistung und der Benutzeroberfläche
dargelegt.
Informationsqualität
Diese Kategorie bezieht sich auf Informationen, die von der
Technologie bereitgestellt werden.
Servicequalität
In dieser Kategorie werden jene Aspekte subsummiert, welche
sich allgemein auf die Unterstützung durch den
Technologiehersteller beziehen.
Net benefits
Diese Kategorie beschreibt den Nettonutzen des Systems. Es
werden neutrale, positive und negative Auswirkungen der
Technologienutzung auf individueller, institutioneller und
gesellschaftlicher Ebene skizziert.
Da es sich um eine prospektive Erhebung handelte und eine vorherige Nutzung von
KI-basierten EUS nicht vorausgesetzt war, wurde die originäre
Beschreibung der Determinante Zufriedenheit modifiziert. Demnach bezieht sich
die Determinante nicht auf die konkrete Nutzungserfahrung mit einem KI-basierten
EUS, sondern auf den erwarteten Nutzen durch den Einsatz und umfasst so eine
generelle Beurteilung des Einsatzes von KI-basierten EUS. Nach Codierung und
Zusammenfassung der Oberkategorien, wurden induktiv Subkategorien
entwickelt.
Fallauswahl
Die Eigenschaften der an den Interviews teilnehmenden Personen ist [Tab. 2 ] zu entnehmen. Es nahmen insgesamt
elf Männer und drei Frauen an den Interviews teil. Fünf befragte
Personen waren über 50 Jahre alt. Es nahmen Teilnehmer mit niedriger und
hoher Technikaffinität teil (Mittelwert: 4,18), wobei 6 für die
höchste Technikaffinität steht.
Tab. 2 Eigenschaften der Interviewpartner
Interview-nummer
Geschlecht
Alter
Berufsstatus
Berufserfahrung
Art der Einrichtung
Technik-affinität
1
männlich
51-60
Oberarzt
>10 Jahre
Maximalversorgung
4,56
2
männlich
51-60
Oberarzt
>10 Jahre
Schwerpunktversorgung
5,4
3
männlich
41-50
Chefarzt
>10 Jahre
Maximalversorgung
4,78
4
weiblich
30-40
Fachärztin
5-10 Jahre
Grundversorgung
2,56
5
männlich
<30
Assistenzarzt
5-10 Jahre
Grundversorgung
5,11
6
männlich
30-40
Oberarzt
>10 Jahre
Maximalversorgung
3,44
7
männlich
30-40
Assistenzarzt
<5 Jahre
Grundversorgung
3,33
8
weiblich
<30
Assistenzärztin
<5 Jahre
Maximalversorgung
3,78
9
männlich
51-60
Chefarzt
>10 Jahre
Maximalversorgung
5,5
10
männlich
>60
Oberarzt
>10 Jahre
Schwerpunktversorgung
3,5
11
männlich
41-50
Oberarzt
>10 Jahre
Schwerpunktversorgung
3,56
12
männlich
41-50
Chefarzt
>10 Jahre
Schwerpunktversorgung
5,22
13
männlich
41-50
Chefarzt
>10 Jahre
Maximalversorgung
4,78
14
weiblich
51-60
Oberärztin
>10 Jahre
Maximalversorgung
3
Ergebnisse
Im Rahmen der qualitativen Analyse wurde eine Vielzahl an Faktoren für die
Implementierung von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage aus Perspektive des
ärztlichen Personals generiert. Die Implementierungsfaktoren wurden entlang
der Domänen des HOT-fit-Modells und jeweils differenziert nach hemmenden
([Abb. 1 ]) und fördernden
Faktoren ([Abb. 2 ]) kategorisiert. Im
Folgenden werden kurz und je Domäne die relevantesten fördernden und
hemmenden Faktoren dargelegt.
Abb. 1 Hemmende Faktoren der Implementierung.
Abb. 2 Fördernde Faktoren der Implementierung.
Technologiebezogene Faktoren
Im Bereich der Technologie gaben die Befragten eine schnelle und einfache
Dateneingabe als einen fördernden Aspekt an. Eine aufwändige
manuelle Dateneingabe sei während der Arbeitszeit behindernd und nicht
realisierbar. In diesem Kontext wurde der Wunsch geäußert, dass
ein Großteil der Daten automatisiert und passiv einfließt.
Hierfür sei die Kompatibilität mit dem bestehenden
Krankenhausinformationssystem unumgänglich. Dabei betonten die Befragten
eine notwendige Kompatibilität mit bestehenden Systemen des gesamten
Krankenhauses, sodass alle Abteilungen miteinander vernetzt seien.
Mit Blick auf das Layout präferierte mehr als die Hälfte eine
übersichtliche Benutzeroberfläche sowie eine einfache
Navigation. Die Ergebnispräsentation müsse strukturiert und
nachvollziehbar sein. Es sei förderlich eine Art
Scroll-Down-Menü mit farblichen Hervorhebungen besonders relevanter
Daten zu nutzen. Ferner seien sichtbar positionierte Alarmfunktionen wichtig, um
im Falle von Kontraindikationen, Allergien oder bei Aktualisierungen der Befunde
direkt informiert zu sein.
Im Hinblick auf die Vollständigkeit der Empfehlung erläuterten
fünf Interviewpartner, dass nicht nur das Antibiotikum an sich, sondern
Dosierungsempfehlung, Therapiedauer und mögliche Kombinationstherapien
von großer Bedeutung seien. Ferner müsse stets eine
gleichwertige Alternativbehandlung aufgeführt werden, um bspw. bei
Unverträglichkeiten und Allergien agieren zu können. Zudem
müsse deutlich werden, aus welchen Quellen die Informationen generiert
wurden.
Organisationsbezogene Faktoren
In Bezug auf organisationale Bedingungen müsse der Gesetzgeber eine
solide gesetzliche Grundlage zur Rechtssicherheit bei der Nutzung von
KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage schaffen. Insbesondere
Verantwortlichkeiten sowie Haftungsfragen für Systementscheidungen, die
auf den Empfehlungen eines KI-basierten EUS basieren, müssen klar
definiert und geregelt werden, v. a., wenn es dadurch zu Schaden
für Patienten kommt und rechtliche Konsequenzen geltend gemacht werden.
Außerdem sei es förderlich, das Thema in die ärztliche
Ausbildung zu integrieren und so zukünftige Mediziner frühzeitig
dafür zu sensibilisieren.
Darüber hinaus verwies die Mehrheit der Befragten auf die technische
Ausstattung. Als optimal wurde ein System angesehen, welches nicht nur von einem
festen Arbeitsplatz genutzt werden kann, sondern auch auf sämtlichen
mobilen Endgeräten vorhanden sei. Ferner erläuterten zehn
Interviewpartner, dass eine strukturierte Einarbeitung bspw. in Form von
interaktiven Schulungen förderlich sei. Weiterhin sei eine
Unterstützung durch Experten ein wichtiger Aspekt. Inwiefern eine
nachhaltige Implementierung von KI-basierten EUS realisierbar ist, hinge
zusätzlich von der Veränderungsbereitschaft der Organisation und
der Mitarbeiter sowie von hierarchischen Strukturen und einrichtungsspezifischen
Standards ab. Insbesondere Mediziner der Führungsebene würden
laut den Befragten eine bedeutende Rolle für die Implementierung
einnehmen.
Nutzerbezogene Faktoren
Im Kontext von nutzerbezogenen Faktoren gaben vier Befragte an, dass eine
positive Grundeinstellung gegenüber KI-basierten EUS sowie vorherige
Erfahrungen mit dem System förderlich für die Implementierung
seien. Daran anknüpfend wäre es wichtig, Kenntnisse über
die Verfügbarkeit und Funktionsweise des KI-basierten EUS zu haben. Eine
als unzureichend wahrgenommene Technikkompetenz sei laut Aussagen der Befragten
ein hemmender Faktor für die Implementierung.
Net benefits
Bei Betrachtung der potenziellen Auswirkungen lässt sich festhalten, dass
ein Großteil der Befragten eine Arbeitserleichterung und
Orientierungshilfe durch die Nutzung von KI-basierten EUS zur
Antibiotikavorhersage erwartet. Insbesondere für Ärzte mit
weniger Erfahrung im Umgang mit Antibiotika resultiere ein enormer Vorteil.
Überdies erläuterten fast alle Befragten, dass die Nutzung von
KI-basierten EUS zu einer Verbesserung der Patientenversorgung und
Erhöhung der Behandlungssicherheit führen könne. Ferner
stelle der Zeitfaktor einen bedeutsamen Aspekt für die Implementierung
von KI-basierten EUS dar. Als wichtigen Vorteil konstituierten die Befragten
eine mögliche Zeitersparnis, da Befunde zeitnah zur Verfügung
stehen und eine schnelle Therapieeinleitung ermöglicht werde. Hingegen
wurde es als eher nachteilig angesehen, wenn die Handhabung des KI-basierten EUS
mit dem Arbeitsaufwand im Alltag kollidiert und die Nutzung eher mit einem
erhöhten Zeitaufwand verbunden ist.
Die Nutzung von KI-basierten EUS sei laut den Befragten auch mit
Gewöhnungseffekten assoziiert. Hierbei wurde die Sorge
geäußert, dass Empfehlungen kritiklos übernommen werden.
Es sei wichtig Bewusstsein darüber zu schaffen, dass ein KI-basiertes
EUS zur Antibiotikavorhersage lediglich eine Unterstützung darstellt und
die Therapieentscheidung und die Verantwortung schlussendlich dem
ärztlichen Personal obliegt. Gleichzeitig ist für die Mehrheit
der Befragten die Nutzung eines KI-basierten EUS mit einer Veränderung
der Berufsrolle assoziiert, wobei es als problematisch angesehen wurde, dass
Patienten nach einer Art Checkliste behandelt und individuelle Gegebenheiten
ausgeblendet werden.
Weitere Faktoren
Fünf Befragte führten an, dass Alterseffekte wichtige Faktoren
für die Implementierung darstellen. So wurde einheitlich betont, dass
ältere Personen technologischen Entwicklungen eher mit Vorbehalten
begegnen als jüngere Personen. Zusätzlich wurde der
Berufserfahrung eine zentrale Rolle zugeschrieben. So gaben sechs Befragte an,
dass mit steigender Berufserfahrung die Skepsis gegenüber dem Einsatz
von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage wächst.
Ein weiterer wichtiger Schlüsselfaktor ist das Vertrauen in KI-basierte
EUS. So gaben sieben Befragte an, dass das Vertrauen in entsprechende Systeme
und die hierdurch generierten Empfehlungen die Implementierung
maßgeblich beeinflussen können. In dem Zusammenhang wurden keine
konkreten Angaben dazu gemacht, welche Gesichtspunkte mit dem Vertrauen in
KI-basierte EUS assoziiert sind.
Diskussion
Im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchung konnte eine Vielzahl an
Einflussfaktoren für die Implementierung von KI-basierten EUS zur
Antibiotikavorhersage in einem Krankenhaus identifiziert werden.
Hervorzuheben ist, dass aus Perspektive des ärztlichen Personals
technologiebezogene Aspekte eine zentrale Rolle für die Implementierung
einnehmen. Übereinstimmend mit bereits durchgeführten Arbeiten in
diesem Bereich [25 ]
[26 ] wurden die Kompatibilität mit
bestehenden Systemen und die Usability, die sich in einer übersichtlichen
Benutzeroberfläche und einer einfachen Navigation ausdrückt, als
hilfreiche Eigenschaften eines KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage
angeführt. Warnmeldungen werden ebenfalls als fördernd für
eine erfolgreiche Implementierung angesehen. Diese Erkenntnis wurde ebenfalls in
vergleichbaren Arbeiten herausgestellt [27 ]
[28 ]. Dabei ist zu beachten,
dass Falschalarme eine der größten Schwachstellen vieler
KI-basierten EUS sind. Sie verbrauchen Ressourcen, lenken ab und führen
dazu, dass auch korrekte Warnmeldungen nicht die erforderliche Beachtung finden
[29 ]. Um hilfreiche Unterstützung
im Arbeitsalltag zu bieten, sollten Warnfunktionen besser ausgestattet und
spezifischer sein, d. h. Informationen sollten konkret dargelegt werden,
anstatt dass mehr Informationen zur Verfügung stehen, die der Nutzer in der
Kürze der Zeit nicht verarbeiten kann. Aus den generierten Ergebnissen geht
hervor, dass die Vollständigkeit und Präzision der Informationen
wichtig sind. Folglich erscheint ein lernfähiges System, das Prozesse
fortwährend begleitet und sich an spezifische Veränderungen anpassen
kann effizienter. Dies setzt ein kontinuierliches Monitoring der
Leistungsfähigkeit des KI-basierten EUS im jeweiligen Umfeld voraus [29 ].
Eine Stärke der vorliegenden Arbeit liegt darin, dass durch das Hinzuziehen
eines soziotechnischen Rahmenwerks [16 ] der
organisationale Kontext der Nutzer explizit berücksichtigt wurde. Auch wenn
den technologiebezogenen Faktoren ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird, ist die
einseitige Konzentration auf die technische Realisierung nicht zielführend
für eine erfolgreiche Implementierung und Akzeptanz von KI-basierten EUS zur
Antibiotikavorhersage. Die Ergebnisse spiegeln wider, dass die Implementierung von
KI-basierten EUS stark in Verbindung mit den spezifischen Prozessgegebenheiten
steht. Dabei wurde die Abhängigkeit von stationseigenen Standards bzw. die
Abhängigkeit von Vorgesetzten als Barriere für die Implementierung
von KI-basierten EUS angeführt, welches bislang unzureichend thematisiert
und erforscht wurde. Es wird deutlich, dass die Implementierung in Organisationen
kein komplett endogener Prozess ist, sondern dass vielmehr die Struktur des sozialen
Systems und bestimmte Rollen die Durchsetzung beeinflussen können [30 ]. Die unzureichende Bereitschaft zur
Veränderung ist oftmals in situativen Faktoren wie dem fehlenden Bedarf oder
der zu hohen wahrgenommenen Komplexität der neuen Technologie
begründet [31 ]. Darin artikulieren
sich auch Ängste und Überforderung. Gleichzeitig birgt das
Überschreiten der Grenze zwischen Entscheidungsassistenz und
Entscheidungsübernahme die Gefahr eines Kontroll- bzw. Autonomieverlustes
[10 ]
[32 ], die auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zum Ausdruck
gebracht wurde. Wenn Nutzer den Eindruck haben, dass der Zweck eines Systems darin
besteht, die Autonomie einzuschränken, werden sie es möglicherweise
nicht nutzen wollen [33 ]. Vashitz et al.
erklären die Folge des Autonomieverlustes als Reaktanz [34 ]. Reaktanz ist ein unangenehmer
Motivationszustand, bei dem Menschen auf Situationen reagieren, um ihre Autonomie
zu
bewahren. Reaktanz kann vorliegen, wenn bspw. Mediziner sich durch KI-basierte EUS
bedroht fühlen, weil sie befürchten, dass sie dadurch ihre Autonomie
und Entscheidungsfreiheit verlieren und in ihrer Berufsrolle abgewertet werden [34 ]. Folglich müssen Nutzer weiterhin
in der Lage sein, die Aufsicht über den Gesamtprozess zu übernehmen,
in dem zunehmend auch Vorschläge von KI-basierten Systemen eingebunden sind.
Zudem treffen Mediziner klinische Entscheidungen nicht nur auf Grundlage von
Patienteninformationen, sondern ebenfalls auf Grundlage von individuellen
Moralvorstellungen, der sozialen Struktur (bspw. akzeptables Verhalten, das von
Gleichaltrigengruppen festgelegt wird) sowie der institutionellen Gegebenheiten
(bspw. die Anforderung, nach bestimmten Praktiken zu handeln oder hierarchische
Strukturen) [26 ]. Die Automatisierung eines
derart komplexen Netzwerkes an Informationen stellt aus Perspektive des
ärztlichen Personals eine zentrale Herausforderung für die
Implementierung von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage dar.
Neben der Berücksichtigung der Passung der Technologie an organisationale
Gegebenheiten sollten auch die Eigenschaften und Fähigkeiten der Nutzer in
Blick genommen werden. Fähigkeitsbarrieren hängen von der kognitiven
Leistung des Nutzers und seiner Ressourcenausstattung ab und könnten mit
entsprechenden Schulungen sowie durch gezielte materielle Förderung
überwunden werden. Während Schulungen nur zeitpunktbezogen
durchgeführt werden, bietet organisatorische Unterstützung den
Nutzern kontinuierlich die Möglichkeit für Rückfragen. Dies
kann z. B. in Form der notwendigen Infrastruktur sowie der
Verfügbarkeit von Experten erfolgen. Eine erfolgreiche Implementierung kann
zusätzlich durch einen unterstützten Kontakt mit dem System vor der
eigentlichen Nutzung gefördert werden. Dadurch wird die Angst im Umgang
gemindert und die Akzeptanz erhöht.
Schwieriger ist die vertrauensförderliche Gestaltung von KI-basierten EUS.
Wie aus den vorliegenden Ergebnissen hervorgeht, müssen Nutzer darauf
vertrauen können, dass durch den Einsatz von KI-basierten EUS eine
mindestens gleiche, idealerweise bessere Versorgung möglich wird. Sasse und
Kirlappos [35 ] beschreiben eine Reihe
vertrauensfördernder Eigenschaften, die bei entsprechender Gestaltung und
Implementierung eines Systems entscheidend sind. Dazu zählen u. a.
die Gestaltung des Systems und Gebrauchstauglichkeit. Zusätzlich sind das
Wissen über den Nutzen von digitalen Systemen sowie die digitalen
Kompetenzen der Nutzer ein wichtiger Aspekt [35 ]. Denn lediglich Nutzer, die die Vertrauenswürdigkeit des
Systems einschätzen können, sind auch in der Lage, eine kompetente
Entscheidung zu treffen. Den Verantwortlichen auf der Meso- und Makroebene kommt
eine gleichermaßen zentrale Bedeutung zu, um Systemvertrauen zu
gewährleisten und die Implementierung zu fördern. Auf der Mesoebene
hat die Organisation beim Einsatz von KI-basierten EUS Sorge dafür zu
tragen, dass die Nutzer auf den Einsatz durch geeignete
Fortbildungsmaßnahmen angemessen vorbereitet sind. Die Systeme
müssen zudem kontinuierlich angemessen gewartet und aktualisiert werden
[36 ]. Auf Makroebene hat der Gesetzgeber
die Verantwortung die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Akteure auf
Mikro- und Mesoebene ihrer jeweiligen Verantwortung nachkommen können.
Dieser Aspekt wurde auch im Rahmen der Interviews als ein wichtiger
Implementierungsfaktor genannt.
Neben wissenschaftlichen Kompetenzen, die Ärzte im Studium erwerben und
kontinuierlich weiterentwickeln, erlangen sie auch personales Wissen, das keine
neutrale Informationsverknüpfung darstellt, sondern in dessen Entstehung und
Vermittlung die ärztliche Erfahrung eingeht. Ein Aspekt, der in den
Interviews problematisiert wurde, ist die Entwertung des ärztlichen
Erfahrungswissens, das nicht implizit ist und folglich auch nicht in die
Empfehlungen des KI-basierten EUS einfließen kann. Auch Kontexte des
individuellen Falls können nicht durch die Daten abgebildet werden, so dass
Ergebnisse verzerrt werden können. Der Einsatz von KI-basierten EUS kann
dazu führen, dass entsprechendes Erfahrungswissen nicht mehr erworben wird
und damit eine Korrektur der Empfehlungen nicht mehr gegeben ist oder sie bei
Ausfall des KI-basierten EUS keine Abhilfe bieten können [37 ]. Gleichzeitig sollte berücksichtigt
werden, dass durch den reflektierten Einsatz von KI-basierten EUS ein Lerneffekt
hervorgerufen werden kann und die Nutzer eine neue Art des Erfahrungswissens
erlangen können.
Methodische Limitationen
Die Interpretation der Ergebnisse erfordert die Berücksichtigung einiger
methodischer Limitationen. Der Einsatz des qualitativen semistrukturierten
Leitfadens erwies sich aufgrund der bislang wenigen Erkenntnisse als
zielführend. Durch die Interviews konnten viele Facetten für die
Implementierung von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage in der
stationären Versorgung erhoben werden. Die
Repräsentativität der Ergebnisse ist jedoch infolge des
methodischen Vorgehens, der Stichprobengröße sowie der
getätigten Fallauswahl eingeschränkt. Die Fallauswahl erfolgte
bis zum Erreichen der theoretischen Sättigung entsprechend dem von
Strauss und Corbin vorgeschlagenen „theoretical sampling“ [38 ]. Folglich geben die zahlreichen
rekonstruierten Implementierungsfaktoren einen guten Eindruck über die
Vielfalt der Sichtweisen des ärztlichen Personals. Bei der
Kontrastierung wurde darauf geachtet, dass sich die teilnehmenden Personen in
möglichst vielen Aspekten unterscheiden. Dennoch waren im Rahmen der
Untersuchung Männer überrepräsentiert. Ferner war die
Mehrheit der befragten Personen zwischen 30 und 50 Jahre alt. Es konnte kaum
Einblicke in die subjektive Sichtweise von Personen erlangt werden, die
KI-basierte EUS zur Antibiotikavorhersage strikt ablehnen, da hier
überwiegend eine mittlere Technikaffinität vorlag.
Außerdem sind im Rahmen des Samplings in der vorliegenden Arbeit
Überlegungen zur Frage geboten, ob eine Verzerrung im Sinne einer
gewissen Einseitigkeit der generierten Erkenntnisse vorliegt. Dies
könnte sich z. B. daraus ergeben, dass die befragten Personen
aus einem Bundesland stammen. Für zukünftige Forschungsarbeiten
wäre es denkbar, das Kontrastieren zwischen den Personen noch weiter zu
führen. Beispielsweise könnte ärztliches Personal aus
weiteren Bundesländern befragt werden. Denkbar wäre auch eine
systematische Vorsortierung der Teilnehmenden, bspw. aufgrund ihrer Vorerfahrung
mit bzw. Wissen zu KI-basierten EUS. Darüber hinaus wurden die
Ergebnisse für die vorliegende Analyse nicht in ein triangulatives
Methodendesign eingebettet, wodurch die aus dem Material begründeten
Implementierungsfaktoren von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage
lediglich für die hier vorliegenden Fallbetrachtungen
repräsentativ sind und die Reproduzierbarkeit eingeschränkt
ist.
Zusammenfassend liefern die Ergebnisse dieser Arbeit mit den o.g.
Einschränkungen relevante Anhaltspunkte für eine
nutzerorientierte sowie nachhaltige Implementierung von EUS zur
Antibiotikavorhersage in der stationären Akutversorgung.
Fördermittel Information
Bundesministerium für Gesundheit:
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/.
Förderkennzeichen: ZMVI1-2520DAT930
Fazit für die Praxis
Für eine erfolgreiche Implementierung von KI-basierten EUS zur
Antibiotikavorhersage im Krankenhaus nimmt ihre Benutzerschnittstelle eine
zentrale Rolle ein. Systeme mit unhandlichen und unverständlichen
Benutzerschnittstellen oder welche, die einschneidende Veränderungen im
Arbeitsablauf mit sich bringen, sind in der Praxis wenig nützlich und
akzeptiert.
Es ist notwendig über die Optimierung der Benutzerfreundlichkeit von
KI-basierten EUS hinauszugehen und vermehrt institutionelle und soziale
Einflüsse für die erfolgreiche Implementierung zu
berücksichtigen.
Nutzer würden die Empfehlungen von KI-basierten EUS nicht
durchgängig befolgen, wenn diese für sie nicht nachvollzogen
werden können. Selbst wenn das System eine sehr gute Annäherung
darstellt und dessen Empfehlungen korrekt sind, lehnen Nutzer ohne umfassendes
Verständnis eventuell den Vorschlag des Systems ab. Um Vertrauen in das
System zu gewährleisten sollte eine gute Benutzerschnittstelle daher
auch den Pfad, auf welchem die Entscheidungsfindung des Systems aufbaut,
für die Nutzer transparent gemacht werden.
Der Einsatz von KI-basierten EUS zur Antibiotikavorhersage darf nicht dazu
führen, dass die Gesamtlast der Implementierung und Nutzung von EUS bei
den potenziellen Nutzern liegt. Vielmehr kommt bei dem Einsatz dieser Systeme
den Verantwortlichen auf der Meso- und Makroebene eine zentrale Bedeutung
zu.