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DOI: 10.1055/a-2305-2679
Sprachliche Diversität im Unterricht: Potenziale nutzen, Herausforderungen meistern
Wege zu einer sprach(en)sensiblen Gestaltung des FachunterrichtsLinguistic Diversity in the Classroom: Using Potentials, Mastering ChallengesTowards Linguistically Responsive Content Teaching- Abstract
- Sprachliche Diversität und Bildungserfolg
- Bildungssprache und Alltagssprache
- Durchgängige Sprach(en)bildung
- Danksagung
- Literatur
Sprachliche Vielfalt ist an den meisten Schulen in Deutschland Realität – sie muss bei der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt werden, um erfolgreiche Lernprozesse zu ermöglichen. Mit sprach(en)sensiblen Unterrichtsansätzen, die fachliches und sprachliches Lernen miteinander verbinden, können die bildungssprachlichen Fähigkeiten von Schüler*innen systematisch gefördert, ihre Mehrsprachigkeit wertgeschätzt und als Ressource für das Lernen nutzbar gemacht werden.
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Abstract
Linguistic diversity is a reality in most schools in Germany – it needs to be taken into account if teaching and learning are to be successful. This paper explains why language skills are important for academic success, illustrates differences between everyday and academic language, and highlights the potential of (migration-related) multilingualism for learning processes. It introduces teaching strategies that integrate subject and language learning in order to systematically promote students’ academic language development, acknowledge their multilingual skills and use them as resource for learning.
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Schlüsselwörter
Mehrsprachigkeit - Bildungssprache - Scaffolding - sprach(en)sensibler Fachunterricht - sprachliche DiversitätKeywords
Multilingualism - academic language - scaffolding - linguistically responsive teaching - linguistic diversityDieser Beitrag dient dazu die Bedeutung sprachlicher Fähigkeiten für schulischen Erfolg zu verdeutlichen, für das Potenzial von (migrationsbedingter) Mehrsprachigkeit zu sensibilisieren und Möglichkeiten einer sprach(en)sensiblen Unterrichtsgestaltung vorzustellen.
Sprachliche Diversität und Bildungserfolg
Weltweit werden über 7000 Sprachen gesprochen – ein Großteil der Weltbevölkerung ist mehrsprachig [1]. Auch in Deutschland nutzen viele Menschen (neben dem Deutschen) andere Sprachen. Zu den am häufigsten gesprochenen Herkunftssprachen gehören Türkisch, Russisch, Arabisch, Polnisch und Englisch [2]. Vor allem in Großstädten wachsen immer mehr Kinder und Jugendliche lebensweltlich mehrsprachig auf; in ihrem persönlichen Alltag spielen (mindestens) 2 Sprachen eine Rolle.
Auch die Spracherfahrungen monolingual deutschsprachiger Kinder sind keineswegs einheitlich, sondern unterscheiden sich z. B. aufgrund unterschiedlicher Sprachpraxen in der Familie. Außerdem lernen fast alle Schüler*innen in der Schule mindestens 1 Fremdsprache. Sprachliche Vielfalt ist also der Normalfall in unserer Gesellschaft und damit auch eine Grundvoraussetzung für (schulische) Bildungsprozesse.
Welche Rolle mehrsprachiges Aufwachsen und familiale Sprachpraxen für den schulischen Erfolg von Schüler*innen spielen, bedarf weiterer Klärung: In Large-Scale-Untersuchungen wie PISA, TIMSS und IGLU wird das überwiegende Sprechen einer anderen Sprache als Deutsch in der Familie immer wieder als ein Risikofaktor für den schulischen Kompetenzerwerb von Schüler*innen identifiziert [3] [4]. Ob ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Sprechen anderer Sprachen und Bildungserfolg besteht, kann auf Basis dieser Studien allerdings nicht beantwortet werden [5].
Untersuchungen, die die sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden genauer betrachten, zeigen, dass Lernende mit hohen Kompetenzen in der Familiensprache auch in weiteren Sprachen hohe Leistungen erzielen [6] [7]. Ein häufiger Gebrauch der Familiensprache steht einer guten Beherrschung des Deutschen nicht notwendigerweise im Weg [8].
Es ist weitgehend unstrittig, dass den sprachlichen Fähigkeiten von Schüler*innen in der Instruktionssprache Deutsch eine Schlüsselfunktion für den Kompetenzerwerb in unterschiedlichen Fächern zukommt [9]. Insbesondere bildungssprachliche Fähigkeiten gelten als bedeutsam für Bildungserfolg [5].
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Bildungssprache und Alltagssprache
Der Begriff „Bildungssprache“ wurde im Kontext des Modellprogramms FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) – analog zum englischen Begriff „academic language“ – vorgeschlagen, um die sprachlichen Fähigkeiten zu beschreiben, die für schulischen Erfolg erforderlich sind [10].
Bildungssprache ist ein formelles sprachliches Register, das nicht nur im schulischen Kontext vorkommt. Verwendet wird sie beispielsweise auch in anspruchsvollen Schriften (Zeitungsartikel, Fachliteratur, akademische Publikationen usw.) oder öffentlichen Verlautbarungen wie Pressemitteilungen, Erklärungen und Stellungnahmen [11]. Bildungssprache hat die Funktion, komplexe Inhalte in Situationen mit geringer sozialer und situativer Einbettung zu vermitteln [11].
Charakteristisch für Bildungssprache ist, dass sie sich an den Regeln der Schriftsprache orientiert, auch wenn sie – in Vorträgen oder bei Präsentationen – mündlich verwendet wird [10]. In der alltäglichen, informellen Kommunikation können sich Sprecher*innen auf einen gemeinsamen Kontext beziehen, Mimik und Gestik verwenden und z. B. durch Zeigen auf Objekte verweisen. Bildungssprache ist dagegen nicht situationsgebunden, weshalb Sachverhalte präzise ausgedrückt und Zusammenhänge explizit benannt werden müssen ([Tab. 1]).
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Alltagssprache |
Bildungssprache |
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Das … nein, das geht nicht … es bewegt sich nicht… versuch das … ja, es geht … ein bisschen … das geht nicht… geht nicht, es ist kein Metall … die hier sind die besten … gehen richtig schnell. |
Ein Magnet […] ist in der Lage, ein Stück Stahl oder Eisen anzuheben oder anzuziehen, weil sein Magnetfeld in den Magneten fließt und ihn temporär in einen Magneten verwandelt. Magnetische Anziehung findet nur zwischen eisenhaltigen Materialien statt. |
(drei 10-jährige Schüler*innen beim Experimentieren) |
(aus einem Kinderlexikon) |
Bildungssprache unterscheidet sich von Alltagssprache auf verschiedenen Ebenen [13]: Zu den Besonderheiten auf Wort- und Bedeutungsebene zählt die Verwendung von
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differenzierenden und abstrahierenden Ausdrücken („nach oben transportieren“ statt „raufbringen“),
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Nominalisierungen („erzeugen“ → „die Erzeugung“),
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Komposita („Höhen-schichten-karte“),
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Präfixverben („ver-stehen“, „ent-fallen“),
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Funktionsverbgefügen („zur Explosion bringen“),
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unpersönlichen Ausdrücken und Passivkonstruktionen.
Merkmale auf der Ebene des Satzbaus umfassen u. a.
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komplexe Satzgefüge (z. B. Relativsätze, Konditionalsätze, verschachtelte Nebensätze, erweiterter Infinitiv) und
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Kohäsionsmarkierungen (z. B. Verweiswörter, Konnektoren und Adverbien).
Kennzeichnend für Bildungssprache auf diskursiver Ebene sind
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monologische Formen (in Vorträgen, Referaten und Aufsätzen werden Informationen präsentiert, ohne direkt mit anderen zu kommunizieren),
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fachgruppenspezifische Textsorten (z. B. Versuchsprotokolle, Bildbeschreibungen, Erörterungen) und
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stilistische Konventionen (z. B. logische Gliederung, Sachlichkeit, Textlänge).
Alltags- und Bildungssprache lassen sich nicht vollständig voneinander abgrenzen, sondern befinden sich an unterschiedlichen Enden eines Kontinuums (engl. „mode continuum“): Während sich das Gespräch der Schüler*innen beim Experimentieren ( [Tab.1]) am alltagssprachlichen Ende verorten lässt, ist der Lexikoneintrag (eher) am bildungssprachlichen Ende des Kontinuums einzuordnen [12]. Der Sprachgebrauch bei der Präsentation einer Gruppenarbeit oder einer schriftlichen Beschreibung des Experiments wäre dazwischen anzusiedeln.
Sowohl Alltags- als auch Bildungssprache haben ihren Platz in der Schule und sind dort – je nach Situation – auch funktional: In Unterrichtsphasen, in denen es um das Erarbeiten und Verstehen neuer fachlicher Inhalte geht (z. B. beim Experimentieren oder in Gruppenarbeitsphasen), ist ein alltagssprachlicher Austausch erwartbar und zielführend. Die Verwendung bildungssprachlicher Formulierungen wird dann relevant, wenn Inhalte verschriftlicht oder mündlich präsentiert werden müssen. Außerdem wird Bildungssprache in Aufgabenstellungen, Lehrbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien verwendet – Schüler*innen müssen Bildungssprache also auch beherrschen (lernen), um Arbeitsaufträge erfassen und Informationen in Texten verstehen zu können [10].
Für alle Kinder und Jugendlichen, in deren familiärem Umfeld wenig literale Sprachpraxen vorkommen, die auf die bildungssprachlichen Anforderungen der Schule vorbereiten, ist Bildungssprache eine Art Fremdsprache. Sie zu vermitteln ist Aufgabe der Schule.
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Durchgängige Sprach(en)bildung
Um der Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken, die Kindern und Jugendlichen aufgrund mangelnder bildungssprachlicher Fähigkeiten erfahren, ist es notwendig, Unterricht systematisch an ihren Bedürfnissen auszurichten und sprachliche Bildung durchgängig zu praktizieren. „Durchgängig“ bedeutet zum einen, dass sprachliche Bildung in allen Fächern stattfindet, nicht nur im Deutschunterricht. Zum anderen beinhaltet es, dass die Familiensprachen der Lernenden als Ressource anerkannt werden und einen selbstverständlichen Platz im Unterricht erhalten [10].
Auf bildungspolitischer Ebene wurde eine Basis für die Umsetzung durchgängiger Sprachbildung geschaffen: Die Entwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen als „gemeinsame Aufgabe aller Fächer“ und die Verknüpfung von fachlichem und sprachlichen Lernen im Fachunterricht werden mittlerweile von der Kultusministerkonferenz (KMK) empfohlen und in den Rahmen- und Bildungsplänen einiger Bundesländer (MV, Hamburg, Bremen, NRW) explizit hervorgehoben. Auch die Nutzung der mehrsprachiger Kompetenzen von Schüler*innen im Unterricht wird von der KMK ausdrücklich angeraten [14].
Es gibt zahlreiche methodisch-didaktische Konzepte, um die sprachliche Heterogenität der Schülerschaft im Unterricht zu berücksichtigen. Hierzu zählen beispielsweise Scaffolding, ein Konzept, das den gezielten Auf- und Ausbau bildungssprachlicher Kompetenzen (im Deutschen) im Fachunterricht unterstützt, sowie die Einbindung von Mehrsprachigkeit in den Unterricht.
Gezielte Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen im Fachunterricht mit Scaffolding
Scaffolding (deutsch: Baugerüst) bezeichnet die systematische Unterstützung von Lernenden auf dem Weg zu einem Wissens- oder Fähigkeitsniveau, das leicht über ihrem aktuellen Entwicklungsstand liegt [15]. Wie ein Gerüst, das als vorübergehende Hilfskonstruktion den Bau von Häusern, Brücken etc. ermöglicht und nach Abschluss der Konstruktion wieder entfernt wird, soll Scaffolding Lernende dazu befähigen, Probleme eigenständig zu lösen [12].
Im Rahmen eines sprach(en)sensiblen Fachunterrichts bedeutet Scaffolding die schrittweise Hinführung von der Alltags- zur Bildungssprache durch die Verknüpfung von sprachlichem und fachlichem Lernen. Dabei werden den Schüler*innen temporär sprachliche Hilfen zur Verfügung gestellt, die sie beim Übergang von alltagssprachlich, mündlich geprägten Sprachstrukturen hin zur eigenständigen Verwendung bildungssprachlich, schriftsprachlich geprägten Strukturen (und Textformen) unterstützen sollen.
Es werden 2 Formen von Scaffolding unterschieden, das Makroscaffolding und das Mikroscaffolding [12].
Makroscaffolding
Unter Makroscaffolding versteht man die Vorbereitung und Planung eines sprach(en)sensiblen Unterrichts. Es erfolgt in diesen Schritten [15] [16]:
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Bedarfsanalyse:
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Zunächst ermittelt die Lehrkraft, welche sprachlichen Anforderungen das Thema einer geplanten Unterrichtsstunde (oder -einheit) beinhaltet. Dafür klärt sie, welche sprachlichen Strukturen auf Wort-, Satz- und Textebene die Schüler*innen (rezeptiv und produktiv) bewältigen müssen, damit sie erfolgreich mitarbeiten und lernen können: Welche Aktivitäten (z. B. Experimentieren, Vortragen, Lesen eines Fachtextes) sind geplant? Welche Sprachhandlungen (z. B. beschreiben, begründen) sind damit verbunden? Welche grammatischen Strukturen und welches Vokabular werden dafür benötigt?
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Lernstandsanalyse:
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Anschließend vergleicht die Lehrkraft die identifizierten Bedarfe mit den sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden: Welche der sprachlichen Anforderungen beherrschen die Schüler*innen schon? Wo benötigen sie noch Unterstützung?
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Unterrichtsplanung:
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Bedarfs- und Lernstandsanalyse bilden die Grundlage für die Planung des Unterrichts, bei der fachliche und sprachliche Lernaspekte miteinander verschränkt werden. Dazu werden Lernaktivitäten entlang des „mode continuum“ so angeordnet, dass die Lernenden sukzessive einen Registerwechsel (von der Alltags- zur Bildungssprache) vollziehen ([Abb. 1]).
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Zur Planung zählt auch, dass die Lehrkraft festlegt, in welcher Phase den Schüler*innen welche sprachlichen Mittel in Form von Scaffolds zur Verfügung gestellt werden müssen (z. B. Wortkarten, Satzanfänge, Plakate, Beschriftungen), damit sie die sprachlichen Anforderungen, welche die jeweilige Situation an sie stellt, bewältigen können.
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Mikroscaffolding
Mikroscaffolding findet während des Unterrichtsgesprächs statt. Dabei unterstützt die Lehrkraft gezielt den Auf- und Ausbau bildungssprachlicher Kompetenzen, indem sie
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die Kommunikation verlangsamt (mehr Zeit geben),
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Unterschiede zwischen Alltags- und Bildungssprache explizit thematisiert („Sprechen über das Sprechen“),
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fachliche Formulierungen und Fachvokabular durch Umformulierungen breitstellt,
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zu längeren und/oder fachlichen Äußerungen ermutigt und
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Schüleräußerungen in einen größeren kontextuellen Zusammenhang einbettet [15] [16].
Von einer verstärkten Sprachaufmerksamkeit des Unterrichts profitieren alle Schüler*innen: Egal ob sie lebensweltlich ein- oder mehrsprachig aufwachsen und ob sie über weniger oder besser entwickelte Sprachfähigkeiten im Deutschen verfügen [20].
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Mehrsprachigkeit im Unterricht
Die Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen im Fachunterricht wird inzwischen von den meisten Fachlehrkräften als sinnvoll und wichtig erachtet. Zudem ist in vielen Bundesländern herkunftssprachlicher Unterricht verbreitet. Dies bietet mehrsprachigen Schüler*innen die Möglichkeit, ihre familiensprachlichen Fähigkeiten in einem eigenständigen Fach auszubauen. Gegenüber der Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit im Fachunterricht bestehen jedoch häufig noch immer Vorbehalte, die oft auf monolinguale Grundhaltungen zurückzuführen sind.
Mehrsprachige Schüler*innen dürften nicht selten die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Familiensprachen in der Schule keinen Platz haben, sondern ins Private gehören und als Grund für defizitäre Deutschkenntnisse gesehen werden. Mehrsprachigkeit in der Schule Raum zu geben, bedeutet auch, die Sprachen der Lernenden – und damit einen Teil ihrer Identität – wertzuschätzen. Die Thematisierung von Mehrsprachigkeit im Unterricht ist für Lernende in der Regel eine neue, ungewohnte Erfahrung – und kann deshalb (zunächst) auch auf Unbehagen oder Widerstand stoßen.
Wertschätzung und Sichtbarmachung von Mehrsprachigkeit


Um Mehrsprachigkeit als Lernvoraussetzung berücksichtigen zu können, ist es nötig zunächst mehr über die mehrsprachigen Ressourcen, die die Lernenden in die Schule mitbringen, zu erfahren und sie sichtbar zu machen. Eine vergleichsweise einfache und bewährte Methode hierfür, die in der Grundschule und in der Sekundarstufe eingesetzt werden kann, ist die Erstellung sogenannter „Sprachenportraits“ [17]. Die Schüler*innen erhalten ein Blatt, auf dem die Silhouette eines Menschen abgebildet ist und werden gebeten, alle Sprachen (oder auch Dialekte), die für sie eine Bedeutung haben, in den Körper einzuzeichnen ([Abb. 2]) Keine Rolle spielt dabei, ob oder wie gut die jeweilige Sprache beherrscht wird. Es ist hilfreich, wenn die Lernenden ihre Zeichnungen in einem kurzen Text erläutern oder mündlich vorstellen. Die Erklärungen können ein Ausgangspunkt für weiterführende Gespräche über Spracherfahrungen, familiale Sprachpraxen und Sprache im Allgemeinen sein (nähere Informationen zu dieser Methode finden Sie hier: https://www.begabungslotse.de/mehrsprachigkeit-im-fachunterricht/methode-sprachenportrait).
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Nutzung von Mehrsprachigkeit in Partner- und Gruppenarbeitsphasen
Aus der Forschung ist bekannt, dass mehrsprachige Schüler*innen in Gruppen- und Partnerarbeitsphasen ihre Familiensprachen verwenden, auch wenn es offiziell nicht erwünscht oder verboten ist: Beim Problemlösen, beim Aushandeln und beim Aufbau von Wissen nutzen sie – rezeptiv und produktiv – alle ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen [18]. Dies geschieht zumeist unaufgefordert, unbemerkt und in aller Regel nicht systematisch.
Eine in der Praxis bewährte Möglichkeit, das Potenzial, das in der Mehrsprachigkeit liegt, systematisch zu nutzen, ist es, den Schüler*innen in Gruppen- oder Partnerarbeitsphasen, die Wahl der Arbeitssprache freizustellen [11]. Dafür finden sich die Schüler*innen für die Arbeitsphase in gleichsprachigen Tandems oder Gruppen zusammen. Sie wissen, dass sie für die Erarbeitungsphase auf ihr gesamtes sprachliches Repertoire zurückgreifen dürfen und können selbstständig entscheiden, welche Sprache(n) sie zur inhaltlichen Erarbeitung nutzen.
(Bildungs-) Sprachliche Korrektheit spielt in Phasen der Erarbeitung neuer Ideen und Informationen keine Rolle, da die inhaltliche Erschließung auch im Deutschen über die Alltagssprache erfolgt. Insbesondere bei mehrsprachigen Lernenden, die in Deutschland aufgewachsen sind, ist erwartbar, dass sie ihre Sprachen in mehrsprachigen Unterrichtsphasen mischen. Dies ist kein Ausdruck eines Defizits, sondern funktional. Studien zeigen, dass selbst wenn Schüler*innen ausschließlich über rezeptive Fähigkeiten in der Familiensprache verfügen, ihnen die Nutzung des gesamten sprachlichen Repertoires in Partner- und Gruppenarbeitsphasen dabei helfen kann, Aufgaben zu lösen und neue Inhalte oder Texte zu verstehen [13].
Im Anschluss an mehrsprachige Arbeitsphasen erfolgt in der Regel eine Präsentation der Gruppenarbeitsergebnisse oder die Zusammenführung der Ergebnisse in deutscher Sprache. Um die Schüler*innen dann bei der Bewältigung der (bildungs-)sprachlichen Anforderungen im Deutschen zu unterstützen, kann die Lehrkraft sprachliche Scaffolds zur Verfügung stellen.
Die Befürchtung von Lehrkräften, dass die Schüler*innen ihre Familiensprachen ausschließlich für private Gespräche oder zum Lästern nutzen würden, hat sich als unbegründet erwiesen. Zwar kommt dies – wie auch bei Deutsch sprechenden Schüler*innen – vor, überwiegend nutzen sie ihre Familiensprachen aber unterrichtsbezogen, um einander zu unterstützen, sich neue Inhalte zu erschließen und Aufgaben zu bewältigen [19].
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Anregung zur Nutzung mehrsprachiger Ressourcen
Ein dritter Schritt ist die explizite Anregung zur Nutzung mehrsprachiger Ressourcen. Schüler*innen können beispielsweise dazu ermuntert werden, bei der Recherche und der Erschließung von neuen Inhalten auch auf nicht deutschsprachige Lernmaterialien und digitale Medien, Wörterbücher usw. zurückzugreifen. Dies kann insbesondere für Lernende hilfreich sein, die über schriftsprachliche Kenntnisse in ihren Familiensprachen verfügen.
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In einer zunehmend globalisierten Welt ist Mehrsprachigkeit für Kinder und Jugendliche eine Lebensrealität und damit eine Grundvoraussetzung für die Gestaltung erfolgreicher Lernprozesse – auch im Fachunterricht.
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Das in diesem Beitrag vorgestellte Konzept der Durchgängigen Sprach(en)bildung erkennt die individuelle Mehrsprachigkeit von Lernenden als Ressource an und fördert systematisch die Entwicklung ihrer (bildungs-)sprachlichen Kompetenzen (im Deutschen), indem fachliches und sprachliches Lernen miteinander verknüpft werden.
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Beides ist nicht nur im Hinblick auf den schulischen Erfolg junger Menschen wichtig, sondern ermächtigt sie zur aktiven gesellschaftlichen Partizipation und kann damit zur Kohärenz unserer zunehmend polarisierten Gesellschaft beitragen.
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Danksagung
Wir danken für die finanzielle Unterstützung durch den Open-Access-Publikationsfonds der Universität Hamburg.
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Autorinnen/Autoren
Hanne Brandt


Dr. phil.; 2003–2010 Lehramtsstudium mit den Unterrichtsfächern Englisch und Deutsch an der Universität Hamburg. 2010–2022 Wiss. Mitarbeiterin in Forschungsprojekten im Bereich der Sprachbildung und Mehrsprachigkeit an der Universität Hamburg und der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 2021 Postdoc im DFG Projekt „Physikunterricht im Kontext sprachlicher Diversität“ (PhyDiv) an der Universität Hamburg.
Jule Böhmer


Dr. phil.; 2001–2007 Lehramtsstudium mit den Unterrichtsfächern Russisch und Geographie an der Universität Hamburg. 2008–2012 Wiss. Mitarbeiterin in Forschungsprojekten im Bereich der Sprachbildung an der Universität Hamburg. Seit 2012 im Hamburger Schuldienst und in der Lehrerbildung an der Universität Hamburg und am Landesinstitut für Lehrerbildung (LI) tätig. Seit 2021 Postdoc im DFG Projekt „Physikunterricht im Kontext sprachlicher Diversität“ (PhyDiv) an der Universität Hamburg.
Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
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- 2 Statistisches Bundesamt. Pressemitteilung Nr. N008 vom 20. Februar 2024. Stand: 26.02.2024 https://tinyurl.com/destatis2024
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- 5 Gogolin I. Stichwort: Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten im Bildungskontext. Z Erziehungswiss 2014; 17: 407-431
- 6 Usanova I, Schnoor B. Exploring multiliteracies in multilingual students: Profiles of multilingual writing skills. Bilingual Res J 2021; 44: 56-73
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- 9 Kempert S, Edele A, Rauch DP. et al. Die Rolle der Sprache für zuwanderungsbezogene Ungleichheiten im Bildungserfolg. Diehl C. Ethnische Ungleichheiten im Bildungsverlauf. Wiesbaden: Springer; 2016: 157-241
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- 11 Brandt H, Gogolin I. Sprachförderlicher Fachunterricht. Erfahrungen und Beispiele. Bd. 8. FörMig Material. Münster, New York: Waxmann; 2016
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- 13 Gogolin I, Duarte J. Bildungssprache. In: Kilian J. Handbuch Sprache in der Bildung. Bd. 21. Handbücher Sprachwissen. Berlin, Boston: Walter de Gruyter; 2016: 478-499
- 14 Kultusministerkonferenz. Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Stand: 02.03.2024 https://tinyurl.com/kmk2013
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- 16 Quehl T, Trapp U. Sprachbildung im Sachunterricht der Grundschule. Mit dem Scaffolding-Konzept unterwegs zur Bildungssprache. Bd. 4. FörMig Material. Münster: Waxmann; 2013
- 17 Gogolin I. Die Karriere einer Kontur – Sprachenportraits. Dirim I. Impulse für die Migrationsgesellschaft. Bildung, Politik und Religion. Bd. 12. Bildung in Umbruchsgesellschaften. Münster, New York, NY: Waxmann; 2015: 294-304
- 18 Bührig K, Duarte J. Zur Rolle lebensweltlicher Mehrsprachigkeit für das Lernen im Fachunterricht – ein Beispiel aus einer Videostudie der Sekundarstufe II. Gruppendynamik und Organisationsberatung 2013; 44: 245-275
- 19 Duarte J. Translanguaging in mainstream education. A sociocultural approach. Int J Bilingual Education Bilingualism 2016; 3: 150-164
- 20 Meyer M, Prediger S, César M. et al. Making use of multiple (non-shared) first languages: state of and need for research and development in the European language context. Barwell R. Mathematics education and language diversity. The 21st ICMI Study. Heidelberg: Springer; 2016: 47-66
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Article published online:
09 August 2024
© 2024. This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).
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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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